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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichssxiegel

der Türkei stellen, um ihre großen wirtschaftlichen Interessen wirksam schützen
zu können. Der Vorschlag klingt namentlich in: Hinblick auf die durch keinerlei
Leistungen begründeten chauvinistischen Ausschreitungen der Italiener gegen
Österreich ganz einleuchtend, aber er stützt sich doch nur auf eine oberflächliche
Betrachtung der Geschehnisse. Die Geschichte des Dreibunds führt zu anderen
Ergebnissen. So paradox das folgende auf den ersten Blick klingen mag, soll
es ausgesprochen werden: Italiens Festsetzung in Tripolis liegt im Interesse
der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts, wie es die Hauptaufgabe des
Dreibundes ist, und die Art des Vorgehens selbst kann für das türkische
Reich die heilsamsten Wirkungen haben, Wirkungen, die durchaus in der
Richtung auch des deutschen Interesses liegen.

Der Dreibund ist, solange er besteht, ein politisches Faktum, mit dem bis
auf weiteres gerechnet werden muß, sowohl von feiten Deutschlands wie von seiten
der anderen Italien befreundeten Mächte Frankreich und England. Italien seiner¬
seits wird aber den Dreibund um so mehr und um so länger schätzen, je
mehr er befähigt ist Italiens Tripolispolitik zu stützen, nachdem diese selbst,
wenn auch gegen den Willen der Dreibundmächte, ein neues kalt acLompIi
geschaffen hat. Deutschland und Österreich-Ungarn werden ihre weitere Haltung
gegen Italien auch der Pforte gegenüber verantworten können, da sie jeden
Versuch Italiens, in Albanien einzudringen, energisch abgewehrt und die Kriegs¬
gelüste der kleinen Balkanstaaten kräftig niedergehalten haben. Die Türkei
verliert zwar mit Tripolis ein Gebiet, aber doch nur ein solches, das sie kaum
noch besessen hat. Dagegen bekommt sie finanzielle und moralische Hilfsmittel
frei, die sie nun unter dem Schutz der beiden Reiche zur inneren Erstarkung
und zum Kampf gegen seinen gefährlichsten Gegner, gegen England, ver¬
wenden kann. Freilich ist hierbei eine Voraussetzung, die weiter oben erwähnt
wurde: Vorhandensein genügender moralischer und staatbildender Kräfte im Islam.

Die Bezeichnung Englands als Feind aller der Mächte, die mit
Deutschland gleichartige Interessen verbinden, ist so häufig angewandt worden,
daß sie schon mehr als Schlagwort anmutet und demgemäß für viele an Beweiskraft
verloren hat. Dennoch sind wir von neuem berechtigt, Englands Diplomaten
als Friedensstörer, wie überhaupt als diejenigen zu bezeichnen, die während
der letzten Monate am meisten dahin gewirkt haben, Unruhe zu stiften. Es wird
einmal von der Geschichte einwandfrei festgestellt werden, daß seit dem Bagdad¬
bahn-Abkommen vom 21. März d. Is. von britischer Seite kein Mittel un¬
versucht geblieben ist, die Aufmerksamkeit und die Kräfte Deutschlands von der
asiatischen Türkei abzulenken und es in allerhand Abenteuer zu verwickeln.
Solange das deutsch-russische Abkommen über Persien nicht veröffentlicht
war, setzte man seine Hoffnung auf Se. Petersburg. Als diese Versuche
mißglückter, wurde in Paris gewirkt. Dort war es leichter, weil die Fran¬
zosen sich ohnehin schon für ein schärferes Vorgehen in Marokko vorbereitet
hatten. Jetzt aber trieb England zur Eile, besonders unter Hinweis auf die schlechte
finanzielle Lage des deutschen Reichs, die nach außen hin durch die ungewohnt


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der Türkei stellen, um ihre großen wirtschaftlichen Interessen wirksam schützen
zu können. Der Vorschlag klingt namentlich in: Hinblick auf die durch keinerlei
Leistungen begründeten chauvinistischen Ausschreitungen der Italiener gegen
Österreich ganz einleuchtend, aber er stützt sich doch nur auf eine oberflächliche
Betrachtung der Geschehnisse. Die Geschichte des Dreibunds führt zu anderen
Ergebnissen. So paradox das folgende auf den ersten Blick klingen mag, soll
es ausgesprochen werden: Italiens Festsetzung in Tripolis liegt im Interesse
der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts, wie es die Hauptaufgabe des
Dreibundes ist, und die Art des Vorgehens selbst kann für das türkische
Reich die heilsamsten Wirkungen haben, Wirkungen, die durchaus in der
Richtung auch des deutschen Interesses liegen.

Der Dreibund ist, solange er besteht, ein politisches Faktum, mit dem bis
auf weiteres gerechnet werden muß, sowohl von feiten Deutschlands wie von seiten
der anderen Italien befreundeten Mächte Frankreich und England. Italien seiner¬
seits wird aber den Dreibund um so mehr und um so länger schätzen, je
mehr er befähigt ist Italiens Tripolispolitik zu stützen, nachdem diese selbst,
wenn auch gegen den Willen der Dreibundmächte, ein neues kalt acLompIi
geschaffen hat. Deutschland und Österreich-Ungarn werden ihre weitere Haltung
gegen Italien auch der Pforte gegenüber verantworten können, da sie jeden
Versuch Italiens, in Albanien einzudringen, energisch abgewehrt und die Kriegs¬
gelüste der kleinen Balkanstaaten kräftig niedergehalten haben. Die Türkei
verliert zwar mit Tripolis ein Gebiet, aber doch nur ein solches, das sie kaum
noch besessen hat. Dagegen bekommt sie finanzielle und moralische Hilfsmittel
frei, die sie nun unter dem Schutz der beiden Reiche zur inneren Erstarkung
und zum Kampf gegen seinen gefährlichsten Gegner, gegen England, ver¬
wenden kann. Freilich ist hierbei eine Voraussetzung, die weiter oben erwähnt
wurde: Vorhandensein genügender moralischer und staatbildender Kräfte im Islam.

