Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
staatlicher Imperialismus und Individualismus

Deutschland keinen Spaß verstehen. -- Mit Belgien sei es anders. Seine
Neutralität sei eine Lebensfrage für England und Frankreich: das erkenne man
in. Deutschland an. -- Was könnte man Frankreich bieten, um es einem solchen
deutsch-englischen Abkommen geneigt zu machen? Metz mit dem französisch
sprechenden Lothringen und weiter Versicherungen betr. Belgien und Luxemburg.
Und Nußland? Neben den schon genannten Konzessionen in Kleinasten weitere
Versicherungen der freien Ausfahrt aus der Ostsee, Stärkung der Stellung
Dänemarks dadurch, daß Deutschland den dänisch sprechenden Kreis Hadersleben
an Dänemark zurückgibt.

Danach mutet man Deutschland und Österreich-Ungarn im Verein die
Absicht zu, die ganzen Balkanländer mitsamt der asiatischen Türkei zu verspeisen
und natürlich auch die Niederlande. Dabei wird nicht gesagt, wer eigentlich
der Kaiser von Mitteleuropa und Vorderasien sein soll. Vielleicht hüllt man
sich über diese Frage in Schweigen in der Nebenabsicht, Mißtrauen zwischen
Kaiser Wilhelm und dein des weltpolitischen Weitblickes durchaus nicht erman¬
gelnden österreichischen Thronfolger zu säen. Nun, gleichviel unter welcher
Spitze man sich das Imperium denkt -- es soll jedenfalls von der Rhein¬
mündung bis zur Euphratmündung reichen!

Eigentlich kann die Enthüllung eines solchen Planes gar nicht mehr über¬
raschen; denn bruchstückweise ist er -- und zwar sehr bemerkenswerterweise
immer gleichzeitig in der englischen und französischen Presse -- schon seit Monaten
"enthüllt" morden. Ein solches Bruchstück war die angebliche Militärkonvention
zwischen Rumänien und der Türkei und ihre Erweiterung zu einer Militär¬
konvention dieser beiden Länder mit den beiden mitteleuropäischen Kaiserreichen.
Jetzt ist die angebliche Militärkonvention zwischen Deutschland und den Nieder¬
landen gefolgt; und nun war es nur konsequent, gleich den ganzen Gesamtplan
des "mitteleuropäischen Imperiums" zu enthüllen.

In einem Lande, das, wie England, in territorialen Zusammenfassungs¬
ideen -- vom Kap bis Kairo, vom Nil bis zum Dangtse -- schwelgt oder
das, wie Frankreich, ganz Nordafrika zu einem einheitlichen Kolonialreich
zusammenschweißen möchte, ist es wohl erklärlich, wenn man sich auch das
Streben der mitteleuropäischen Kaisermächte nicht anders vorstellen kann als
durch die Idee eines Imperiums von der Rhein- bis zur Donau-, von der
Elbe- bis zur Euphratmündung. Niemand denkt aber in Mitteleuropa selbst
an die Schaffung eines solchen Imperiums; und wer anderwärts davon spricht,
setzt sich lediglich dem Verdacht aus, daß er die einzelnen, politisch durchaus
selbständigen Teile dieses großen und tatsächlich in einer gewissen Interessen¬
gemeinschaft stehenden Territoriums gegeneinander Hetzen will. Man wird sich
aber im Auslande schließlich daran gewöhnen müssen, die mitteleuropäische
Politik mit andern Maßen zu messen als die eigene imperialistische Politik.

Die englische Presse hat in neuester Zeit recht ergiebig namentlich das
Thema von der Bedrohung der Niederlande durch Deutschland behandelt. Ver-


staatlicher Imperialismus und Individualismus

Deutschland keinen Spaß verstehen. — Mit Belgien sei es anders. Seine
Neutralität sei eine Lebensfrage für England und Frankreich: das erkenne man
in. Deutschland an. — Was könnte man Frankreich bieten, um es einem solchen
deutsch-englischen Abkommen geneigt zu machen? Metz mit dem französisch
sprechenden Lothringen und weiter Versicherungen betr. Belgien und Luxemburg.
Und Nußland? Neben den schon genannten Konzessionen in Kleinasten weitere
Versicherungen der freien Ausfahrt aus der Ostsee, Stärkung der Stellung
Dänemarks dadurch, daß Deutschland den dänisch sprechenden Kreis Hadersleben
an Dänemark zurückgibt.

Danach mutet man Deutschland und Österreich-Ungarn im Verein die
Absicht zu, die ganzen Balkanländer mitsamt der asiatischen Türkei zu verspeisen
und natürlich auch die Niederlande. Dabei wird nicht gesagt, wer eigentlich
der Kaiser von Mitteleuropa und Vorderasien sein soll. Vielleicht hüllt man
sich über diese Frage in Schweigen in der Nebenabsicht, Mißtrauen zwischen
Kaiser Wilhelm und dein des weltpolitischen Weitblickes durchaus nicht erman¬
gelnden österreichischen Thronfolger zu säen. Nun, gleichviel unter welcher
Spitze man sich das Imperium denkt — es soll jedenfalls von der Rhein¬
mündung bis zur Euphratmündung reichen!

