Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] verstehen, es ist mit den schlichtesten Mitteln, Rußland in der Auffassung des russischen Hier und da hatten sich Gutshöfe und Dörfer Wo gibt es ein Versteck in den Feldern? -- Vögel -- fröhliche Waldglöcklcin, gibt es Es trauert das Frühlingsmorgenrot, es Die Frühlingstage der Felder sind Tage Dort, wo im Sommer unter der stillen "Vergebens!" Es schlafen die Horizonte, die unbarm¬ Und wenn man die Felder schert wieSchafe, Welch eine ungeheuerliche Anspannung, Meine Felder! Seht, ich stehe allein in Meine Kindheit, meine Liebe, mein Glaube! Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] verstehen, es ist mit den schlichtesten Mitteln, Rußland in der Auffassung des russischen Hier und da hatten sich Gutshöfe und Dörfer Wo gibt es ein Versteck in den Feldern? — Vögel — fröhliche Waldglöcklcin, gibt es Es trauert das Frühlingsmorgenrot, es Die Frühlingstage der Felder sind Tage Dort, wo im Sommer unter der stillen „Vergebens!" Es schlafen die Horizonte, die unbarm¬ Und wenn man die Felder schert wieSchafe, Welch eine ungeheuerliche Anspannung, Meine Felder! Seht, ich stehe allein in Meine Kindheit, meine Liebe, mein Glaube! <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0485" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319432"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_2290" prev="#ID_2289"> verstehen, es ist mit den schlichtesten Mitteln,<lb/> schmucklos, ohne alle Tendenz geschrieben, aber<lb/> doch empfindet den Reiz der bescheidenen Ein¬<lb/> fachheit nur ein feiner Sinn. Alle geht es<lb/> in, die einen Einblick in dies häusliche Leben<lb/> unserer Väter lieben und aus der Schlichtheit<lb/> derselben lernen wollen, daß auch unsere Zu¬<lb/> friedenheit, unsere Freude und unser Lebens-<lb/> glück dort erblüht, wo diese Bedingung<lb/> erfüllt ist und damit das Erbe der Väter<lb/> erhoffen läßt.</p> <note type="byline"> Heinrich Reuß </note> <p xml:id="ID_2291"> Rußland in der Auffassung des russischen<lb/> Dichters. Über den von langen Wegen, Tälern<lb/> und schmalen Schluchten umgürteten Feldern,<lb/> die sich hinter den Horizont verkrochen, hing<lb/> unsichtbar und unhörbar, aber fest und schwer<lb/> das Ungeborene. Die Erde wollte etwas ge¬<lb/> bären —, was? — weder Wälder, noch Berge,<lb/> noch Wolken —, die Erde wollte etwas ge¬<lb/> bären.</p> <p xml:id="ID_2292"> Hier und da hatten sich Gutshöfe und Dörfer<lb/> weit über das leere Gelände zerstreut und an<lb/> sie geschmiegt, schüchtern steckten Kirchen ihre<lb/> vergoldeten Häupter empor; der Wind trug<lb/> von irgendwoher Lieder herüber und streute sie<lb/> um sich, Lieder, trostlos, wie der Wind, breit<lb/> wie die Felder. Taumelnd ging es weiter,<lb/> dies nackte von allem entblößte Leben, von<lb/> Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr<lb/> zu Jahr, — immer das gleiche.</p> <p xml:id="ID_2293"> Wo gibt es ein Versteck in den Feldern? —<lb/> Überall wird man gesehen. Die Felder haben<lb/> füralleseine einzigeSeele zusammengeschweißt,<lb/> und sie hat sich durch alles hindurchgewunden;<lb/> alles hat eine Seele: das Sommergetreide,<lb/> das Wintergetreide, die Bräche, der Gctrcide-<lb/> käfer, die Dürre, der Hagel, das Weib, das<lb/> Pferd, die Feiertage und Fasten, die Dorf¬<lb/> gemeinde, das Jenseits und über alledem der<lb/> ordnende, schwielige, unermüdliche Gottarveiter<lb/> im Himmel.