Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

el" schlagender Beweis für die seinerzeit vom
Abgeordneten Engen Richter aufgestellte Be¬
hauptung, daß jede Einschränkung des Iden¬
titätsnachweises eine bermehrte Getreideausfuhr
zur Folge haben müsse. Indes die Nachgiebig¬
keit der Regierung gegenüber agrarischen
Wünschen sollte noch weitere Blüten treiben.
Das Zolltarifgesetz bon 25. Dezember 1902
gestattete von 1906 ub auf Einfuhrscheine nicht
nur Getreide der nämlichen Art, sondern
überhaupt Getreide wiedereinzuführen und
außerdem die Scheine bei der Einfuhr von
Kaffee und Petroleum zur Verrechnung zu
bringen.

Diese Erlaubnis im Verein mit der Er¬
höhung der Getreidezölle ließ den Getreide¬
export ins ungemessene wachsen. Wenn dies
auch zwar 1906 noch nicht sofort geschah --
man mußte sich erst an die neue Maßnahme
gewöhnen -- so zeigte sich doch, daß in der
Zeit von 190" bis 1910 der Roggen¬
export von 260177 t auf 826046 t
stieg. Die Einfuhrscheine also reizten den
Export ganz gewaltig und tun es auch heute
noch. Erreicht ist also das, was der Herr
Reichskanzler in seiner dem Reichstag 1910
unterbreiteten Denkschrift, betr. den Umfang
und die Wirkung der Ausfertigung von Ein¬
fuhrscheinen für ausgeführtes Getreide, ge¬
sagt hat, daß "je weniger die Verwendbarkeit
der Einfuhrscheiue beschränkt Ist, um so mehr
die Ausfuhr erleichtert wird, zumal wenn
wie seit dem 1. März 1906 infolge einer
Erhöhung der Zölle der in Betracht
kommenden Waren auch die Einfuhrscheine
in? Werte steigen." Die Einfuhrscheine sind
somit bares Geld geworden und werden
mit geringer Bnnkierprovision gehandelt.

Die Wirkung dieses Systems ist schon
oft beleuchtet worden. Gutes deutsches Brod¬
getreide wird im Auslande billiger gekauft
als im Jnlnnde, Roggen deutscher Pro¬
venienz, nach den: sich alle Hände strecken,
dient geschrotet russischen Schweinen zum
Futter. Auch die Preise für sonstiges Getreide,
vor allem Weizen, sind in Deutschland bedeutend
höher als an vielen Auslnndsplätzen. Sieben
den Einfuhrscheinen sorgen dann noch billige
Exporttarife dafür, daß das Ausland auf
Deutschlands Kosten mit Getreide versorgt
wird, während vom Auslande gegen gutes


[Spaltenumbruch]

Geld oft minderwertiges Getreide in das
heimische Zollgebiet eingeführt werden muß.
Wird aber auch dieses noch möglich sein,
wenn Kriegszeiten eintreten, oder wird dann
das Ausland sich Deutschlands Abhängigkeit
im Bezug von Brodgetreide zunutze machen?
Wenn nach jüngsten Feststellungen der Ber¬
liner Handelskammer inländischer Weizen
pro Tonne am 1. September 1910 199 Mark
kostete, am gleichen Tage 1911 dagegen auf
207 Mark gestiegen ist, während Roggen in der
genannten Zeit von 149,S Mark auf 180,SMark
in die Höhe getrieben ist, so kann man sehen, daß
die Klagen über eine Brotteuerung berechtigt
sind. Hier muß der Staat einen Wandel
schaffen und sich zu einer Aufhebung der
villigen Exporttarife und zu einer Ein¬
schränkung des Gctreideexports durch Wieder¬
einführung des Identitätsnachweises ent¬
schließen. Unmöglich darf die Regierung
fernerhin ihre Hand dazu bieten, den breiten
Volksschichten das wichtigste Nahrungsmittel
zu verteuern, damit jedem einzelnen größere
Ausgaben zu verursachen und so weit¬
gehende Erbitterung zu wecken. Wohin soll
es denn führen, wenn von Jahr zu Jahr der
Lebensunterhalt verteuert wird, wenn immer
wieder Lohnerhöhungen gefordert werden,
die Handel und Industrie nur mit An¬
strengung erfüllen können, wenn sie in der
Wettbewerbsmöglichkeit nicht völlig beschränkt
werden wollen? Soll der Kreislauf der Ver¬
teuerung der Lebenshaltung, der höheren
Forderungen und der höheren Steuern sich
jedes Jahr wiederholen? Darum fort mit
einer Wirtschaftspolitik, die dem das Brod¬
getreide unumgänglich gebrauchenden Inlande
den Vorrat zugunsten des Auslandes auf
Kosten der Bürger verringert! Die Ein¬
schränkung des Getreideexports durch Wieder¬
einführung des Identitätsnachweises wird
sicherlich das Brot verbilligen und damit ein
gutes Stück zur Bekämpfung der jetzigen
Teuerung beitragen!