Eigentlich kann die Enthüllung eines solchen Planes gar nicht mehr über¬
raschen; denn bruchstückweise ist er — und zwar sehr bemerkenswerterweise
immer gleichzeitig in der englischen und französischen Presse — schon seit Monaten
„enthüllt" morden. Ein solches Bruchstück war die angebliche Militärkonvention
zwischen Rumänien und der Türkei und ihre Erweiterung zu einer Militär¬
konvention dieser beiden Länder mit den beiden mitteleuropäischen Kaiserreichen.
Jetzt ist die angebliche Militärkonvention zwischen Deutschland und den Nieder¬
landen gefolgt; und nun war es nur konsequent, gleich den ganzen Gesamtplan
des „mitteleuropäischen Imperiums" zu enthüllen.

In einem Lande, das, wie England, in territorialen Zusammenfassungs¬
ideen — vom Kap bis Kairo, vom Nil bis zum Dangtse — schwelgt oder
das, wie Frankreich, ganz Nordafrika zu einem einheitlichen Kolonialreich
zusammenschweißen möchte, ist es wohl erklärlich, wenn man sich auch das
Streben der mitteleuropäischen Kaisermächte nicht anders vorstellen kann als
durch die Idee eines Imperiums von der Rhein- bis zur Donau-, von der
Elbe- bis zur Euphratmündung. Niemand denkt aber in Mitteleuropa selbst
an die Schaffung eines solchen Imperiums; und wer anderwärts davon spricht,
setzt sich lediglich dem Verdacht aus, daß er die einzelnen, politisch durchaus
selbständigen Teile dieses großen und tatsächlich in einer gewissen Interessen¬
gemeinschaft stehenden Territoriums gegeneinander Hetzen will. Man wird sich
aber im Auslande schließlich daran gewöhnen müssen, die mitteleuropäische
Politik mit andern Maßen zu messen als die eigene imperialistische Politik.

