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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Zentrum und den Polen schädlich ist, oder
ob bei diesen Parteien noch andere Gesichts¬
punkte in Betracht kommen, mag dahingestellt
bleiben. Nicht wegzuleugnen sind jedenfalls
die Schäden, die für das Deutschtum aus
dein Zustande seiner Presse entstehen. Man
sehe sich einmal von diesem Gesichtspunkte
aus eines der hiesigen "liberalen" Blätter an.
Parteipolitisch stehen sie meist ziemlich links.
Sie erfüllen die Aufgaben eines kleinen
Lokalblattes im allgemeinen in leidlich zu¬
friedenstellender Weise, sind auch mit telegra¬
phischen Nachrichten usw. im allgemeinen recht
gut bedient. Aber als Politische Blätter
kommen sie überhaupt nicht in Betracht; sie
sind ohne jeden politischen Einfluß. Die
gebildeten deutschen Kreise lesen sie entweder
überhaupt nicht, oder nur deshalb, um über die
kleinen Ereignisse der Stadt und der unmittel-
bnrenUmgebung auf dein laufenden zu, bleiben.
Im übrigen aber liestman eine auswärtige, meist
Berliner Zeitung, und soweit die in Betracht
kommenden Kreise dem Freisinn zuneigen,
und das ist Wohl zu einem recht großen Teil
der Fall, bildet ihre Lieblingslektüre das
Berliner Tageblatt, das wahrlich nicht zur
Hebung des Deutschbewußtseius in seinen
Losern dient. Wenn nun statt der vielen kleinen
Zeitungen eine große bestünde, so würden
ihr, wie man Wohl annehmen darf, all diese
Kreise als Leser zufallen und dadurch ein
ganz anderer Zug in das deutsche politische
Leben kommen. Und anderseits: eine solche
Zeitung würde die Allgemeinheit, ihre eigenen
Leser und die Presse im Reich weit besser
und wirksamer über das unterrichten können,
waS sich hier abspielt. Wir leben auf einem
äußerst gefährlichen Boden, und eS ereignet
sich auf deutscher, polnischer und Zentrums¬
seite so manches, was geeignet wäre, vor
einem größeren Kreise besprochen zu werden,
Dinge, deren wirklich großzügige Erörterung
in der Presse Nutzen stiften könnte. Die hiesige
Presse leistet daS nicht und kann es nicht leisten.
Dazu bewegen sich ihre politischen Erörterungen
ans, gelinde gesagt, allzu subalternen Boden.
All dem würde abgeholfen werden, wenn sich
jemand fände, der den Mut und daS Kapital
besäße und den Versuch wagte, diesen Zu¬
ständen ein Ende zu machen. Sollte eS nicht
möglich sein, in einem so volkreichen Gebiete,

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mit seiner Unzahl von Beamten und Ange¬
hörigen der Technik und Industrie und des
Handels eine wirklich große Zeitung ins
Leben zu rufen und sie lebensfähig zu er¬
halten? Ein solches Blatt müßte, wenn es
Boden finden sollte, etwa auf linksnational-
liberalem Standpunkte stehen und politisch,
wissenschaftlich und belletristisch all das bringen,
was man von einer "großen" Zeitung verlangt.
Daß die antipolnischcn Bestrebungen einer
solchen Zeitung auch bei ihren weiter links
stehenden Lesern Anklang finden würden,
glaube ich annehmen zu dürfen. Wer tag¬
täglich gezwungen ist, gewisse Dinge nicht
theoretisch, sondern Praktisch zu betrachten,
gelangt eben zu ganz anderen Anschauungen
als der bloße Doktrinär. Ein solches Blatt
würde zugleich ein Lokalblatt für den ge¬
samten Jndustriebezirk sein, denn bei den
guten Verbindungen, der Unzahl von Eisen-
und elektrischen Bahnen, die dieses ganze Ge¬
biet durchziehen, bildet es tatsächlich nur eine
große Stadt von Gleiwitz bis Myslowitz.