</p> <p xml:id="ID_2294"> Vögel — fröhliche Waldglöcklcin, gibt es<lb/> auf den Feldern nicht. Raben, Dohlen, Saat¬<lb/> krähen, Bussarde, Kiebitze und Ammern sind<lb/> keine fröhlichen Vögel. Selbst die Zieselmaus<lb/> im Felde pfeift traurig.</p> <p xml:id="ID_2295"> Es trauert das Frühlingsmorgenrot, es<lb/> trauern die Wiesen, es trauert das schwellende<lb/> Korn.</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_2296"> Die Frühlingstage der Felder sind Tage<lb/> erschlaffend wilder grüner Hoffnungen. Der<lb/> Glaube ist fast geschwunden, tausendfach be¬<lb/> trogen und verlacht, glimmt er noch kaum,<lb/> aber auch er ist bereit, sich von zärtlicher Liebe<lb/> zur lodernden Flamme entfachen zu lassen.<lb/> Von der Kraft des warmen Regens getränkt,<lb/> bläht sich jede eckige Scholle der Schwarzerde.<lb/> Um die Wette recken sich eilig und lachend die<lb/> dünnen Röhrchen der Grashalme, lassen aus<lb/> ihrem Dickicht Lerchen zum Himmel aufsteigen;<lb/> trinken den nächtlichen Tau und strecken sich<lb/> immer höher, immer höher bis an den Bauch<lb/> der niedrigen braunen Bauernmähre und noch<lb/> höher, immer höher hinauf. Bis sie Plötzlich<lb/> Halt machen, sich umsehen und erschreckt eilig<lb/> abblühen, gelb werden, zu welken beginnen.</p> <p xml:id="ID_2297"> Dort, wo im Sommer unter der stillen<lb/> Sonne das von Menschenhand Gesäte goldig<lb/> reift, dicht und schwer die Ähren sich wiegen,<lb/> stehen erntefroh die Tennen, klagen sehnsuchts¬<lb/> voll die Felder um das Ungeborene. Höre<lb/> nur, — sie klagen es den fernen Horizonten:</p> <p xml:id="ID_2298"> „Vergebens!"</p> <p xml:id="ID_2299"> Es schlafen die Horizonte, die unbarm¬<lb/> herzig genau gezirkelten Kreise. Irgendeine<lb/> dunkle Macht hat sie einst vor undenklichen<lb/> Zeiten gezogen: wer wird den Zauber lösen?</p> <p xml:id="ID_2300"> Und wenn man die Felder schert wieSchafe,<lb/> deren Vlies sich wellt, sind sie mit einem Male<lb/> leer, elend, erniedrigt und überflüssig, und sie<lb/> bitten die Herbstwolken, wie um ein Almosen,<lb/> daß sie sie von Kopf bis zu Fuß in Schnee<lb/> einhüllen möge, damit sie den Himmel nicht<lb/> sehen, der über sie lacht.</p> <p xml:id="ID_2301"> Welch eine ungeheuerliche Anspannung,<lb/> welche unerhörte Kraft hat die Erde auf¬<lb/> geboten, um aus sich etwas Großes unter die<lb/> Liebkosung der Sonne zu bringen, — und<lb/> sie hat doch nichts hervorgebracht!</p> <p xml:id="ID_2302"> Meine Felder! Seht, ich stehe allein in<lb/> eurer Mitte mit entblößtem Scheitel. Ich<lb/> rufe euch, hört ihr's? Der Wind zaust mein<lb/> Haar, — ist das euer Atem? Grau, glatt,<lb/> Weit und breit übersehbar, voll Trauer über<lb/> eine unheilvolle Zeit, berge ihr das Geheimnis<lb/> Gottes, — ich stehe unter euch verloren und<lb/> allem.</p> <p xml:id="ID_2303" next="#ID_2304"> Meine Kindheit, meine Liebe, mein Glaube!<lb/> Ich lasse meinen Blick über euch schweifen von<lb/> Osten nach Westen und Tränen umnebeln</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0485]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
verstehen, es ist mit den schlichtesten Mitteln,
schmucklos, ohne alle Tendenz geschrieben, aber
doch empfindet den Reiz der bescheidenen Ein¬
fachheit nur ein feiner Sinn. Alle geht es
in, die einen Einblick in dies häusliche Leben
unserer Väter lieben und aus der Schlichtheit
derselben lernen wollen, daß auch unsere Zu¬
friedenheit, unsere Freude und unser Lebens-
glück dort erblüht, wo diese Bedingung
erfüllt ist und damit das Erbe der Väter
erhoffen läßt.
