Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung Freilich, es ließe sich das alles als bloße Abschweifung in diesem Schaffen Wahn ist nur eins: das nicht verlassen können, Und in der "Frau mit dem Dolch" heißt es gar von einer noch gegen Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung Freilich, es ließe sich das alles als bloße Abschweifung in diesem Schaffen Wahn ist nur eins: das nicht verlassen können, Und in der „Frau mit dem Dolch" heißt es gar von einer noch gegen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319783"/> <fw type="header" place="top"> Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung</fw><lb/> <p xml:id="ID_725"> Freilich, es ließe sich das alles als bloße Abschweifung in diesem Schaffen<lb/> hinstellen, und die individualistischen Dichtungen — Novellen, Gegenwartsdramen,<lb/> Märchenspiele —, die den Kern des Schnitzlerschen Schaffens bilden, stehen so<lb/> stark unter dem Einfluß jenes Impressionismus, daß der Dichter dennoch auch<lb/> in diesen Zusammenhang gehört. Die Unsicherheit des Ichs, das zwischen Spiel<lb/> und Ernst, Wirklichkeit und Traum nicht unterscheiden kann, gibt die leitende<lb/> Idee des tiefsinnigen Lustspiels „Paracelsus"; Heißhunger nach Glück, quälender<lb/> gemacht durch das folternde Bewußtsein der Willensschwäche, führt im „Schleier<lb/> der Beatrice" zu einem Ausspruch, der auch in „Gestern" Platz hätte:</p><lb/> <quote> Wahn ist nur eins: das nicht verlassen können,<lb/> Was uns nichts ist, ob Freund, ob Frau, ob Heimat —<lb/> Und eins ist Wahrheit: Glück woher es kommt!</quote><lb/> <p xml:id="ID_726"> Und in der „Frau mit dem Dolch" heißt es gar von einer noch gegen<lb/> den Ehebruch Kämpfenden, die visionsartig ein Gleichnis ihres Zustandes ge¬<lb/> träumt hat: es drücke sich „in ihren Zügen allmählich die Überzeugung aus,<lb/> daß ein Schicksal über ihr ist, dem sie nicht entrinnen kann". Aber das sind<lb/> doch sozusagen nur vorübergehende Betäubungen, und nie erliegt Schnitzler völlig<lb/> den: gefährlichen Gift. Pauline wird durch kein Schicksal willenlos in den Ehe¬<lb/> bruch getrieben, sondern begeht ihn mit einiger Gemütsruhe, weil sie der geringe<lb/> menschliche Anteil ihres Gatten an ihrem Wesen unbefriedigt läßt; und Filippo,<lb/> dem Lebensdurstigen im „Schleier der Beatrice", der früh und friedlos endet,<lb/> stehen zwei gleichgerichtete Männer eines Gegenwartsdramas gegenüber, die<lb/> nach jenem Grundsatz gelebt und dennoch das Glück nicht errungen haben.<lb/> Das Stück heißt sehr bezeichnenderweise „Der einsame Weg", enthält vieles<lb/> von der Stimmungskunst und einiges von der Mystik der Hofmannsthalschen<lb/> Art und enthält doch diesen Ausspruch des einen der einsam gewordenen Lebens¬<lb/> künstler zum anderen: „Lieben heißt für jemand anders auf der Welt sein.<lb/> Ich sage nicht, daß es ein wünschenswerter Zustand sei, aber jedenfalls denke<lb/> ich, wir waren beide sehr fern davon. . . Glauben Sie, daß wir von einem<lb/> Menschen — Mann oder Weib — irgend etwas zurückfordern dürften, das<lb/> wir ihn: geschenkt hatten? Ich meine keine Perlenschnur und keine Rente und<lb/> keine wohlfeile Weisheit, sondern ein Stück von unserem eigenen Wesen."<lb/> Hierin liegt, was Schnitzler bei aller Zugehörigkeit zur Stimmungsdichtung doch<lb/> über diese hinausträgt. Wer Liebe als ein Für andere-da-sein zu erklären vermag,<lb/> bleibt den anderen, bleibt der Menschheit verbunden und verschwärmt sich nicht<lb/> ins Verschwimmende; wer diese Erklärung gibt, kennt Aufgaben und Lebens¬<lb/> inhalt und gewinnt an ihnen das Gefühl der Persönlichkeit, des umgrenzten<lb/> Ichs; und wer aus solchem Gefühl heraus dichtet, schenkt in jedem Werke ein<lb/> Stück seines warmen eigenen Wesens her — und nicht bloß kalte „Perlen¬<lb/> schnüre", zu denen sich schließlich doch die schillernden Kunstgebilde Hofmanns¬<lb/> thalschen Gepräges manch einmal aufreihen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0182]