Aber der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, auch andere Waren, vor allem Fleisch,
gehören zu seiner täglichen Nahrung. Auch
dieses Nahrungsmittel ist von Jahr zu Jahr
m Preise gestiegen und beinahe zu einem
Genußmittel geworden. Mögen bei der un¬
eugbar bestehenden Fleischtcuerung auch einige

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

el» schlagender Beweis für die seinerzeit vom
Abgeordneten Engen Richter aufgestellte Be¬
hauptung, daß jede Einschränkung des Iden¬
titätsnachweises eine bermehrte Getreideausfuhr
zur Folge haben müsse. Indes die Nachgiebig¬
keit der Regierung gegenüber agrarischen
Wünschen sollte noch weitere Blüten treiben.
Das Zolltarifgesetz bon 25. Dezember 1902
gestattete von 1906 ub auf Einfuhrscheine nicht
nur Getreide der nämlichen Art, sondern
überhaupt Getreide wiedereinzuführen und
außerdem die Scheine bei der Einfuhr von
Kaffee und Petroleum zur Verrechnung zu
bringen.

Diese Erlaubnis im Verein mit der Er¬
höhung der Getreidezölle ließ den Getreide¬
export ins ungemessene wachsen. Wenn dies
auch zwar 1906 noch nicht sofort geschah —
man mußte sich erst an die neue Maßnahme
gewöhnen — so zeigte sich doch, daß in der
Zeit von 190» bis 1910 der Roggen¬
export von 260177 t auf 826046 t
stieg. Die Einfuhrscheine also reizten den
Export ganz gewaltig und tun es auch heute
noch. Erreicht ist also das, was der Herr
Reichskanzler in seiner dem Reichstag 1910
unterbreiteten Denkschrift, betr. den Umfang
und die Wirkung der Ausfertigung von Ein¬
fuhrscheinen für ausgeführtes Getreide, ge¬
sagt hat, daß „je weniger die Verwendbarkeit
der Einfuhrscheiue beschränkt Ist, um so mehr
die Ausfuhr erleichtert wird, zumal wenn
wie seit dem 1. März 1906 infolge einer
Erhöhung der Zölle der in Betracht
kommenden Waren auch die Einfuhrscheine
in? Werte steigen." Die Einfuhrscheine sind
somit bares Geld geworden und werden
mit geringer Bnnkierprovision gehandelt.

Die Wirkung dieses Systems ist schon
oft beleuchtet worden. Gutes deutsches Brod¬
getreide wird im Auslande billiger gekauft
als im Jnlnnde, Roggen deutscher Pro¬
venienz, nach den: sich alle Hände strecken,
dient geschrotet russischen Schweinen zum
Futter. Auch die Preise für sonstiges Getreide,
vor allem Weizen, sind in Deutschland bedeutend
höher als an vielen Auslnndsplätzen. Sieben
den Einfuhrscheinen sorgen dann noch billige
Exporttarife dafür, daß das Ausland auf
Deutschlands Kosten mit Getreide versorgt
wird, während vom Auslande gegen gutes


[Spaltenumbruch]

