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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Line Erinnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung

Großmacht Frankreich im Frieden ein mittelafrikanisches Gebiet von der Größe
der Republik erhalten können, zu leugnen wagen, daß sich Möglichkeiten einer
Besitzveränderung auch im Belgisch-Kongo erdenken lassen, durch die die terri¬
toriale Verbindung zwischen dem deutschen Osten und Westen Afrikas könnte
hergestellt werden? Die Kongoakte bietet für solche Veränderungen ebensowenig
unübersteigbare Hindernisse wie die ebenso internationale Algecirasakte. Auf
Angola aber haben wir seit reichlich einem Dutzend Jahre die erste Hypothek.
Auch da sind Liquidationen möglich, die Deutsch-Südwest eng an unseren
mittelafrikanischen Besitz fügen und so die Konsolidierung unseres afrika¬
nischen Kolonialreiches vollenden können. Es ist noch nicht Kiderlen-
Wächter, der uns die koloniale Einheit beschert hat, aber er will uns
zu dem beträchtlichen Landgewinn der Kongoentschädigung auch die Entwicklung
zu einem einheitlichen Kolonialreich bieten. Er hat damit in unsere auswärtige
Politik neben dem Trachten nach einem bloßen realen Vorteil auch die Be¬
geisterung durch eine Idee wieder eingeführt. Gerade die nationalistische Presse
operiert so gern mit dem Bismarckschen Wort von der Bedeutung der Im¬
ponderabilien. Die Weckung des deutschen Idealismus ist ein solches Imponderabile.

Jedoch, der Verlust der wirtschaftlichen Kraftbetätigung in dem an Boden¬
schätzen so reichen Marokko wäre ein schwerer Schlag für unsere industrielle
Entwicklung! Aber das zähe Feilschen um Sicherungen gegen einen solchen
Verlust ist doch zunächst ein Grund zur Hoffnung, daß die wirtschaftlichen
Interessen in Marokko nicht leichtfertig geopfert werden. Zur Klage über
mangelnde Fürsorge sür unsere Industrie kann ernstlich erst Anlaß fein, wenn
der Vertragsabschluß unsere Hoffnungen nach dieser Richtung hin nicht gerecht¬
fertigt hat.

Im übrigen hat das deutsche Volk zu Klagen allzeit Anlaß genommen.
Heute heißt es, ein Bismarck würde so nicht gehandelt haben wie Kiderlen-
Wächter. Mit Verlaub: als Bismarck noch im Amte war, ist ihm das Lob
gerade von den nationalen leider nicht so vorbehaltlos gespendet worden, wie
heute behauptet wird. 1864 nicht, als ihm Wrangel vorwarf, mit der Feder
verdorben zu haben, was das Schwert errungen habe (übrigens eine alte
Phrase, die schon 1814 und 1815 abstrapaziert wurde). 1866 nicht, als König
Wilhelm und seine Generale dem Ministerpräsidenten zu einem Nervenchok ver-
halfen, weil sie nur mit höchstem Widerstreben auf den Einzug in Wien ver¬
zichteten. 1867 nicht, als der Nationalverein wegen der Nachgiebigkeit in der
Luxemburger Frage grollte. 1871 nicht, als Kaiser Wilhelm seinem Reichs¬
kanzler nach der Proklamation in Versailles die Hand verweigerte. Zur selben
Zeit, als die nationalliberale Mehrheit des Reichstages Bismarcks Nachgiebigkeit
gegen die bayrischen Reservatforderungen nicht begriff. Im gleichen Jahr, nach
dem Frankfurter Frieden, als die Militärs den Verzicht Bismarcks auf Belfort
nicht billigten. 1875 nicht, als Moltke nur widerstrebend von dem Gedanken
eines Präventivkrieges abließ. 1884 nicht, als die Kolonialfreunde dem Kanzler


Line Erinnerung, eine Mahnung und eine Hoffnung

Großmacht Frankreich im Frieden ein mittelafrikanisches Gebiet von der Größe
der Republik erhalten können, zu leugnen wagen, daß sich Möglichkeiten einer
Besitzveränderung auch im Belgisch-Kongo erdenken lassen, durch die die terri¬
toriale Verbindung zwischen dem deutschen Osten und Westen Afrikas könnte
hergestellt werden? Die Kongoakte bietet für solche Veränderungen ebensowenig
unübersteigbare Hindernisse wie die ebenso internationale Algecirasakte. Auf
Angola aber haben wir seit reichlich einem Dutzend Jahre die erste Hypothek.
Auch da sind Liquidationen möglich, die Deutsch-Südwest eng an unseren
mittelafrikanischen Besitz fügen und so die Konsolidierung unseres afrika¬
nischen Kolonialreiches vollenden können. Es ist noch nicht Kiderlen-
Wächter, der uns die koloniale Einheit beschert hat, aber er will uns
zu dem beträchtlichen Landgewinn der Kongoentschädigung auch die Entwicklung
zu einem einheitlichen Kolonialreich bieten. Er hat damit in unsere auswärtige
Politik neben dem Trachten nach einem bloßen realen Vorteil auch die Be¬
geisterung durch eine Idee wieder eingeführt. Gerade die nationalistische Presse
operiert so gern mit dem Bismarckschen Wort von der Bedeutung der Im¬
ponderabilien. Die Weckung des deutschen Idealismus ist ein solches Imponderabile.

Jedoch, der Verlust der wirtschaftlichen Kraftbetätigung in dem an Boden¬
schätzen so reichen Marokko wäre ein schwerer Schlag für unsere industrielle
Entwicklung! Aber das zähe Feilschen um Sicherungen gegen einen solchen
Verlust ist doch zunächst ein Grund zur Hoffnung, daß die wirtschaftlichen
Interessen in Marokko nicht leichtfertig geopfert werden. Zur Klage über
mangelnde Fürsorge sür unsere Industrie kann ernstlich erst Anlaß fein, wenn
der Vertragsabschluß unsere Hoffnungen nach dieser Richtung hin nicht gerecht¬
fertigt hat.

Im übrigen hat das deutsche Volk zu Klagen allzeit Anlaß genommen.
Heute heißt es, ein Bismarck würde so nicht gehandelt haben wie Kiderlen-
Wächter. Mit Verlaub: als Bismarck noch im Amte war, ist ihm das Lob
gerade von den nationalen leider nicht so vorbehaltlos gespendet worden, wie
heute behauptet wird. 1864 nicht, als ihm Wrangel vorwarf, mit der Feder
verdorben zu haben, was das Schwert errungen habe (übrigens eine alte
Phrase, die schon 1814 und 1815 abstrapaziert wurde). 1866 nicht, als König
Wilhelm und seine Generale dem Ministerpräsidenten zu einem Nervenchok ver-
halfen, weil sie nur mit höchstem Widerstreben auf den Einzug in Wien ver¬
zichteten. 1867 nicht, als der Nationalverein wegen der Nachgiebigkeit in der
Luxemburger Frage grollte. 1871 nicht, als Kaiser Wilhelm seinem Reichs¬
kanzler nach der Proklamation in Versailles die Hand verweigerte. Zur selben
Zeit, als die nationalliberale Mehrheit des Reichstages Bismarcks Nachgiebigkeit
gegen die bayrischen Reservatforderungen nicht begriff. Im gleichen Jahr, nach
dem Frankfurter Frieden, als die Militärs den Verzicht Bismarcks auf Belfort
nicht billigten. 1875 nicht, als Moltke nur widerstrebend von dem Gedanken
eines Präventivkrieges abließ. 1884 nicht, als die Kolonialfreunde dem Kanzler


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/171>, abgerufen am 03.07.2024.