Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] hat, bei nüchterner Überlegung als recht gering Mit dieser Erwägung scheinen mir nun [Spaltenumbruch] mir ebensowenig einleuchtend, wie seine An¬ Ich meine, man soll sich bei der Beurteilung ob er nicht morgen Minister sein werde, ist Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] hat, bei nüchterner Überlegung als recht gering Mit dieser Erwägung scheinen mir nun [Spaltenumbruch] mir ebensowenig einleuchtend, wie seine An¬ Ich meine, man soll sich bei der Beurteilung ob er nicht morgen Minister sein werde, ist <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0535" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319482"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_2537" prev="#ID_2536"> hat, bei nüchterner Überlegung als recht gering<lb/> anzusehen. Ja, wenn die öffentliche Meinung<lb/> stets oder auch nur in den meisten Fällen<lb/> geschlossen und einheitlich sich in einem ge¬<lb/> wissen Sinne ausspräche! Aber das kann nach<lb/> ihrer eigenen Natur nur äußerst selten ein¬<lb/> treten, denn sie besteht ja begrifflich! aus den<lb/> Ansichtsäuszerungen der allerverschiedensten<lb/> Richtungen und Parteien, die sich gegenseitig<lb/> kontrollieren und korrigieren. Sollten sie<lb/> wirklich einmal ausnahmsweise zu demselben<lb/> Ergebnisse gelangen, so würde dieses in der<lb/> Tat eine sehr große Wahrscheinlichkeit seiner<lb/> Richtigkeit besitzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2538" next="#ID_2539"> Mit dieser Erwägung scheinen mir nun<lb/> zugleich eine ganze Anzahl weiterer Einwen¬<lb/> dungen widerlegt zu sein. So wenn v. Buchka<lb/> geltend macht, daß die Autorität des Gerichts<lb/> beeinträchtigt werde, sobald man die vorherige<lb/> Erörterung deS Falles in der.Presse gestatte,<lb/> denn wenn nachher das gefällte Urteil mit<lb/> der Äußerung der öffentlichen Meinung über¬<lb/> einstimme, so werde man eine Beeinflussung<lb/> annehmen, im entgegengesetzten Falle aber die<lb/> Richter der „Weltfremdheit" beschuldigen.<lb/> Oder wie Behrend freilich zugibt, daß die in<lb/> der öffentlichen Erörterung zutage getretenen<lb/> Gesichtspunkte an sich für die Bildung des<lb/> richterlichen Urteils wertvoll sein können, aber<lb/> geltend macht, daß die öffentliche Meinung<lb/> sich nicht darauf beschränke, mit Gründen auf<lb/> den Richter zu wirken, sondern einen Macht¬<lb/> faktor darstelle, der ihn gegen seine bessere<lb/> Überzeugung in ihren Bannkreis ziehe. Oder<lb/> wenn derselbe Gegner darauf hinweist, daß<lb/> durch die öffentliche Besprechung eines Rcchts-<lb/> fnlles nicht allein auf den Richter, sondern<lb/> auch auf die Zeugen eingewirkt werde. Alle<lb/> diese Einwendungen würden Beachtung ver¬<lb/> dienen, wenn die öffentliche Meinung von einer<lb/> einzelnen Partei gemacht würde, aber da in<lb/> der Presse nicht minder als in Versammlungen<lb/> und Parlamenten jede Richtung zu Worte<lb/> kommt und deshalb fast niemals eine Ein¬<lb/> heitlichkeit der geäußerten Ansichten bestehen<lb/> wird, so können alle die vorbezeichneten Ge¬<lb/> fahren sich in Wirklichkeit nicht geltend machen.