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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Reitervolkes, an Kraft und Einfluß dem
mittelalterlichen Serbien im ganzen überlegen,
aber auch heftigeren Katastrophen ausgesetzt.
Daneben greifen, wenn man von der kurzen
Episode des lateinischen Kaisertums absieht,
Mächte des Westens und Nordwestens ein,
selten und in geringem Maße die deutsche
Politik, mit wachsender Kraft aber der neu
erstehende ungarische Staat und die Republik
Venedig, die schließlich zu Rivalen um den
Besitz der ostadriatischen Küste werden.

Der Begriff des mittelalterlichen Serbiens
deckt sich geographisch nicht ganz mit dem,
was wir heute darunter verstehen. Gegen
Norden und Wohl auch gegen Osten haben
sich die Grenzen des serbischen Gebietes ver¬
schoben, vor allem durch die Ereignisse der
Türkenzeit gegen Norden: Südungarn hat
heute eine starke serbische Kolonisation. Die
Hauptstadt Belgrad, die heute durchaus auf
serbischen Gebiet liegt und die sogar, wenn
man das Sprachgebiet in Betracht zieht, gar
nicht so an der Peripherie liegt, wie es nach
den politischen Grenzen scheint, war im
Mittelalter im besten Fall ein nördlicher
Vorposten des serbischen Reiches, meist aber
ein Zankapfel zwischen Serbien und Ungarn
wie vordem zwischen Byzanz und den Avaren.
Das Kernland Serbiens lag auf einem Ge¬
biet, das heute zum größeren Teile türkisch
ist: das Sandschak Novipazar mit den an¬
grenzenden Teilen des heutigen Serbiens und
Montenegros, die mittelalterliche Residenz lag
nicht weit vom heutigen Novipazar.

Dafür galten als serbisch seit ziemlich
früher Zeit die Küstenländer von Dulcigno
an bis zur Narentmnündung, d. h. bis zum
Beginn des kroatischen Küstenlandes.

Beide Gebiete haben in der Geschichte
des mittelalterlichen Serbiens ihre Bedeutung:
vom Küstenland ging im elften Jahrhundert
die Gründung eines serbischen Staates aus,
freilich nicht für lange Zeit; schon am Ende
des Jahrhundorts gewann das Binnenland
wieder die Oberhand, seitdem ist das mittel¬
alterliche Serbien ein Binnenstaat, der die
küstenländischen Gebiete gleicher Sprache und
Nationalität nach Möglichkeit beherrscht, seinen
Schwerpunkt aber nicht dort hat. Damit
hängt der für die serbische Geschichte in erster
Linie wichtige Umstand zusammen, daß die

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Serben trotz gelegentlicher Schwankungen im
ganzen doch weit mehr den: Einfluß der
orientalischen Kirche als dein der römischen
unterlagen.

Die große Zeit des mittelalterlichen
Serbiens und zugleich auch seine geschichtliche
Erinnerung beginnt mit dein Herrscher
Stephan Nemanja (um 1170). Nach ihm
haben alle folgenden Glieder der Dynastie
den Namen Stephan geführt, so gleich sein
Nachfolger, Stephan der Erstgekrönte, der
erste "König" von Serbien, dem auch die
serbische Nationalkirche ihre Entstehung ver¬
dankt. Die Möglichkeit, die Grenzen nament¬
lich gegen Süden auszudehnen, ergab sich
gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts
durch den Verfall des byzantinischen Reiches
unter den Paläologen. Den Höhepunkt er¬
reichte die Macht Serbiens gegen die Mitte
des vierzehnten Jahrhunderts unter Stephan
Duschan: es wurde die Vormacht der Balkan¬
länder und der gesuchteste Bundesgenosse für
die sich befehdenden Parteien im byzantinischen
Reich. Aber Stephan Duschnn sah auch schon
das Ende kommen. Die Türkengefahr, an
die bis dahin niemand recht geglaubt hatte,
War Plötzlich durch die Festsetzung der Osmanen
in Kallipolis am HelleSPont und durch einige
andere Geschehnisse allen zum Bewußtsein
gekommen. Stephan Duschan hat bereits den
Gedanken einer allgemeinen Abwehraktion
von feiten des christlichen Abendlandes gefaßt;
aber die Verhandlungen führten zu nichts,
und bald danach starb ihr Urheber (13Sö).
Es kam nun, wie es kommen mußte, aber
doch schneller, als die meisten ahnten. End¬
loser Streit der Nachkommen Stephan Duschans
untereinander und mit den anderen christlichen
Mächten ließ in den nächsten Jahren keine
gemeinsame Unternehmung gegen die Türken
zur Reife kommen; und als sich einige
serbische Magnaten zusammenladen, um der
drohenden Gefahr zu begegnen, war es zu
spät. Die Schlacht an der Marina im Jahre
1371 entschied gegen die Serben. Das
serbische Reich als Ganzes war sechzehn Jahre
nach Stephan Duschans Tod zertrümmert;
wenigstens der Süden bis zur Schar Planina
wurde bald ganz von den Türken abhängig,
und im nördlichen Teil entstand eine Reihe
von Einzelfürstentümern.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Reitervolkes, an Kraft und Einfluß dem
mittelalterlichen Serbien im ganzen überlegen,
aber auch heftigeren Katastrophen ausgesetzt.
Daneben greifen, wenn man von der kurzen
Episode des lateinischen Kaisertums absieht,
Mächte des Westens und Nordwestens ein,
selten und in geringem Maße die deutsche
Politik, mit wachsender Kraft aber der neu
erstehende ungarische Staat und die Republik
Venedig, die schließlich zu Rivalen um den
Besitz der ostadriatischen Küste werden.