Die Bezeichnung Englands als Feind aller der Mächte, die mit
Deutschland gleichartige Interessen verbinden, ist so häufig angewandt worden,
daß sie schon mehr als Schlagwort anmutet und demgemäß für viele an Beweiskraft
verloren hat. Dennoch sind wir von neuem berechtigt, Englands Diplomaten
als Friedensstörer, wie überhaupt als diejenigen zu bezeichnen, die während
der letzten Monate am meisten dahin gewirkt haben, Unruhe zu stiften. Es wird
einmal von der Geschichte einwandfrei festgestellt werden, daß seit dem Bagdad¬
bahn-Abkommen vom 21. März d. Is. von britischer Seite kein Mittel un¬
versucht geblieben ist, die Aufmerksamkeit und die Kräfte Deutschlands von der
asiatischen Türkei abzulenken und es in allerhand Abenteuer zu verwickeln.
Solange das deutsch-russische Abkommen über Persien nicht veröffentlicht
war, setzte man seine Hoffnung auf Se. Petersburg. Als diese Versuche
mißglückter, wurde in Paris gewirkt. Dort war es leichter, weil die Fran¬
zosen sich ohnehin schon für ein schärferes Vorgehen in Marokko vorbereitet
hatten. Jetzt aber trieb England zur Eile, besonders unter Hinweis auf die schlechte
finanzielle Lage des deutschen Reichs, die nach außen hin durch die ungewohnt


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[0107] Reichssxiegel der Türkei stellen, um ihre großen wirtschaftlichen Interessen wirksam schützen zu können. Der Vorschlag klingt namentlich in: Hinblick auf die durch keinerlei Leistungen begründeten chauvinistischen Ausschreitungen der Italiener gegen Österreich ganz einleuchtend, aber er stützt sich doch nur auf eine oberflächliche Betrachtung der Geschehnisse. Die Geschichte des Dreibunds führt zu anderen Ergebnissen. So paradox das folgende auf den ersten Blick klingen mag, soll es ausgesprochen werden: Italiens Festsetzung in Tripolis liegt im Interesse der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts, wie es die Hauptaufgabe des Dreibundes ist, und die Art des Vorgehens selbst kann für das türkische Reich die heilsamsten Wirkungen haben, Wirkungen, die durchaus in der Richtung auch des deutschen Interesses liegen. Der Dreibund ist, solange er besteht, ein politisches Faktum, mit dem bis auf weiteres gerechnet werden muß, sowohl von feiten Deutschlands wie von seiten der anderen Italien befreundeten Mächte Frankreich und England. Italien seiner¬ seits wird aber den Dreibund um so mehr und um so länger schätzen, je mehr er befähigt ist Italiens Tripolispolitik zu stützen, nachdem diese selbst, wenn auch gegen den Willen der Dreibundmächte, ein neues kalt acLompIi geschaffen hat. Deutschland und Österreich-Ungarn werden ihre weitere Haltung gegen Italien auch der Pforte gegenüber verantworten können, da sie jeden Versuch Italiens, in Albanien einzudringen, energisch abgewehrt und die Kriegs¬ gelüste der kleinen Balkanstaaten kräftig niedergehalten haben. Die Türkei verliert zwar mit Tripolis ein Gebiet, aber doch nur ein solches, das sie kaum noch besessen hat. Dagegen bekommt sie finanzielle und moralische Hilfsmittel frei, die sie nun unter dem Schutz der beiden Reiche zur inneren Erstarkung und zum Kampf gegen seinen gefährlichsten Gegner, gegen England, ver¬ wenden kann. Freilich ist hierbei eine Voraussetzung, die weiter oben erwähnt wurde: Vorhandensein genügender moralischer und staatbildender Kräfte im Islam. Die Bezeichnung Englands als Feind aller der Mächte, die mit Deutschland gleichartige Interessen verbinden, ist so häufig angewandt worden, daß sie schon mehr als Schlagwort anmutet und demgemäß für viele an Beweiskraft verloren hat. Dennoch sind wir von neuem berechtigt, Englands Diplomaten als Friedensstörer, wie überhaupt als diejenigen zu bezeichnen, die während der letzten Monate am meisten dahin gewirkt haben, Unruhe zu stiften. Es wird einmal von der Geschichte einwandfrei festgestellt werden, daß seit dem Bagdad¬ bahn-Abkommen vom 21. März d. Is. von britischer Seite kein Mittel un¬ versucht geblieben ist, die Aufmerksamkeit und die Kräfte Deutschlands von der asiatischen Türkei abzulenken und es in allerhand Abenteuer zu verwickeln. Solange das deutsch-russische Abkommen über Persien nicht veröffentlicht war, setzte man seine Hoffnung auf Se. Petersburg. Als diese Versuche mißglückter, wurde in Paris gewirkt. Dort war es leichter, weil die Fran¬ zosen sich ohnehin schon für ein schärferes Vorgehen in Marokko vorbereitet hatten. Jetzt aber trieb England zur Eile, besonders unter Hinweis auf die schlechte finanzielle Lage des deutschen Reichs, die nach außen hin durch die ungewohnt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/107>, abgerufen am 23.07.2024.