Vielleicht noch wichtiger aber wäre folgen¬
des, und ich weiß mich anch damit in Über¬
einstimmung mit manchem Kenner der hiesigen
Verhältnisse! So merkwürdig und auf den
ersten Blick lächerlich es vielleicht klingen mag,
wir brauchen hier einen polnischen "Loknl-
anzeiger". Man mag über ein Blatt wie
den Berliner Lokalanzeiger und die ihm
nachgebildeten Lokalblätter anderer Städte
denken wie man will, eine Sache ist nicht
damit erledigt, daß man sie als schlecht nach¬
weist, es bleibt vielmehr immer noch zu
Prüfen, ob sie nicht von zwei Übeln das
kleinere ist. So liegt die Sache aber auch
hier. Eine wirklich gute ernsthafte Zeitung
ist eben für viele Leute nicht die geeignete
Kost. Ich bin überzeugt, daß sehr viele von
den Einwohnern Groß-Berlins den Vor¬
wärts lesen und damit der Sozialdemokratie
anheimfallen würden, wenn sie -- oder ihre
besseren Hälften -- nicht der ihnen vom
Lokalanzeigcr für billiges Geld gebotene Lese¬
stoff mehr reizte als die öden Schimpfereien
des Vorwärts. Ist das aber richtig, so dürfte
es auch ohne weiteres ans die hiesigen Ver¬
hältnisse entsprechend anwendbar sein. Die
Versetzung wird hier hauptsächlich durch die
polnischen Zeitungen ins Volk getragen. Die

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Zentrum und den Polen schädlich ist, oder
ob bei diesen Parteien noch andere Gesichts¬
punkte in Betracht kommen, mag dahingestellt
bleiben. Nicht wegzuleugnen sind jedenfalls
die Schäden, die für das Deutschtum aus
dein Zustande seiner Presse entstehen. Man
sehe sich einmal von diesem Gesichtspunkte
aus eines der hiesigen „liberalen" Blätter an.
Parteipolitisch stehen sie meist ziemlich links.
Sie erfüllen die Aufgaben eines kleinen
Lokalblattes im allgemeinen in leidlich zu¬
friedenstellender Weise, sind auch mit telegra¬
phischen Nachrichten usw. im allgemeinen recht
gut bedient. Aber als Politische Blätter
kommen sie überhaupt nicht in Betracht; sie
sind ohne jeden politischen Einfluß. Die
gebildeten deutschen Kreise lesen sie entweder
überhaupt nicht, oder nur deshalb, um über die
kleinen Ereignisse der Stadt und der unmittel-
bnrenUmgebung auf dein laufenden zu, bleiben.
Im übrigen aber liestman eine auswärtige, meist
Berliner Zeitung, und soweit die in Betracht
kommenden Kreise dem Freisinn zuneigen,
und das ist Wohl zu einem recht großen Teil
der Fall, bildet ihre Lieblingslektüre das
Berliner Tageblatt, das wahrlich nicht zur
Hebung des Deutschbewußtseius in seinen
Losern dient. Wenn nun statt der vielen kleinen
Zeitungen eine große bestünde, so würden
ihr, wie man Wohl annehmen darf, all diese
Kreise als Leser zufallen und dadurch ein
ganz anderer Zug in das deutsche politische
Leben kommen. Und anderseits: eine solche
Zeitung würde die Allgemeinheit, ihre eigenen
Leser und die Presse im Reich weit besser
und wirksamer über das unterrichten können,
waS sich hier abspielt. Wir leben auf einem
äußerst gefährlichen Boden, und eS ereignet
sich auf deutscher, polnischer und Zentrums¬
seite so manches, was geeignet wäre, vor
einem größeren Kreise besprochen zu werden,
Dinge, deren wirklich großzügige Erörterung
in der Presse Nutzen stiften könnte. Die hiesige
Presse leistet daS nicht und kann es nicht leisten.
Dazu bewegen sich ihre politischen Erörterungen
ans, gelinde gesagt, allzu subalternen Boden.
All dem würde abgeholfen werden, wenn sich
jemand fände, der den Mut und daS Kapital
besäße und den Versuch wagte, diesen Zu¬
ständen ein Ende zu machen. Sollte eS nicht
möglich sein, in einem so volkreichen Gebiete,