Die englische Presse hat in neuester Zeit recht ergiebig namentlich das
Thema von der Bedrohung der Niederlande durch Deutschland behandelt. Ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319027"/>
          <fw type="header" place="top"> staatlicher Imperialismus und Individualismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_834" prev="#ID_833"> Deutschland keinen Spaß verstehen. &#x2014; Mit Belgien sei es anders. Seine<lb/>
Neutralität sei eine Lebensfrage für England und Frankreich: das erkenne man<lb/>
in. Deutschland an. &#x2014; Was könnte man Frankreich bieten, um es einem solchen<lb/>
deutsch-englischen Abkommen geneigt zu machen? Metz mit dem französisch<lb/>
sprechenden Lothringen und weiter Versicherungen betr. Belgien und Luxemburg.<lb/>
Und Nußland? Neben den schon genannten Konzessionen in Kleinasten weitere<lb/>
Versicherungen der freien Ausfahrt aus der Ostsee, Stärkung der Stellung<lb/>
Dänemarks dadurch, daß Deutschland den dänisch sprechenden Kreis Hadersleben<lb/>
an Dänemark zurückgibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_835"> Danach mutet man Deutschland und Österreich-Ungarn im Verein die<lb/>
Absicht zu, die ganzen Balkanländer mitsamt der asiatischen Türkei zu verspeisen<lb/>
und natürlich auch die Niederlande. Dabei wird nicht gesagt, wer eigentlich<lb/>
der Kaiser von Mitteleuropa und Vorderasien sein soll. Vielleicht hüllt man<lb/>
sich über diese Frage in Schweigen in der Nebenabsicht, Mißtrauen zwischen<lb/>
Kaiser Wilhelm und dein des weltpolitischen Weitblickes durchaus nicht erman¬<lb/>
gelnden österreichischen Thronfolger zu säen. Nun, gleichviel unter welcher<lb/>
Spitze man sich das Imperium denkt &#x2014; es soll jedenfalls von der Rhein¬<lb/>
mündung bis zur Euphratmündung reichen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_836"> Eigentlich kann die Enthüllung eines solchen Planes gar nicht mehr über¬<lb/>
raschen; denn bruchstückweise ist er &#x2014; und zwar sehr bemerkenswerterweise<lb/>
immer gleichzeitig in der englischen und französischen Presse &#x2014; schon seit Monaten<lb/>
&#x201E;enthüllt" morden. Ein solches Bruchstück war die angebliche Militärkonvention<lb/>
zwischen Rumänien und der Türkei und ihre Erweiterung zu einer Militär¬<lb/>
konvention dieser beiden Länder mit den beiden mitteleuropäischen Kaiserreichen.<lb/>
Jetzt ist die angebliche Militärkonvention zwischen Deutschland und den Nieder¬<lb/>
landen gefolgt; und nun war es nur konsequent, gleich den ganzen Gesamtplan<lb/>
des &#x201E;mitteleuropäischen Imperiums" zu enthüllen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_837"> In einem Lande, das, wie England, in territorialen Zusammenfassungs¬<lb/>
ideen &#x2014; vom Kap bis Kairo, vom Nil bis zum Dangtse &#x2014; schwelgt oder<lb/>
das, wie Frankreich, ganz Nordafrika zu einem einheitlichen Kolonialreich<lb/>
zusammenschweißen möchte, ist es wohl erklärlich, wenn man sich auch das<lb/>
Streben der mitteleuropäischen Kaisermächte nicht anders vorstellen kann als<lb/>
durch die Idee eines Imperiums von der Rhein- bis zur Donau-, von der<lb/>
Elbe- bis zur Euphratmündung. Niemand denkt aber in Mitteleuropa selbst<lb/>
an die Schaffung eines solchen Imperiums; und wer anderwärts davon spricht,<lb/>
setzt sich lediglich dem Verdacht aus, daß er die einzelnen, politisch durchaus<lb/>
selbständigen Teile dieses großen und tatsächlich in einer gewissen Interessen¬<lb/>
gemeinschaft stehenden Territoriums gegeneinander Hetzen will. Man wird sich<lb/>
aber im Auslande schließlich daran gewöhnen müssen, die mitteleuropäische<lb/>
Politik mit andern Maßen zu messen als die eigene imperialistische Politik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_838" next="#ID_839"> Die englische Presse hat in neuester Zeit recht ergiebig namentlich das<lb/>
Thema von der Bedrohung der Niederlande durch Deutschland behandelt. Ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0078] staatlicher Imperialismus und Individualismus Deutschland keinen Spaß verstehen. — Mit Belgien sei es anders. Seine Neutralität sei eine Lebensfrage für England und Frankreich: das erkenne man in. Deutschland an. — Was könnte man Frankreich bieten, um es einem solchen deutsch-englischen Abkommen geneigt zu machen? Metz mit dem französisch sprechenden Lothringen und weiter Versicherungen betr. Belgien und Luxemburg. Und Nußland? Neben den schon genannten Konzessionen in Kleinasten weitere Versicherungen der freien Ausfahrt aus der Ostsee, Stärkung der Stellung Dänemarks dadurch, daß Deutschland den dänisch sprechenden Kreis Hadersleben an Dänemark zurückgibt. Danach mutet man Deutschland und Österreich-Ungarn im Verein die Absicht zu, die ganzen Balkanländer mitsamt der asiatischen Türkei zu verspeisen und natürlich auch die Niederlande. Dabei wird nicht gesagt, wer eigentlich der Kaiser von Mitteleuropa und Vorderasien sein soll. Vielleicht hüllt man sich über diese Frage in Schweigen in der Nebenabsicht, Mißtrauen zwischen Kaiser Wilhelm und dein des weltpolitischen Weitblickes durchaus nicht erman¬ gelnden österreichischen Thronfolger zu säen. Nun, gleichviel unter welcher Spitze man sich das Imperium denkt — es soll jedenfalls von der Rhein¬ mündung bis zur Euphratmündung reichen! Eigentlich kann die Enthüllung eines solchen Planes gar nicht mehr über¬ raschen; denn bruchstückweise ist er — und zwar sehr bemerkenswerterweise immer gleichzeitig in der englischen und französischen Presse — schon seit Monaten „enthüllt" morden. Ein solches Bruchstück war die angebliche Militärkonvention zwischen Rumänien und der Türkei und ihre Erweiterung zu einer Militär¬ konvention dieser beiden Länder mit den beiden mitteleuropäischen Kaiserreichen. Jetzt ist die angebliche Militärkonvention zwischen Deutschland und den Nieder¬ landen gefolgt; und nun war es nur konsequent, gleich den ganzen Gesamtplan des „mitteleuropäischen Imperiums" zu enthüllen. In einem Lande, das, wie England, in territorialen Zusammenfassungs¬ ideen — vom Kap bis Kairo, vom Nil bis zum Dangtse — schwelgt oder das, wie Frankreich, ganz Nordafrika zu einem einheitlichen Kolonialreich zusammenschweißen möchte, ist es wohl erklärlich, wenn man sich auch das Streben der mitteleuropäischen Kaisermächte nicht anders vorstellen kann als durch die Idee eines Imperiums von der Rhein- bis zur Donau-, von der Elbe- bis zur Euphratmündung. Niemand denkt aber in Mitteleuropa selbst an die Schaffung eines solchen Imperiums; und wer anderwärts davon spricht, setzt sich lediglich dem Verdacht aus, daß er die einzelnen, politisch durchaus selbständigen Teile dieses großen und tatsächlich in einer gewissen Interessen¬ gemeinschaft stehenden Territoriums gegeneinander Hetzen will. Man wird sich aber im Auslande schließlich daran gewöhnen müssen, die mitteleuropäische Politik mit andern Maßen zu messen als die eigene imperialistische Politik. Die englische Presse hat in neuester Zeit recht ergiebig namentlich das Thema von der Bedrohung der Niederlande durch Deutschland behandelt. Ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/78
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/78>, abgerufen am 29.12.2024.