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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

seit langem erstrebte strafrechtliche Zwischenstufe überhaupt geschaffen werden soll,
wenn sich nicht überaus bedenkliche Folgerungen aus den: im Vorentwurf
niedergelegten Standpunkt ergäben, bedenklich deshalb, weil sie die Rechtssicherheit
gefährden. Der Vorentwurf bestimmt, daß bei Verminderung der freien Willens¬
bestimmung "hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch"
Anwendung finden, die Strafe also milder ausfalle. Nun kann allerdings kein
Zweifel darüber sein, daß für einen Teil der Menschen, die zu der in Aussicht
genommenen Zwischenstufe gehören, eine mildere Strafe am Platze ist. Das
Bedenkliche liegt darin, daß die Bestimmung über die mildere Bestrafung ohne
Einschränkung ausgesprochen ist. Dieses Fehlen eines einschränkenden Zusatzes
würde sich höchstwahrscheinlich als verhängnisvoll erweisen. Eine kurze Schilderung
der Elemente, auf welche der Begriff der "verminderten freien Willensbestimmung"
Anwendung finden würde, soll weiter unten gegeben werden. Nur das sei schon
vorausgenommen, daß sich darunter eine Reihe gefährlicher Verbrecher findet,
für welche die gesetzlich verbürgte Aussicht auf mildere Strafe manchmal geradezu
eine Ermutigung zur Begehung von Straftaten bilden würde. Zwar bestimmt
Z 63, 1 und 2: "Wird jemand auf Grund des Z 63, Abs. 2 zu einer milderen
Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit er¬
fordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzu¬
ordnen. -- Im Falle des Z 63, Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter
Freiheitsstrafe." Ich glaube aber, daß auch die Aussicht auf die Unterbringung
in einer "Heil- und Pflegeanstalt" auf die gefährlichen Verbrecher nicht genügend
hemmend wirkt, wenn die vorher zu verbüßende eigentliche Strafe unter allen
Umständen zu milde sein muß. Anderseits muß ich aber zugeben, daß die
Bearbeiter des Vorentwurfs bei dem Standpunkt, von dem sie ausgingen, eine
andere Bestimmung als die von ihnen getroffene gar nicht bringen konnten.
Sie gingen eben davon aus, daß die "freie Willensbestimmung" unerläßliche
Voraussetzung sür die Strafbarkeit sei. Daraus folgt logisch, daß auch die
Strafe unter allen Umständen vermindert sein muß, wenn die freie Willens¬
bestimmung vermindert ist.

Wir haben also auf der einen Seite die Tatsache, daß aus den Erfahrungen
der praktischen Rechtspflege die Aufstellung einer strafrechtlichen Zwischenstufe
gefordert wird, auf der anderen die bedenklichen Folgerungen, die sich daraus
ergeben müssen, daß die Bearbeiter des Vorentwurfs die "freie Willensbestimmung"
zur Grundlage der Strafbarkeit machten, daß sie sodann, um dem Verlangen
nach der Zwischenstufe nachzukommen, entgegen der Logik eine "Verminderung"
dieser freien Willensbestimmung annahmen und hieraus die mildere Bestrafung
ohne Einschränkung ableiteten.

In den Kritiken zum Vorentwurf wurde vielfach gerühmt, daß er sich nicht
einseitig auf den Boden einer Schule gestellt, sondern eine glückliche Vereinigung
mehrerer Richtungen erstrebt habe. Dieses Lob mag im großen und ganzen
begründet sein. Bei dem uns beschäftigenden Problem aber erscheint mir das


Die geistig Minderwertigen

seit langem erstrebte strafrechtliche Zwischenstufe überhaupt geschaffen werden soll,
wenn sich nicht überaus bedenkliche Folgerungen aus den: im Vorentwurf
niedergelegten Standpunkt ergäben, bedenklich deshalb, weil sie die Rechtssicherheit
gefährden. Der Vorentwurf bestimmt, daß bei Verminderung der freien Willens¬
bestimmung „hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch"
Anwendung finden, die Strafe also milder ausfalle. Nun kann allerdings kein
Zweifel darüber sein, daß für einen Teil der Menschen, die zu der in Aussicht
genommenen Zwischenstufe gehören, eine mildere Strafe am Platze ist. Das
Bedenkliche liegt darin, daß die Bestimmung über die mildere Bestrafung ohne
Einschränkung ausgesprochen ist. Dieses Fehlen eines einschränkenden Zusatzes
würde sich höchstwahrscheinlich als verhängnisvoll erweisen. Eine kurze Schilderung
der Elemente, auf welche der Begriff der „verminderten freien Willensbestimmung"
Anwendung finden würde, soll weiter unten gegeben werden. Nur das sei schon
vorausgenommen, daß sich darunter eine Reihe gefährlicher Verbrecher findet,
für welche die gesetzlich verbürgte Aussicht auf mildere Strafe manchmal geradezu
eine Ermutigung zur Begehung von Straftaten bilden würde. Zwar bestimmt
Z 63, 1 und 2: „Wird jemand auf Grund des Z 63, Abs. 2 zu einer milderen
Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit er¬
fordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzu¬
ordnen. — Im Falle des Z 63, Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter
Freiheitsstrafe." Ich glaube aber, daß auch die Aussicht auf die Unterbringung
in einer „Heil- und Pflegeanstalt" auf die gefährlichen Verbrecher nicht genügend
hemmend wirkt, wenn die vorher zu verbüßende eigentliche Strafe unter allen
Umständen zu milde sein muß. Anderseits muß ich aber zugeben, daß die
Bearbeiter des Vorentwurfs bei dem Standpunkt, von dem sie ausgingen, eine
andere Bestimmung als die von ihnen getroffene gar nicht bringen konnten.
Sie gingen eben davon aus, daß die „freie Willensbestimmung" unerläßliche
Voraussetzung sür die Strafbarkeit sei. Daraus folgt logisch, daß auch die
Strafe unter allen Umständen vermindert sein muß, wenn die freie Willens¬
bestimmung vermindert ist.

