Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Alexander Andreas, ein Sohn Livlands besorgten sterbenden Mutter hatte ihr Mut und Kraft gegeben, den Daseinskampf Dorpat -- und WitebskI Zwei größere Gegensätze schienen freilich nicht Alexander Andreas, ein Sohn Livlands besorgten sterbenden Mutter hatte ihr Mut und Kraft gegeben, den Daseinskampf Dorpat — und WitebskI Zwei größere Gegensätze schienen freilich nicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0634" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319581"/> <fw type="header" place="top"> Alexander Andreas, ein Sohn Livlands</fw><lb/> <p xml:id="ID_3001" prev="#ID_3000"> besorgten sterbenden Mutter hatte ihr Mut und Kraft gegeben, den Daseinskampf<lb/> für sich und ihren kleinen Schützling allein aufzunehmen und sich durch manche<lb/> spätere bittere Stunde immer wieder durchzuringen. Ein Engagement als Erzieherin<lb/> nach Se. Petersburg ermöglichte ihr die Unterbringung des Bruders in die dortige<lb/> Katharinenschule, an deren Besuch sich eine mehrjährige Studienzeit im Lehrer¬<lb/> seminar zu Dorpat und schließlich die Absolvierung des Pädagogischen Haupt¬<lb/> instituts in Se. Petersburg anschloß. Dieser unter Sorgen und Entbehrungen<lb/> durchgekämpften pädagogischen Werdezeit folgte Ende der sechziger Jahre in ver-<lb/> hältnismäßig kurzer Frist der erste Lehrauftrag, und zwar als Lehrer der russischen<lb/> Sprache an den Ergänzungsklassen der Dorpater Kreisschule. Brachte die gesicherte<lb/> materielle Lage dem jungen Schulmann einmal die freudige Genugtuung, alle<lb/> Fürsorge und Treue der Schwester durch deren dauernde Aufnahme in seinem<lb/> Hause zu vergelten, so gewährte sie ihm auch die Möglichkeit, durch den Besuch<lb/> der Vorlesungen an der Universität sein Wissen zu bereichern. Das „eulenumrauschte<lb/> Einband-Athen" wurde ihm zum freundlichen Aufenthalt, zu einer Stätte beruf¬<lb/> licher Befriedigung und geistiger Entfaltung. Nach Ablegung der Prüfung eines<lb/> Oberlehrers der deutschen Sprache war es vor allem die baltische Heimatgeschichte,<lb/> deren Studium er sich in der Universitätsbibliothek an der Hand der dortigen<lb/> alten Quellen mit Eifer hingab. Hatten ihm schon in der Kindheit die ehrwürdigen,<lb/> zum Teil bis in das dreizehnte Jahrhundert hineinragenden Baudenkmäler der<lb/> Vaterstadt aus der Altväter Tagen erzählt, so tat sich jetzt auf den vergilbten<lb/> Blättern der schweinsledernen Folianten die ganze wechselvolle Vergangenheit der<lb/> Heimat vor seinen Augen aus. Mit schnellem Blick hatte er das Fesselnde dieses<lb/> vielgestaltigen historischen Stoffes erkannt und dessen literarische Verwendung im<lb/> Sinne einer allgemeineren Verbreitung der Heimatgeschichte beschlossen. So ent¬<lb/> stand damals bereits nicht nur der erste Entwurf für eine Anzahl seiner nach<lb/> Jahren erst niedergesehriebenen heimatgeschichtlichen Erzählungen, sondern gleich¬<lb/> zeitig auch eine reichhaltige Sammlung systematisch geordneter Notizen für ihren<lb/> späteren, möglichst getreuen historischen Aufbau. Nebenher aber zelligem fach¬<lb/> wissenschaftliche Studien eine Reihe Vorarbeiten für zwei, hernach sehr verbreitete<lb/> russische Lehrbücher, eine „Grammatik der zeitgenössischen deutschen Sprache" und<lb/> einen „Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprache", die er jedoch<lb/> erst in Witebsk beendete, wohin ihn Anfang der achtziger Jahre ein Ruf als<lb/> Oberlehrer der deutschen Sprache an das dortige Gouvernementsgymnasium führte.</p><lb/> <p xml:id="ID_3002" next="#ID_3003"> Dorpat — und WitebskI Zwei größere Gegensätze schienen freilich nicht<lb/> denkbar. Das in jahrhundertelange deutsche Tradition und Geistesarbeit getauchte<lb/> ehemaligeDeutschordensstädtchen und die vergangenheitflache russisch-jüdische Handels-<lb/> stadt: sie hatten keine Berührungspunkte, sie blickten einander fremd und unver¬<lb/> standen an. Inmitten der anregungslosen Umgebung vertiefte sich Badendyk mit<lb/> Vorliebe in die Ausarbeitung seiner literarischen Entwürfe. Hier beendete er 1889<lb/> seine erste, im sechzehnten Jahrhundert spielende Erzählung „Munkenbek", die er<lb/> selbst in einem Briefe als „ein gelehrtes Werk in belletristischer Form" bezeichnet,<lb/> „in welchem damalige Rigasche Persönlichkeiten, deren Namen zum Teil noch jetzt<lb/> jeden: gebildeten Nigenser bekannt sind, streng auf Grundlage alter Akten und<lb/> Aufzeichnungen, ja meist mit deren historisch verbürgten Worten geschildert werden".<lb/> Nicht nur der interessante, stellenweise ins Romantische lenkende Stoff, der das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0634]