</p><lb/> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_2539" prev="#ID_2538"> mir ebensowenig einleuchtend, wie seine An¬<lb/> sicht, daß größere Kollegien nicht mehr Ga¬<lb/> rantien für die Richtigkeit des Spruches böten,<lb/> als Einzelrichter. Daß der Wert eines<lb/> Gerichtes nicht liegt in der Zahl der Richter,<lb/> sondern in ihrer Tüchtigkeit, ist selbstverständ¬<lb/> lich ; aber so lange nicht ein Mittel gefunden<lb/> ist, die Rechtsprechung ausschließlich durch<lb/> hervorragende Richter ausüben zu lassen —<lb/> Behrend hält diese sogar für so selten, daß<lb/> nicht einmal ein einziger Senat des Reichs¬<lb/> gerichts mit ihnen besetzt werden könne —,<lb/> wird man an dem alten Satze festhalten<lb/> müssen, daß vier Augen mehr sehen als zwei,<lb/> und nur deshalb sich damit abzufinden haben,<lb/> daß wir die Qualität durch die Quantität<lb/> nach Möglichkeit ersetzen.</p> <p xml:id="ID_2540"> Ich meine, man soll sich bei der Beurteilung<lb/> der öffentlichen Meinung von beiden Extremen<lb/> fern halten, dem ultraaristokratischen und dem<lb/> ultrndemotratischen, d. h. von der Überschätzung<lb/> sowohl wie von der Unterschätzung. Gewiß<lb/> ist es falsch, zu behaupten: „Volkes Stimme<lb/> ist Gottes Stimme", aber trotzdem kommt<lb/> doch meistens in ihr ein instinktives Rechts¬<lb/> gefühl zum Ausdruck, daß wir am wenigsten<lb/> dann unberücksichtigt lassen sollten, wenn wir<lb/> als Ziel anerkennen, unser Recht so volks¬<lb/> tümlich zu gestalten, wie es dessen Charakter<lb/> als Wissenschaft nur irgend gestattet. Wenn<lb/> Behrend weniger Wert legen will auf die<lb/> Forderungen der Logik, als auf eine „prak¬<lb/> tische Politik", so finde ich die letztere gerade<lb/> darin, daß wir dem Volksempfinden Rechnung<lb/> tragen. Ein Spruch, der dieser Forderung<lb/> genügt, ist für den Zweck, dem das Recht<lb/> dient, wertvoller, als ein gelehrtes Urteil, das<lb/> von der Bevölkerung als Unrecht empfunden<lb/> Wird. Das Recht kann seiner Natur nach<lb/> nur aufgebaut sein auf dem Rechtsgefühl der<lb/> Gesamtheit oder, wo eine völlige Einheitlichkeit<lb/> nicht besteht, auf dem der großen Mehrheit<lb/> der jeweiligen Volksgenossen. Deshalb hat<lb/> es unvermeidlich einen geschichtlich und<lb/> national bedingten Charakter. Unvollkommen<lb/> bleiben alle menschlichen Einrichtungen, aber<lb/> es ist schon viel gewonnen, wenn die Un¬<lb/> Vollkommenheiten möglichst wenig als solche<lb/> empfunden werden.</p> <note type="byline"> Landgerichtsrat ZV. Unlemann</note> <cb type="end"/><lb/> <p xml:id="ID_2541"> ob er nicht morgen Minister sein werde, ist</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0535]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
hat, bei nüchterner Überlegung als recht gering
anzusehen. Ja, wenn die öffentliche Meinung
stets oder auch nur in den meisten Fällen
geschlossen und einheitlich sich in einem ge¬
wissen Sinne ausspräche! Aber das kann nach
ihrer eigenen Natur nur äußerst selten ein¬
treten, denn sie besteht ja begrifflich! aus den
Ansichtsäuszerungen der allerverschiedensten
Richtungen und Parteien, die sich gegenseitig
kontrollieren und korrigieren. Sollten sie
wirklich einmal ausnahmsweise zu demselben
Ergebnisse gelangen, so würde dieses in der
Tat eine sehr große Wahrscheinlichkeit seiner
Richtigkeit besitzen.
Mit dieser Erwägung scheinen mir nun
zugleich eine ganze Anzahl weiterer Einwen¬
dungen widerlegt zu sein. So wenn v. Buchka
geltend macht, daß die Autorität des Gerichts
beeinträchtigt werde, sobald man die vorherige
Erörterung deS Falles in der.Presse gestatte,
denn wenn nachher das gefällte Urteil mit
der Äußerung der öffentlichen Meinung über¬
einstimme, so werde man eine Beeinflussung
annehmen, im entgegengesetzten Falle aber die
Richter der „Weltfremdheit" beschuldigen.