Wir haben also auf der einen Seite die Tatsache, daß aus den Erfahrungen
der praktischen Rechtspflege die Aufstellung einer strafrechtlichen Zwischenstufe
gefordert wird, auf der anderen die bedenklichen Folgerungen, die sich daraus
ergeben müssen, daß die Bearbeiter des Vorentwurfs die „freie Willensbestimmung"
zur Grundlage der Strafbarkeit machten, daß sie sodann, um dem Verlangen
nach der Zwischenstufe nachzukommen, entgegen der Logik eine „Verminderung"
dieser freien Willensbestimmung annahmen und hieraus die mildere Bestrafung
ohne Einschränkung ableiteten.

In den Kritiken zum Vorentwurf wurde vielfach gerühmt, daß er sich nicht
einseitig auf den Boden einer Schule gestellt, sondern eine glückliche Vereinigung
mehrerer Richtungen erstrebt habe. Dieses Lob mag im großen und ganzen
begründet sein. Bei dem uns beschäftigenden Problem aber erscheint mir das


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[0026] Die geistig Minderwertigen seit langem erstrebte strafrechtliche Zwischenstufe überhaupt geschaffen werden soll, wenn sich nicht überaus bedenkliche Folgerungen aus den: im Vorentwurf niedergelegten Standpunkt ergäben, bedenklich deshalb, weil sie die Rechtssicherheit gefährden. Der Vorentwurf bestimmt, daß bei Verminderung der freien Willens¬ bestimmung „hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch" Anwendung finden, die Strafe also milder ausfalle. Nun kann allerdings kein Zweifel darüber sein, daß für einen Teil der Menschen, die zu der in Aussicht genommenen Zwischenstufe gehören, eine mildere Strafe am Platze ist. Das Bedenkliche liegt darin, daß die Bestimmung über die mildere Bestrafung ohne Einschränkung ausgesprochen ist. Dieses Fehlen eines einschränkenden Zusatzes würde sich höchstwahrscheinlich als verhängnisvoll erweisen. Eine kurze Schilderung der Elemente, auf welche der Begriff der „verminderten freien Willensbestimmung" Anwendung finden würde, soll weiter unten gegeben werden. Nur das sei schon vorausgenommen, daß sich darunter eine Reihe gefährlicher Verbrecher findet, für welche die gesetzlich verbürgte Aussicht auf mildere Strafe manchmal geradezu eine Ermutigung zur Begehung von Straftaten bilden würde. Zwar bestimmt Z 63, 1 und 2: „Wird jemand auf Grund des Z 63, Abs. 2 zu einer milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit er¬ fordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzu¬ ordnen. — Im Falle des Z 63, Abs. 2 erfolgt die Verwahrung nach verbüßter Freiheitsstrafe." Ich glaube aber, daß auch die Aussicht auf die Unterbringung in einer „Heil- und Pflegeanstalt" auf die gefährlichen Verbrecher nicht genügend hemmend wirkt, wenn die vorher zu verbüßende eigentliche Strafe unter allen Umständen zu milde sein muß. Anderseits muß ich aber zugeben, daß die Bearbeiter des Vorentwurfs bei dem Standpunkt, von dem sie ausgingen, eine andere Bestimmung als die von ihnen getroffene gar nicht bringen konnten. Sie gingen eben davon aus, daß die „freie Willensbestimmung" unerläßliche Voraussetzung sür die Strafbarkeit sei. Daraus folgt logisch, daß auch die Strafe unter allen Umständen vermindert sein muß, wenn die freie Willens¬ bestimmung vermindert ist. Wir haben also auf der einen Seite die Tatsache, daß aus den Erfahrungen der praktischen Rechtspflege die Aufstellung einer strafrechtlichen Zwischenstufe gefordert wird, auf der anderen die bedenklichen Folgerungen, die sich daraus ergeben müssen, daß die Bearbeiter des Vorentwurfs die „freie Willensbestimmung" zur Grundlage der Strafbarkeit machten, daß sie sodann, um dem Verlangen nach der Zwischenstufe nachzukommen, entgegen der Logik eine „Verminderung" dieser freien Willensbestimmung annahmen und hieraus die mildere Bestrafung ohne Einschränkung ableiteten. In den Kritiken zum Vorentwurf wurde vielfach gerühmt, daß er sich nicht einseitig auf den Boden einer Schule gestellt, sondern eine glückliche Vereinigung mehrerer Richtungen erstrebt habe. Dieses Lob mag im großen und ganzen begründet sein. Bei dem uns beschäftigenden Problem aber erscheint mir das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/26>, abgerufen am 29.06.2024.