[Spaltenumbruch]

mit seiner Unzahl von Beamten und Ange¬
hörigen der Technik und Industrie und des
Handels eine wirklich große Zeitung ins
Leben zu rufen und sie lebensfähig zu er¬
halten? Ein solches Blatt müßte, wenn es
Boden finden sollte, etwa auf linksnational-
liberalem Standpunkte stehen und politisch,
wissenschaftlich und belletristisch all das bringen,
was man von einer „großen" Zeitung verlangt.
Daß die antipolnischcn Bestrebungen einer
solchen Zeitung auch bei ihren weiter links
stehenden Lesern Anklang finden würden,
glaube ich annehmen zu dürfen. Wer tag¬
täglich gezwungen ist, gewisse Dinge nicht
theoretisch, sondern Praktisch zu betrachten,
gelangt eben zu ganz anderen Anschauungen
als der bloße Doktrinär. Ein solches Blatt
würde zugleich ein Lokalblatt für den ge¬
samten Jndustriebezirk sein, denn bei den
guten Verbindungen, der Unzahl von Eisen-
und elektrischen Bahnen, die dieses ganze Ge¬
biet durchziehen, bildet es tatsächlich nur eine
große Stadt von Gleiwitz bis Myslowitz.

Vielleicht noch wichtiger aber wäre folgen¬
des, und ich weiß mich anch damit in Über¬
einstimmung mit manchem Kenner der hiesigen
Verhältnisse! So merkwürdig und auf den
ersten Blick lächerlich es vielleicht klingen mag,
wir brauchen hier einen polnischen „Loknl-
anzeiger". Man mag über ein Blatt wie
den Berliner Lokalanzeiger und die ihm
nachgebildeten Lokalblätter anderer Städte
denken wie man will, eine Sache ist nicht
damit erledigt, daß man sie als schlecht nach¬
weist, es bleibt vielmehr immer noch zu
Prüfen, ob sie nicht von zwei Übeln das
kleinere ist. So liegt die Sache aber auch
hier. Eine wirklich gute ernsthafte Zeitung
ist eben für viele Leute nicht die geeignete
Kost. Ich bin überzeugt, daß sehr viele von
den Einwohnern Groß-Berlins den Vor¬
wärts lesen und damit der Sozialdemokratie
anheimfallen würden, wenn sie — oder ihre
besseren Hälften — nicht der ihnen vom
Lokalanzeigcr für billiges Geld gebotene Lese¬
stoff mehr reizte als die öden Schimpfereien
des Vorwärts. Ist das aber richtig, so dürfte
es auch ohne weiteres ans die hiesigen Ver¬
hältnisse entsprechend anwendbar sein. Die
Versetzung wird hier hauptsächlich durch die
polnischen Zeitungen ins Volk getragen. Die