Der Begriff des mittelalterlichen Serbiens
deckt sich geographisch nicht ganz mit dem,
was wir heute darunter verstehen. Gegen
Norden und Wohl auch gegen Osten haben
sich die Grenzen des serbischen Gebietes ver¬
schoben, vor allem durch die Ereignisse der
Türkenzeit gegen Norden: Südungarn hat
heute eine starke serbische Kolonisation. Die
Hauptstadt Belgrad, die heute durchaus auf
serbischen Gebiet liegt und die sogar, wenn
man das Sprachgebiet in Betracht zieht, gar
nicht so an der Peripherie liegt, wie es nach
den politischen Grenzen scheint, war im
Mittelalter im besten Fall ein nördlicher
Vorposten des serbischen Reiches, meist aber
ein Zankapfel zwischen Serbien und Ungarn
wie vordem zwischen Byzanz und den Avaren.
Das Kernland Serbiens lag auf einem Ge¬
biet, das heute zum größeren Teile türkisch
ist: das Sandschak Novipazar mit den an¬
grenzenden Teilen des heutigen Serbiens und
Montenegros, die mittelalterliche Residenz lag
nicht weit vom heutigen Novipazar.

Dafür galten als serbisch seit ziemlich
früher Zeit die Küstenländer von Dulcigno
an bis zur Narentmnündung, d. h. bis zum
Beginn des kroatischen Küstenlandes.

Beide Gebiete haben in der Geschichte
des mittelalterlichen Serbiens ihre Bedeutung:
vom Küstenland ging im elften Jahrhundert
die Gründung eines serbischen Staates aus,
freilich nicht für lange Zeit; schon am Ende
des Jahrhundorts gewann das Binnenland
wieder die Oberhand, seitdem ist das mittel¬
alterliche Serbien ein Binnenstaat, der die
küstenländischen Gebiete gleicher Sprache und
Nationalität nach Möglichkeit beherrscht, seinen
Schwerpunkt aber nicht dort hat. Damit
hängt der für die serbische Geschichte in erster
Linie wichtige Umstand zusammen, daß die

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Serben trotz gelegentlicher Schwankungen im
ganzen doch weit mehr den: Einfluß der
orientalischen Kirche als dein der römischen
unterlagen.

Die große Zeit des mittelalterlichen
Serbiens und zugleich auch seine geschichtliche
Erinnerung beginnt mit dein Herrscher
Stephan Nemanja (um 1170). Nach ihm
haben alle folgenden Glieder der Dynastie
den Namen Stephan geführt, so gleich sein
Nachfolger, Stephan der Erstgekrönte, der
erste „König" von Serbien, dem auch die
serbische Nationalkirche ihre Entstehung ver¬
dankt. Die Möglichkeit, die Grenzen nament¬
lich gegen Süden auszudehnen, ergab sich
gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts
durch den Verfall des byzantinischen Reiches
unter den Paläologen. Den Höhepunkt er¬
reichte die Macht Serbiens gegen die Mitte
des vierzehnten Jahrhunderts unter Stephan
Duschan: es wurde die Vormacht der Balkan¬
länder und der gesuchteste Bundesgenosse für
die sich befehdenden Parteien im byzantinischen
Reich. Aber Stephan Duschnn sah auch schon
das Ende kommen. Die Türkengefahr, an
die bis dahin niemand recht geglaubt hatte,
War Plötzlich durch die Festsetzung der Osmanen
in Kallipolis am HelleSPont und durch einige
andere Geschehnisse allen zum Bewußtsein
gekommen. Stephan Duschan hat bereits den
Gedanken einer allgemeinen Abwehraktion
von feiten des christlichen Abendlandes gefaßt;
aber die Verhandlungen führten zu nichts,
und bald danach starb ihr Urheber (13Sö).
Es kam nun, wie es kommen mußte, aber
doch schneller, als die meisten ahnten. End¬
loser Streit der Nachkommen Stephan Duschans
untereinander und mit den anderen christlichen
Mächten ließ in den nächsten Jahren keine
gemeinsame Unternehmung gegen die Türken
zur Reife kommen; und als sich einige
serbische Magnaten zusammenladen, um der
drohenden Gefahr zu begegnen, war es zu
spät. Die Schlacht an der Marina im Jahre
1371 entschied gegen die Serben. Das
serbische Reich als Ganzes war sechzehn Jahre
nach Stephan Duschans Tod zertrümmert;
wenigstens der Süden bis zur Schar Planina
wurde bald ganz von den Türken abhängig,
und im nördlichen Teil entstand eine Reihe
von Einzelfürstentümern.

