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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Monate hinaus eine Beunruhigung und Bedrohung bilden, die bei der ohnehin
gespannten und unklaren wirtschaftlichen Lage einen starken Druck ausüben müssen.
Für die Börse ist diese Sachlage besonders bedenklich, weil das Publikum noch
mit Jndustriewerten zu exorbitant hohen Kursen überladen ist. Die börsenmäßigen
Engagements sind eingeschränkt worden, aber den Besitz von Kassawerten hat
das Publikum bisher nach Möglichkeit festgehalten. Es liegt also die Gefahr vor,
daß bei erneuter starker politischer Beunruhigung oder bei erheblicher Verteuerung
der Geldsätze ein empfindlicher Kurssturz auf dem Gebiet der Jndustriewerte erfolgt.
Daher handelt der weise, der bei der augenblicklichen kritischen Sachlage sich
zurückzieht und nicht dem Unwetter zu trotzen versucht. Sieht man aber von
den politischen Bedenken ab und rechnet mit einer günstigen Lösung der
Marokkofrage, so scheinen mir ausreichende Gründe für eine pessimistische
Beurteilung der Wirtschaftslage nicht vorhanden zu sein. Die Auffassung, daß
die seit etwa anderthalb Jahren herrschende "Hochkonjunktur" im Begriff stehe,
in ihr Gegenteil umzuschlagen, wird durch die Tatsachen nicht unterstützt. Freilich
trübt manches augenblicklich das Bild eines glänzenden Aufschwungs.

In Amerika machen sich Zeichen einer unverkennbaren wirtschaftlichen
Erschlaffung geltend, in Deutschland vermag der Absatz weder der gesteigerten
Kohlenförderung noch der Roheisenproduktion zu folgen, die Frage der Erneuerung
der Verbände rückt nicht von der Stelle, und die schier unüberwindlichen
Schwierigkeiten bei der Zusammenschweißung des Roheisensyndikats zeigen, wie
groß die Hemmnisse sind, die sich einer umfassenden Verständigung entgegen¬
stellen. Endlich wird die Lebensmittelteuerung, die Futternot, das Brachliegen
der Schiffahrt zu einer Stockung in den Absatzverhältnissen, zu gesteigerter
Kreditinanspruchnahme und damit zu teuren Geldsätzen führen. Ungünstige
Momente genug, in der Tat! Aber auf der anderen Seite fehlen doch alle
die charakteristischen Anzeichen, welche dem Kundigen andeuten, daß das Wirt¬
schaftsleben seinen Höhepunkt überschritten hat, daß eine Überanspannung der
Kräfte vorliegt, die in einer Krisis ihre Auslösung suchen muß. Das sicherste
und untrüglichste Zeichen für eine solche Verfassung des Wirtschaftskörpcrs ist
zu allen Zeiten die Lage des Geldmarktes. Industrielle Überproduktion und
Überanspannung sind nicht denkbar ohne erhebliches Wachstum der Kredite,
ohne Erschöpfung der flüssigen Mittel, ohne starke und bedrohliche Verteuerung
der Geldsätze. Nun ist zwar unsere Produktion in den letzten Jahren derart
gewachsen, daß sie die Periode der letzten Hochkonjunktur ziffernmäßig nicht nur
erreicht, sondern schon geschlagen hat. Aber unser Geldmarkt hat eine ganz
andere Verfassung als in den Jahren 1906 und 1907. Nicht das geringste
Zeichen einer Überhitzung ist an diesem untrüglichen Manometer abzulesenI
Wir haben einen Neichsbankdiskont von 4 Prozent; die Ultimogeldsätze des
letzten Monats beliefen sich gar nur auf 3°/g Prozent, die Devisenkurse stehen
günstig und die Neichsbcmk ist im Besitz eines Barvorrates, wie sie ihn Zeit
ihres Bestehens noch nicht aufweisen konnte. Spricht das für eine Über-