Alexander Andreas, ein Sohn Livlands
besorgten sterbenden Mutter hatte ihr Mut und Kraft gegeben, den Daseinskampf
für sich und ihren kleinen Schützling allein aufzunehmen und sich durch manche
spätere bittere Stunde immer wieder durchzuringen. Ein Engagement als Erzieherin
nach Se. Petersburg ermöglichte ihr die Unterbringung des Bruders in die dortige
Katharinenschule, an deren Besuch sich eine mehrjährige Studienzeit im Lehrer¬
seminar zu Dorpat und schließlich die Absolvierung des Pädagogischen Haupt¬
instituts in Se. Petersburg anschloß. Dieser unter Sorgen und Entbehrungen
durchgekämpften pädagogischen Werdezeit folgte Ende der sechziger Jahre in ver-
hältnismäßig kurzer Frist der erste Lehrauftrag, und zwar als Lehrer der russischen
Sprache an den Ergänzungsklassen der Dorpater Kreisschule. Brachte die gesicherte
materielle Lage dem jungen Schulmann einmal die freudige Genugtuung, alle
Fürsorge und Treue der Schwester durch deren dauernde Aufnahme in seinem
Hause zu vergelten, so gewährte sie ihm auch die Möglichkeit, durch den Besuch
der Vorlesungen an der Universität sein Wissen zu bereichern. Das „eulenumrauschte
Einband-Athen" wurde ihm zum freundlichen Aufenthalt, zu einer Stätte beruf¬
licher Befriedigung und geistiger Entfaltung. Nach Ablegung der Prüfung eines
Oberlehrers der deutschen Sprache war es vor allem die baltische Heimatgeschichte,
deren Studium er sich in der Universitätsbibliothek an der Hand der dortigen
alten Quellen mit Eifer hingab. Hatten ihm schon in der Kindheit die ehrwürdigen,
zum Teil bis in das dreizehnte Jahrhundert hineinragenden Baudenkmäler der
Vaterstadt aus der Altväter Tagen erzählt, so tat sich jetzt auf den vergilbten
Blättern der schweinsledernen Folianten die ganze wechselvolle Vergangenheit der
Heimat vor seinen Augen aus. Mit schnellem Blick hatte er das Fesselnde dieses
vielgestaltigen historischen Stoffes erkannt und dessen literarische Verwendung im
Sinne einer allgemeineren Verbreitung der Heimatgeschichte beschlossen. So ent¬
stand damals bereits nicht nur der erste Entwurf für eine Anzahl seiner nach
Jahren erst niedergesehriebenen heimatgeschichtlichen Erzählungen, sondern gleich¬
zeitig auch eine reichhaltige Sammlung systematisch geordneter Notizen für ihren
späteren, möglichst getreuen historischen Aufbau. Nebenher aber zelligem fach¬
wissenschaftliche Studien eine Reihe Vorarbeiten für zwei, hernach sehr verbreitete
russische Lehrbücher, eine „Grammatik der zeitgenössischen deutschen Sprache" und
einen „Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprache", die er jedoch
erst in Witebsk beendete, wohin ihn Anfang der achtziger Jahre ein Ruf als
Oberlehrer der deutschen Sprache an das dortige Gouvernementsgymnasium führte.
Dorpat — und WitebskI Zwei größere Gegensätze schienen freilich nicht
denkbar. Das in jahrhundertelange deutsche Tradition und Geistesarbeit getauchte
ehemaligeDeutschordensstädtchen und die vergangenheitflache russisch-jüdische Handels-
stadt: sie hatten keine Berührungspunkte, sie blickten einander fremd und unver¬
standen an. Inmitten der anregungslosen Umgebung vertiefte sich Badendyk mit
Vorliebe in die Ausarbeitung seiner literarischen Entwürfe. Hier beendete er 1889
seine erste, im sechzehnten Jahrhundert spielende Erzählung „Munkenbek", die er
selbst in einem Briefe als „ein gelehrtes Werk in belletristischer Form" bezeichnet,
„in welchem damalige Rigasche Persönlichkeiten, deren Namen zum Teil noch jetzt
jeden: gebildeten Nigenser bekannt sind, streng auf Grundlage alter Akten und
Aufzeichnungen, ja meist mit deren historisch verbürgten Worten geschildert werden".
Nicht nur der interessante, stellenweise ins Romantische lenkende Stoff, der das
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