Oder wie Behrend freilich zugibt, daß die in
der öffentlichen Erörterung zutage getretenen
Gesichtspunkte an sich für die Bildung des
richterlichen Urteils wertvoll sein können, aber
geltend macht, daß die öffentliche Meinung
sich nicht darauf beschränke, mit Gründen auf
den Richter zu wirken, sondern einen Macht¬
faktor darstelle, der ihn gegen seine bessere
Überzeugung in ihren Bannkreis ziehe. Oder
wenn derselbe Gegner darauf hinweist, daß
durch die öffentliche Besprechung eines Rcchts-
fnlles nicht allein auf den Richter, sondern
auch auf die Zeugen eingewirkt werde. Alle
diese Einwendungen würden Beachtung ver¬
dienen, wenn die öffentliche Meinung von einer
einzelnen Partei gemacht würde, aber da in
der Presse nicht minder als in Versammlungen
und Parlamenten jede Richtung zu Worte
kommt und deshalb fast niemals eine Ein¬
heitlichkeit der geäußerten Ansichten bestehen
wird, so können alle die vorbezeichneten Ge¬
fahren sich in Wirklichkeit nicht geltend machen.
mir ebensowenig einleuchtend, wie seine An¬
sicht, daß größere Kollegien nicht mehr Ga¬
rantien für die Richtigkeit des Spruches böten,
als Einzelrichter. Daß der Wert eines
Gerichtes nicht liegt in der Zahl der Richter,
sondern in ihrer Tüchtigkeit, ist selbstverständ¬
lich ; aber so lange nicht ein Mittel gefunden
ist, die Rechtsprechung ausschließlich durch
hervorragende Richter ausüben zu lassen —
Behrend hält diese sogar für so selten, daß
nicht einmal ein einziger Senat des Reichs¬
gerichts mit ihnen besetzt werden könne —,
wird man an dem alten Satze festhalten
müssen, daß vier Augen mehr sehen als zwei,
und nur deshalb sich damit abzufinden haben,
daß wir die Qualität durch die Quantität
nach Möglichkeit ersetzen.
Ich meine, man soll sich bei der Beurteilung
der öffentlichen Meinung von beiden Extremen
fern halten, dem ultraaristokratischen und dem
ultrndemotratischen, d. h. von der Überschätzung
sowohl wie von der Unterschätzung. Gewiß
ist es falsch, zu behaupten: „Volkes Stimme
ist Gottes Stimme", aber trotzdem kommt
doch meistens in ihr ein instinktives Rechts¬
gefühl zum Ausdruck, daß wir am wenigsten
dann unberücksichtigt lassen sollten, wenn wir
als Ziel anerkennen, unser Recht so volks¬
tümlich zu gestalten, wie es dessen Charakter
als Wissenschaft nur irgend gestattet. Wenn
Behrend weniger Wert legen will auf die
Forderungen der Logik, als auf eine „prak¬
tische Politik", so finde ich die letztere gerade
darin, daß wir dem Volksempfinden Rechnung
tragen. Ein Spruch, der dieser Forderung
genügt, ist für den Zweck, dem das Recht
dient, wertvoller, als ein gelehrtes Urteil, das
von der Bevölkerung als Unrecht empfunden
Wird. Das Recht kann seiner Natur nach
nur aufgebaut sein auf dem Rechtsgefühl der
Gesamtheit oder, wo eine völlige Einheitlichkeit
nicht besteht, auf dem der großen Mehrheit
der jeweiligen Volksgenossen. Deshalb hat
es unvermeidlich einen geschichtlich und
national bedingten Charakter. Unvollkommen
bleiben alle menschlichen Einrichtungen, aber
es ist schon viel gewonnen, wenn die Un¬
Vollkommenheiten möglichst wenig als solche
empfunden werden.
Landgerichtsrat ZV. Unlemann
ob er nicht morgen Minister sein werde, ist
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