Neuwiener Schicksals- und Stimmungsdichtung
Freilich, es ließe sich das alles als bloße Abschweifung in diesem Schaffen
hinstellen, und die individualistischen Dichtungen — Novellen, Gegenwartsdramen,
Märchenspiele —, die den Kern des Schnitzlerschen Schaffens bilden, stehen so
stark unter dem Einfluß jenes Impressionismus, daß der Dichter dennoch auch
in diesen Zusammenhang gehört. Die Unsicherheit des Ichs, das zwischen Spiel
und Ernst, Wirklichkeit und Traum nicht unterscheiden kann, gibt die leitende
Idee des tiefsinnigen Lustspiels „Paracelsus"; Heißhunger nach Glück, quälender
gemacht durch das folternde Bewußtsein der Willensschwäche, führt im „Schleier
der Beatrice" zu einem Ausspruch, der auch in „Gestern" Platz hätte:
Wahn ist nur eins: das nicht verlassen können,
Was uns nichts ist, ob Freund, ob Frau, ob Heimat —
Und eins ist Wahrheit: Glück woher es kommt!
Und in der „Frau mit dem Dolch" heißt es gar von einer noch gegen
den Ehebruch Kämpfenden, die visionsartig ein Gleichnis ihres Zustandes ge¬
träumt hat: es drücke sich „in ihren Zügen allmählich die Überzeugung aus,
daß ein Schicksal über ihr ist, dem sie nicht entrinnen kann". Aber das sind
doch sozusagen nur vorübergehende Betäubungen, und nie erliegt Schnitzler völlig
den: gefährlichen Gift. Pauline wird durch kein Schicksal willenlos in den Ehe¬
bruch getrieben, sondern begeht ihn mit einiger Gemütsruhe, weil sie der geringe
menschliche Anteil ihres Gatten an ihrem Wesen unbefriedigt läßt; und Filippo,
dem Lebensdurstigen im „Schleier der Beatrice", der früh und friedlos endet,
stehen zwei gleichgerichtete Männer eines Gegenwartsdramas gegenüber, die
nach jenem Grundsatz gelebt und dennoch das Glück nicht errungen haben.
Das Stück heißt sehr bezeichnenderweise „Der einsame Weg", enthält vieles
von der Stimmungskunst und einiges von der Mystik der Hofmannsthalschen
Art und enthält doch diesen Ausspruch des einen der einsam gewordenen Lebens¬
künstler zum anderen: „Lieben heißt für jemand anders auf der Welt sein.
Ich sage nicht, daß es ein wünschenswerter Zustand sei, aber jedenfalls denke
ich, wir waren beide sehr fern davon. . . Glauben Sie, daß wir von einem
Menschen — Mann oder Weib — irgend etwas zurückfordern dürften, das
wir ihn: geschenkt hatten? Ich meine keine Perlenschnur und keine Rente und
keine wohlfeile Weisheit, sondern ein Stück von unserem eigenen Wesen."
Hierin liegt, was Schnitzler bei aller Zugehörigkeit zur Stimmungsdichtung doch
über diese hinausträgt. Wer Liebe als ein Für andere-da-sein zu erklären vermag,
bleibt den anderen, bleibt der Menschheit verbunden und verschwärmt sich nicht
ins Verschwimmende; wer diese Erklärung gibt, kennt Aufgaben und Lebens¬
inhalt und gewinnt an ihnen das Gefühl der Persönlichkeit, des umgrenzten
Ichs; und wer aus solchem Gefühl heraus dichtet, schenkt in jedem Werke ein
Stück seines warmen eigenen Wesens her — und nicht bloß kalte „Perlen¬
schnüre", zu denen sich schließlich doch die schillernden Kunstgebilde Hofmanns¬
thalschen Gepräges manch einmal aufreihen.
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