Reichsspiegel

Monate hinaus eine Beunruhigung und Bedrohung bilden, die bei der ohnehin
gespannten und unklaren wirtschaftlichen Lage einen starken Druck ausüben müssen.
Für die Börse ist diese Sachlage besonders bedenklich, weil das Publikum noch
mit Jndustriewerten zu exorbitant hohen Kursen überladen ist. Die börsenmäßigen
Engagements sind eingeschränkt worden, aber den Besitz von Kassawerten hat
das Publikum bisher nach Möglichkeit festgehalten. Es liegt also die Gefahr vor,
daß bei erneuter starker politischer Beunruhigung oder bei erheblicher Verteuerung
der Geldsätze ein empfindlicher Kurssturz auf dem Gebiet der Jndustriewerte erfolgt.
Daher handelt der weise, der bei der augenblicklichen kritischen Sachlage sich
zurückzieht und nicht dem Unwetter zu trotzen versucht. Sieht man aber von
den politischen Bedenken ab und rechnet mit einer günstigen Lösung der
Marokkofrage, so scheinen mir ausreichende Gründe für eine pessimistische
Beurteilung der Wirtschaftslage nicht vorhanden zu sein. Die Auffassung, daß
die seit etwa anderthalb Jahren herrschende „Hochkonjunktur" im Begriff stehe,
in ihr Gegenteil umzuschlagen, wird durch die Tatsachen nicht unterstützt. Freilich
trübt manches augenblicklich das Bild eines glänzenden Aufschwungs.

In Amerika machen sich Zeichen einer unverkennbaren wirtschaftlichen
Erschlaffung geltend, in Deutschland vermag der Absatz weder der gesteigerten
Kohlenförderung noch der Roheisenproduktion zu folgen, die Frage der Erneuerung
der Verbände rückt nicht von der Stelle, und die schier unüberwindlichen
Schwierigkeiten bei der Zusammenschweißung des Roheisensyndikats zeigen, wie
groß die Hemmnisse sind, die sich einer umfassenden Verständigung entgegen¬
stellen. Endlich wird die Lebensmittelteuerung, die Futternot, das Brachliegen
der Schiffahrt zu einer Stockung in den Absatzverhältnissen, zu gesteigerter
Kreditinanspruchnahme und damit zu teuren Geldsätzen führen. Ungünstige
Momente genug, in der Tat! Aber auf der anderen Seite fehlen doch alle
die charakteristischen Anzeichen, welche dem Kundigen andeuten, daß das Wirt¬
schaftsleben seinen Höhepunkt überschritten hat, daß eine Überanspannung der
Kräfte vorliegt, die in einer Krisis ihre Auslösung suchen muß. Das sicherste
und untrüglichste Zeichen für eine solche Verfassung des Wirtschaftskörpcrs ist
zu allen Zeiten die Lage des Geldmarktes. Industrielle Überproduktion und
Überanspannung sind nicht denkbar ohne erhebliches Wachstum der Kredite,
ohne Erschöpfung der flüssigen Mittel, ohne starke und bedrohliche Verteuerung
der Geldsätze. Nun ist zwar unsere Produktion in den letzten Jahren derart
gewachsen, daß sie die Periode der letzten Hochkonjunktur ziffernmäßig nicht nur
erreicht, sondern schon geschlagen hat. Aber unser Geldmarkt hat eine ganz
andere Verfassung als in den Jahren 1906 und 1907. Nicht das geringste
Zeichen einer Überhitzung ist an diesem untrüglichen Manometer abzulesenI
Wir haben einen Neichsbankdiskont von 4 Prozent; die Ultimogeldsätze des
letzten Monats beliefen sich gar nur auf 3°/g Prozent, die Devisenkurse stehen
günstig und die Neichsbcmk ist im Besitz eines Barvorrates, wie sie ihn Zeit
ihres Bestehens noch nicht aufweisen konnte. Spricht das für eine Über-