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[0051] Maßgebliches und Unmaßgebliches Zentrum und den Polen schädlich ist, oder ob bei diesen Parteien noch andere Gesichts¬ punkte in Betracht kommen, mag dahingestellt bleiben. Nicht wegzuleugnen sind jedenfalls die Schäden, die für das Deutschtum aus dein Zustande seiner Presse entstehen. Man sehe sich einmal von diesem Gesichtspunkte aus eines der hiesigen „liberalen" Blätter an. Parteipolitisch stehen sie meist ziemlich links. Sie erfüllen die Aufgaben eines kleinen Lokalblattes im allgemeinen in leidlich zu¬ friedenstellender Weise, sind auch mit telegra¬ phischen Nachrichten usw. im allgemeinen recht gut bedient. Aber als Politische Blätter kommen sie überhaupt nicht in Betracht; sie sind ohne jeden politischen Einfluß. Die gebildeten deutschen Kreise lesen sie entweder überhaupt nicht, oder nur deshalb, um über die kleinen Ereignisse der Stadt und der unmittel- bnrenUmgebung auf dein laufenden zu, bleiben. Im übrigen aber liestman eine auswärtige, meist Berliner Zeitung, und soweit die in Betracht kommenden Kreise dem Freisinn zuneigen, und das ist Wohl zu einem recht großen Teil der Fall, bildet ihre Lieblingslektüre das Berliner Tageblatt, das wahrlich nicht zur Hebung des Deutschbewußtseius in seinen Losern dient. Wenn nun statt der vielen kleinen Zeitungen eine große bestünde, so würden ihr, wie man Wohl annehmen darf, all diese Kreise als Leser zufallen und dadurch ein ganz anderer Zug in das deutsche politische Leben kommen. Und anderseits: eine solche Zeitung würde die Allgemeinheit, ihre eigenen Leser und die Presse im Reich weit besser und wirksamer über das unterrichten können, waS sich hier abspielt. Wir leben auf einem äußerst gefährlichen Boden, und eS ereignet sich auf deutscher, polnischer und Zentrums¬ seite so manches, was geeignet wäre, vor einem größeren Kreise besprochen zu werden, Dinge, deren wirklich großzügige Erörterung in der Presse Nutzen stiften könnte. Die hiesige Presse leistet daS nicht und kann es nicht leisten. Dazu bewegen sich ihre politischen Erörterungen ans, gelinde gesagt, allzu subalternen Boden. All dem würde abgeholfen werden, wenn sich jemand fände, der den Mut und daS Kapital besäße und den Versuch wagte, diesen Zu¬ ständen ein Ende zu machen. Sollte eS nicht möglich sein, in einem so volkreichen Gebiete, mit seiner Unzahl von Beamten und Ange¬ hörigen der Technik und Industrie und des Handels eine wirklich große Zeitung ins Leben zu rufen und sie lebensfähig zu er¬ halten? Ein solches Blatt müßte, wenn es Boden finden sollte, etwa auf linksnational- liberalem Standpunkte stehen und politisch, wissenschaftlich und belletristisch all das bringen, was man von einer „großen" Zeitung verlangt. Daß die antipolnischcn Bestrebungen einer solchen Zeitung auch bei ihren weiter links stehenden Lesern Anklang finden würden, glaube ich annehmen zu dürfen. Wer tag¬ täglich gezwungen ist, gewisse Dinge nicht theoretisch, sondern Praktisch zu betrachten, gelangt eben zu ganz anderen Anschauungen als der bloße Doktrinär. Ein solches Blatt würde zugleich ein Lokalblatt für den ge¬ samten Jndustriebezirk sein, denn bei den guten Verbindungen, der Unzahl von Eisen- und elektrischen Bahnen, die dieses ganze Ge¬ biet durchziehen, bildet es tatsächlich nur eine große Stadt von Gleiwitz bis Myslowitz. Vielleicht noch wichtiger aber wäre folgen¬ des, und ich weiß mich anch damit in Über¬ einstimmung mit manchem Kenner der hiesigen Verhältnisse! So merkwürdig und auf den ersten Blick lächerlich es vielleicht klingen mag, wir brauchen hier einen polnischen „Loknl- anzeiger". Man mag über ein Blatt wie den Berliner Lokalanzeiger und die ihm nachgebildeten Lokalblätter anderer Städte denken wie man will, eine Sache ist nicht damit erledigt, daß man sie als schlecht nach¬ weist, es bleibt vielmehr immer noch zu Prüfen, ob sie nicht von zwei Übeln das kleinere ist. So liegt die Sache aber auch hier. Eine wirklich gute ernsthafte Zeitung ist eben für viele Leute nicht die geeignete Kost. Ich bin überzeugt, daß sehr viele von den Einwohnern Groß-Berlins den Vor¬ wärts lesen und damit der Sozialdemokratie anheimfallen würden, wenn sie — oder ihre besseren Hälften — nicht der ihnen vom Lokalanzeigcr für billiges Geld gebotene Lese¬ stoff mehr reizte als die öden Schimpfereien des Vorwärts. Ist das aber richtig, so dürfte es auch ohne weiteres ans die hiesigen Ver¬ hältnisse entsprechend anwendbar sein. Die Versetzung wird hier hauptsächlich durch die polnischen Zeitungen ins Volk getragen. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/51>, abgerufen am 16.01.2025.