Geld oft minderwertiges Getreide in das
heimische Zollgebiet eingeführt werden muß.
Wird aber auch dieses noch möglich sein,
wenn Kriegszeiten eintreten, oder wird dann
das Ausland sich Deutschlands Abhängigkeit
im Bezug von Brodgetreide zunutze machen?
Wenn nach jüngsten Feststellungen der Ber¬
liner Handelskammer inländischer Weizen
pro Tonne am 1. September 1910 199 Mark
kostete, am gleichen Tage 1911 dagegen auf
207 Mark gestiegen ist, während Roggen in der
genannten Zeit von 149,S Mark auf 180,SMark
in die Höhe getrieben ist, so kann man sehen, daß
die Klagen über eine Brotteuerung berechtigt
sind. Hier muß der Staat einen Wandel
schaffen und sich zu einer Aufhebung der
villigen Exporttarife und zu einer Ein¬
schränkung des Gctreideexports durch Wieder¬
einführung des Identitätsnachweises ent¬
schließen. Unmöglich darf die Regierung
fernerhin ihre Hand dazu bieten, den breiten
Volksschichten das wichtigste Nahrungsmittel
zu verteuern, damit jedem einzelnen größere
Ausgaben zu verursachen und so weit¬
gehende Erbitterung zu wecken. Wohin soll
es denn führen, wenn von Jahr zu Jahr der
Lebensunterhalt verteuert wird, wenn immer
wieder Lohnerhöhungen gefordert werden,
die Handel und Industrie nur mit An¬
strengung erfüllen können, wenn sie in der
Wettbewerbsmöglichkeit nicht völlig beschränkt
werden wollen? Soll der Kreislauf der Ver¬
teuerung der Lebenshaltung, der höheren
Forderungen und der höheren Steuern sich
jedes Jahr wiederholen? Darum fort mit
einer Wirtschaftspolitik, die dem das Brod¬
getreide unumgänglich gebrauchenden Inlande
den Vorrat zugunsten des Auslandes auf
Kosten der Bürger verringert! Die Ein¬
schränkung des Getreideexports durch Wieder¬
einführung des Identitätsnachweises wird
sicherlich das Brot verbilligen und damit ein
gutes Stück zur Bekämpfung der jetzigen
Teuerung beitragen!

Aber der Mensch lebt nicht vom Brot
allein, auch andere Waren, vor allem Fleisch,
gehören zu seiner täglichen Nahrung. Auch
dieses Nahrungsmittel ist von Jahr zu Jahr
m Preise gestiegen und beinahe zu einem
Genußmittel geworden. Mögen bei der un¬
eugbar bestehenden Fleischtcuerung auch einige