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[0494] Reichsspiegel Monate hinaus eine Beunruhigung und Bedrohung bilden, die bei der ohnehin gespannten und unklaren wirtschaftlichen Lage einen starken Druck ausüben müssen. Für die Börse ist diese Sachlage besonders bedenklich, weil das Publikum noch mit Jndustriewerten zu exorbitant hohen Kursen überladen ist. Die börsenmäßigen Engagements sind eingeschränkt worden, aber den Besitz von Kassawerten hat das Publikum bisher nach Möglichkeit festgehalten. Es liegt also die Gefahr vor, daß bei erneuter starker politischer Beunruhigung oder bei erheblicher Verteuerung der Geldsätze ein empfindlicher Kurssturz auf dem Gebiet der Jndustriewerte erfolgt. Daher handelt der weise, der bei der augenblicklichen kritischen Sachlage sich zurückzieht und nicht dem Unwetter zu trotzen versucht. Sieht man aber von den politischen Bedenken ab und rechnet mit einer günstigen Lösung der Marokkofrage, so scheinen mir ausreichende Gründe für eine pessimistische Beurteilung der Wirtschaftslage nicht vorhanden zu sein. Die Auffassung, daß die seit etwa anderthalb Jahren herrschende „Hochkonjunktur" im Begriff stehe, in ihr Gegenteil umzuschlagen, wird durch die Tatsachen nicht unterstützt. Freilich trübt manches augenblicklich das Bild eines glänzenden Aufschwungs. In Amerika machen sich Zeichen einer unverkennbaren wirtschaftlichen Erschlaffung geltend, in Deutschland vermag der Absatz weder der gesteigerten Kohlenförderung noch der Roheisenproduktion zu folgen, die Frage der Erneuerung der Verbände rückt nicht von der Stelle, und die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Zusammenschweißung des Roheisensyndikats zeigen, wie groß die Hemmnisse sind, die sich einer umfassenden Verständigung entgegen¬ stellen. Endlich wird die Lebensmittelteuerung, die Futternot, das Brachliegen der Schiffahrt zu einer Stockung in den Absatzverhältnissen, zu gesteigerter Kreditinanspruchnahme und damit zu teuren Geldsätzen führen. Ungünstige Momente genug, in der Tat! Aber auf der anderen Seite fehlen doch alle die charakteristischen Anzeichen, welche dem Kundigen andeuten, daß das Wirt¬ schaftsleben seinen Höhepunkt überschritten hat, daß eine Überanspannung der Kräfte vorliegt, die in einer Krisis ihre Auslösung suchen muß. Das sicherste und untrüglichste Zeichen für eine solche Verfassung des Wirtschaftskörpcrs ist zu allen Zeiten die Lage des Geldmarktes. Industrielle Überproduktion und Überanspannung sind nicht denkbar ohne erhebliches Wachstum der Kredite, ohne Erschöpfung der flüssigen Mittel, ohne starke und bedrohliche Verteuerung der Geldsätze. Nun ist zwar unsere Produktion in den letzten Jahren derart gewachsen, daß sie die Periode der letzten Hochkonjunktur ziffernmäßig nicht nur erreicht, sondern schon geschlagen hat. Aber unser Geldmarkt hat eine ganz andere Verfassung als in den Jahren 1906 und 1907. Nicht das geringste Zeichen einer Überhitzung ist an diesem untrüglichen Manometer abzulesenI Wir haben einen Neichsbankdiskont von 4 Prozent; die Ultimogeldsätze des letzten Monats beliefen sich gar nur auf 3°/g Prozent, die Devisenkurse stehen günstig und die Neichsbcmk ist im Besitz eines Barvorrates, wie sie ihn Zeit ihres Bestehens noch nicht aufweisen konnte. Spricht das für eine Über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/494>, abgerufen am 04.01.2025.