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[0532] Maßgebliches und Unmaßgebliches Reitervolkes, an Kraft und Einfluß dem mittelalterlichen Serbien im ganzen überlegen, aber auch heftigeren Katastrophen ausgesetzt. Daneben greifen, wenn man von der kurzen Episode des lateinischen Kaisertums absieht, Mächte des Westens und Nordwestens ein, selten und in geringem Maße die deutsche Politik, mit wachsender Kraft aber der neu erstehende ungarische Staat und die Republik Venedig, die schließlich zu Rivalen um den Besitz der ostadriatischen Küste werden. Der Begriff des mittelalterlichen Serbiens deckt sich geographisch nicht ganz mit dem, was wir heute darunter verstehen. Gegen Norden und Wohl auch gegen Osten haben sich die Grenzen des serbischen Gebietes ver¬ schoben, vor allem durch die Ereignisse der Türkenzeit gegen Norden: Südungarn hat heute eine starke serbische Kolonisation. Die Hauptstadt Belgrad, die heute durchaus auf serbischen Gebiet liegt und die sogar, wenn man das Sprachgebiet in Betracht zieht, gar nicht so an der Peripherie liegt, wie es nach den politischen Grenzen scheint, war im Mittelalter im besten Fall ein nördlicher Vorposten des serbischen Reiches, meist aber ein Zankapfel zwischen Serbien und Ungarn wie vordem zwischen Byzanz und den Avaren. Das Kernland Serbiens lag auf einem Ge¬ biet, das heute zum größeren Teile türkisch ist: das Sandschak Novipazar mit den an¬ grenzenden Teilen des heutigen Serbiens und Montenegros, die mittelalterliche Residenz lag nicht weit vom heutigen Novipazar. Dafür galten als serbisch seit ziemlich früher Zeit die Küstenländer von Dulcigno an bis zur Narentmnündung, d. h. bis zum Beginn des kroatischen Küstenlandes. Beide Gebiete haben in der Geschichte des mittelalterlichen Serbiens ihre Bedeutung: vom Küstenland ging im elften Jahrhundert die Gründung eines serbischen Staates aus, freilich nicht für lange Zeit; schon am Ende des Jahrhundorts gewann das Binnenland wieder die Oberhand, seitdem ist das mittel¬ alterliche Serbien ein Binnenstaat, der die küstenländischen Gebiete gleicher Sprache und Nationalität nach Möglichkeit beherrscht, seinen Schwerpunkt aber nicht dort hat. Damit hängt der für die serbische Geschichte in erster Linie wichtige Umstand zusammen, daß die Serben trotz gelegentlicher Schwankungen im ganzen doch weit mehr den: Einfluß der orientalischen Kirche als dein der römischen unterlagen. Die große Zeit des mittelalterlichen Serbiens und zugleich auch seine geschichtliche Erinnerung beginnt mit dein Herrscher Stephan Nemanja (um 1170). Nach ihm haben alle folgenden Glieder der Dynastie den Namen Stephan geführt, so gleich sein Nachfolger, Stephan der Erstgekrönte, der erste „König" von Serbien, dem auch die serbische Nationalkirche ihre Entstehung ver¬ dankt. Die Möglichkeit, die Grenzen nament¬ lich gegen Süden auszudehnen, ergab sich gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts durch den Verfall des byzantinischen Reiches unter den Paläologen. Den Höhepunkt er¬ reichte die Macht Serbiens gegen die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts unter Stephan Duschan: es wurde die Vormacht der Balkan¬ länder und der gesuchteste Bundesgenosse für die sich befehdenden Parteien im byzantinischen Reich. Aber Stephan Duschnn sah auch schon das Ende kommen. Die Türkengefahr, an die bis dahin niemand recht geglaubt hatte, War Plötzlich durch die Festsetzung der Osmanen in Kallipolis am HelleSPont und durch einige andere Geschehnisse allen zum Bewußtsein gekommen. Stephan Duschan hat bereits den Gedanken einer allgemeinen Abwehraktion von feiten des christlichen Abendlandes gefaßt; aber die Verhandlungen führten zu nichts, und bald danach starb ihr Urheber (13Sö). Es kam nun, wie es kommen mußte, aber doch schneller, als die meisten ahnten. End¬ loser Streit der Nachkommen Stephan Duschans untereinander und mit den anderen christlichen Mächten ließ in den nächsten Jahren keine gemeinsame Unternehmung gegen die Türken zur Reife kommen; und als sich einige serbische Magnaten zusammenladen, um der drohenden Gefahr zu begegnen, war es zu spät. Die Schlacht an der Marina im Jahre 1371 entschied gegen die Serben. Das serbische Reich als Ganzes war sechzehn Jahre nach Stephan Duschans Tod zertrümmert; wenigstens der Süden bis zur Schar Planina wurde bald ganz von den Türken abhängig, und im nördlichen Teil entstand eine Reihe von Einzelfürstentümern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/532>, abgerufen am 29.12.2024.