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0151" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319752"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_631" prev="#ID_630"> el» schlagender Beweis für die seinerzeit vom<lb/>
Abgeordneten Engen Richter aufgestellte Be¬<lb/>
hauptung, daß jede Einschränkung des Iden¬<lb/>
titätsnachweises eine bermehrte Getreideausfuhr<lb/>
zur Folge haben müsse. Indes die Nachgiebig¬<lb/>
keit der Regierung gegenüber agrarischen<lb/>
Wünschen sollte noch weitere Blüten treiben.<lb/>
Das Zolltarifgesetz bon 25. Dezember 1902<lb/>
gestattete von 1906 ub auf Einfuhrscheine nicht<lb/>
nur Getreide der nämlichen Art, sondern<lb/>
überhaupt Getreide wiedereinzuführen und<lb/>
außerdem die Scheine bei der Einfuhr von<lb/>
Kaffee und Petroleum zur Verrechnung zu<lb/>
bringen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_632"> Diese Erlaubnis im Verein mit der Er¬<lb/>
höhung der Getreidezölle ließ den Getreide¬<lb/>
export ins ungemessene wachsen. Wenn dies<lb/>
auch zwar 1906 noch nicht sofort geschah &#x2014;<lb/>
man mußte sich erst an die neue Maßnahme<lb/>
gewöhnen &#x2014; so zeigte sich doch, daß in der<lb/>
Zeit von 190» bis 1910 der Roggen¬<lb/>
export von 260177 t auf 826046 t<lb/>
stieg. Die Einfuhrscheine also reizten den<lb/>
Export ganz gewaltig und tun es auch heute<lb/>
noch. Erreicht ist also das, was der Herr<lb/>
Reichskanzler in seiner dem Reichstag 1910<lb/>
unterbreiteten Denkschrift, betr. den Umfang<lb/>
und die Wirkung der Ausfertigung von Ein¬<lb/>
fuhrscheinen für ausgeführtes Getreide, ge¬<lb/>
sagt hat, daß &#x201E;je weniger die Verwendbarkeit<lb/>
der Einfuhrscheiue beschränkt Ist, um so mehr<lb/>
die Ausfuhr erleichtert wird, zumal wenn<lb/>
wie seit dem 1. März 1906 infolge einer<lb/>
Erhöhung der Zölle der in Betracht<lb/>
kommenden Waren auch die Einfuhrscheine<lb/>
in? Werte steigen." Die Einfuhrscheine sind<lb/>
somit bares Geld geworden und werden<lb/>
mit geringer Bnnkierprovision gehandelt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_633" next="#ID_634"> Die Wirkung dieses Systems ist schon<lb/>
oft beleuchtet worden. Gutes deutsches Brod¬<lb/>
getreide wird im Auslande billiger gekauft<lb/>
als im Jnlnnde, Roggen deutscher Pro¬<lb/>
venienz, nach den: sich alle Hände strecken,<lb/>
dient geschrotet russischen Schweinen zum<lb/>
Futter. Auch die Preise für sonstiges Getreide,<lb/>
vor allem Weizen, sind in Deutschland bedeutend<lb/>
höher als an vielen Auslnndsplätzen. Sieben<lb/>
den Einfuhrscheinen sorgen dann noch billige<lb/>
Exporttarife dafür, daß das Ausland auf<lb/>
Deutschlands Kosten mit Getreide versorgt<lb/>
wird, während vom Auslande gegen gutes</p><lb/>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_634" prev="#ID_633"> Geld oft minderwertiges Getreide in das<lb/>
heimische Zollgebiet eingeführt werden muß.<lb/>
Wird aber auch dieses noch möglich sein,<lb/>
wenn Kriegszeiten eintreten, oder wird dann<lb/>
das Ausland sich Deutschlands Abhängigkeit<lb/>
im Bezug von Brodgetreide zunutze machen?<lb/>
Wenn nach jüngsten Feststellungen der Ber¬<lb/>
liner Handelskammer inländischer Weizen<lb/>
pro Tonne am 1. September 1910 199 Mark<lb/>
kostete, am gleichen Tage 1911 dagegen auf<lb/>
207 Mark gestiegen ist, während Roggen in der<lb/>
genannten Zeit von 149,S Mark auf 180,SMark<lb/>
in die Höhe getrieben ist, so kann man sehen, daß<lb/>
die Klagen über eine Brotteuerung berechtigt<lb/>
sind. Hier muß der Staat einen Wandel<lb/>
schaffen und sich zu einer Aufhebung der<lb/>
villigen Exporttarife und  zu  einer Ein¬<lb/>
schränkung des Gctreideexports durch Wieder¬<lb/>
einführung  des Identitätsnachweises ent¬<lb/>
schließen.  Unmöglich darf die Regierung<lb/>
fernerhin ihre Hand dazu bieten, den breiten<lb/>
Volksschichten das wichtigste Nahrungsmittel<lb/>
zu verteuern, damit jedem einzelnen größere<lb/>
Ausgaben zu verursachen  und  so weit¬<lb/>
gehende Erbitterung zu wecken. Wohin soll<lb/>
es denn führen, wenn von Jahr zu Jahr der<lb/>
Lebensunterhalt verteuert wird, wenn immer<lb/>
wieder Lohnerhöhungen  gefordert werden,<lb/>
die Handel und Industrie nur mit An¬<lb/>
strengung erfüllen können, wenn sie in der<lb/>
Wettbewerbsmöglichkeit nicht völlig beschränkt<lb/>
werden wollen? Soll der Kreislauf der Ver¬<lb/>
teuerung der Lebenshaltung, der höheren<lb/>
Forderungen und der höheren Steuern sich<lb/>
jedes Jahr wiederholen?  Darum fort mit<lb/>
einer Wirtschaftspolitik, die dem das Brod¬<lb/>
getreide unumgänglich gebrauchenden Inlande<lb/>
den Vorrat zugunsten des Auslandes auf<lb/>
Kosten der Bürger verringert! Die Ein¬<lb/>
schränkung des Getreideexports durch Wieder¬<lb/>
einführung des Identitätsnachweises wird<lb/>
sicherlich das Brot verbilligen und damit ein<lb/>
gutes Stück zur Bekämpfung der jetzigen<lb/>
Teuerung beitragen!</p>
            <p xml:id="ID_635" next="#ID_636"> Aber der Mensch lebt nicht vom Brot<lb/>
allein, auch andere Waren, vor allem Fleisch,<lb/>
gehören zu seiner täglichen Nahrung. Auch<lb/>
dieses Nahrungsmittel ist von Jahr zu Jahr<lb/>
m Preise gestiegen und beinahe zu einem<lb/>
Genußmittel geworden. Mögen bei der un¬<lb/>
eugbar bestehenden Fleischtcuerung auch einige</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0151] Maßgebliches und Unmaßgebliches el» schlagender Beweis für die seinerzeit vom Abgeordneten Engen Richter aufgestellte Be¬ hauptung, daß jede Einschränkung des Iden¬ titätsnachweises eine bermehrte Getreideausfuhr zur Folge haben müsse. Indes die Nachgiebig¬ keit der Regierung gegenüber agrarischen Wünschen sollte noch weitere Blüten treiben. Das Zolltarifgesetz bon 25. Dezember 1902 gestattete von 1906 ub auf Einfuhrscheine nicht nur Getreide der nämlichen Art, sondern überhaupt Getreide wiedereinzuführen und außerdem die Scheine bei der Einfuhr von Kaffee und Petroleum zur Verrechnung zu bringen. Diese Erlaubnis im Verein mit der Er¬ höhung der Getreidezölle ließ den Getreide¬ export ins ungemessene wachsen. Wenn dies auch zwar 1906 noch nicht sofort geschah — man mußte sich erst an die neue Maßnahme gewöhnen — so zeigte sich doch, daß in der Zeit von 190» bis 1910 der Roggen¬ export von 260177 t auf 826046 t stieg. Die Einfuhrscheine also reizten den Export ganz gewaltig und tun es auch heute noch. Erreicht ist also das, was der Herr Reichskanzler in seiner dem Reichstag 1910 unterbreiteten Denkschrift, betr. den Umfang und die Wirkung der Ausfertigung von Ein¬ fuhrscheinen für ausgeführtes Getreide, ge¬ sagt hat, daß „je weniger die Verwendbarkeit der Einfuhrscheiue beschränkt Ist, um so mehr die Ausfuhr erleichtert wird, zumal wenn wie seit dem 1. März 1906 infolge einer Erhöhung der Zölle der in Betracht kommenden Waren auch die Einfuhrscheine in? Werte steigen." Die Einfuhrscheine sind somit bares Geld geworden und werden mit geringer Bnnkierprovision gehandelt. Die Wirkung dieses Systems ist schon oft beleuchtet worden. Gutes deutsches Brod¬ getreide wird im Auslande billiger gekauft als im Jnlnnde, Roggen deutscher Pro¬ venienz, nach den: sich alle Hände strecken, dient geschrotet russischen Schweinen zum Futter. Auch die Preise für sonstiges Getreide, vor allem Weizen, sind in Deutschland bedeutend höher als an vielen Auslnndsplätzen. Sieben den Einfuhrscheinen sorgen dann noch billige Exporttarife dafür, daß das Ausland auf Deutschlands Kosten mit Getreide versorgt wird, während vom Auslande gegen gutes Geld oft minderwertiges Getreide in das heimische Zollgebiet eingeführt werden muß. Wird aber auch dieses noch möglich sein, wenn Kriegszeiten eintreten, oder wird dann das Ausland sich Deutschlands Abhängigkeit im Bezug von Brodgetreide zunutze machen? Wenn nach jüngsten Feststellungen der Ber¬ liner Handelskammer inländischer Weizen pro Tonne am 1. September 1910 199 Mark kostete, am gleichen Tage 1911 dagegen auf 207 Mark gestiegen ist, während Roggen in der genannten Zeit von 149,S Mark auf 180,SMark in die Höhe getrieben ist, so kann man sehen, daß die Klagen über eine Brotteuerung berechtigt sind. Hier muß der Staat einen Wandel schaffen und sich zu einer Aufhebung der villigen Exporttarife und zu einer Ein¬ schränkung des Gctreideexports durch Wieder¬ einführung des Identitätsnachweises ent¬ schließen. Unmöglich darf die Regierung fernerhin ihre Hand dazu bieten, den breiten Volksschichten das wichtigste Nahrungsmittel zu verteuern, damit jedem einzelnen größere Ausgaben zu verursachen und so weit¬ gehende Erbitterung zu wecken. Wohin soll es denn führen, wenn von Jahr zu Jahr der Lebensunterhalt verteuert wird, wenn immer wieder Lohnerhöhungen gefordert werden, die Handel und Industrie nur mit An¬ strengung erfüllen können, wenn sie in der Wettbewerbsmöglichkeit nicht völlig beschränkt werden wollen? Soll der Kreislauf der Ver¬ teuerung der Lebenshaltung, der höheren Forderungen und der höheren Steuern sich jedes Jahr wiederholen? Darum fort mit einer Wirtschaftspolitik, die dem das Brod¬ getreide unumgänglich gebrauchenden Inlande den Vorrat zugunsten des Auslandes auf Kosten der Bürger verringert! Die Ein¬ schränkung des Getreideexports durch Wieder¬ einführung des Identitätsnachweises wird sicherlich das Brot verbilligen und damit ein gutes Stück zur Bekämpfung der jetzigen Teuerung beitragen! Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, auch andere Waren, vor allem Fleisch, gehören zu seiner täglichen Nahrung. Auch dieses Nahrungsmittel ist von Jahr zu Jahr m Preise gestiegen und beinahe zu einem Genußmittel geworden. Mögen bei der un¬ eugbar bestehenden Fleischtcuerung auch einige

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/151
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/151>, abgerufen am 23.07.2024.