Heinrich Reuß Rußland in der Auffassung des russischen
Dichters. Über den von langen Wegen, Tälern
und schmalen Schluchten umgürteten Feldern,
die sich hinter den Horizont verkrochen, hing
unsichtbar und unhörbar, aber fest und schwer
das Ungeborene. Die Erde wollte etwas ge¬
bären —, was? — weder Wälder, noch Berge,
noch Wolken —, die Erde wollte etwas ge¬
bären.
Hier und da hatten sich Gutshöfe und Dörfer
weit über das leere Gelände zerstreut und an
sie geschmiegt, schüchtern steckten Kirchen ihre
vergoldeten Häupter empor; der Wind trug
von irgendwoher Lieder herüber und streute sie
um sich, Lieder, trostlos, wie der Wind, breit
wie die Felder. Taumelnd ging es weiter,
dies nackte von allem entblößte Leben, von
Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr
zu Jahr, — immer das gleiche.
Wo gibt es ein Versteck in den Feldern? —
Überall wird man gesehen. Die Felder haben
füralleseine einzigeSeele zusammengeschweißt,
und sie hat sich durch alles hindurchgewunden;
alles hat eine Seele: das Sommergetreide,
das Wintergetreide, die Bräche, der Gctrcide-
käfer, die Dürre, der Hagel, das Weib, das
Pferd, die Feiertage und Fasten, die Dorf¬
gemeinde, das Jenseits und über alledem der
ordnende, schwielige, unermüdliche Gottarveiter
im Himmel.
Vögel — fröhliche Waldglöcklcin, gibt es
auf den Feldern nicht. Raben, Dohlen, Saat¬
krähen, Bussarde, Kiebitze und Ammern sind
keine fröhlichen Vögel. Selbst die Zieselmaus
im Felde pfeift traurig.
Es trauert das Frühlingsmorgenrot, es
trauern die Wiesen, es trauert das schwellende
Korn.
Die Frühlingstage der Felder sind Tage
erschlaffend wilder grüner Hoffnungen. Der
Glaube ist fast geschwunden, tausendfach be¬
trogen und verlacht, glimmt er noch kaum,
aber auch er ist bereit, sich von zärtlicher Liebe
zur lodernden Flamme entfachen zu lassen.
Von der Kraft des warmen Regens getränkt,
bläht sich jede eckige Scholle der Schwarzerde.
Um die Wette recken sich eilig und lachend die
dünnen Röhrchen der Grashalme, lassen aus
ihrem Dickicht Lerchen zum Himmel aufsteigen;
trinken den nächtlichen Tau und strecken sich
immer höher, immer höher bis an den Bauch
der niedrigen braunen Bauernmähre und noch
höher, immer höher hinauf. Bis sie Plötzlich
Halt machen, sich umsehen und erschreckt eilig
abblühen, gelb werden, zu welken beginnen.
Dort, wo im Sommer unter der stillen
Sonne das von Menschenhand Gesäte goldig
reift, dicht und schwer die Ähren sich wiegen,
stehen erntefroh die Tennen, klagen sehnsuchts¬
voll die Felder um das Ungeborene. Höre
nur, — sie klagen es den fernen Horizonten:
„Vergebens!"
Es schlafen die Horizonte, die unbarm¬
herzig genau gezirkelten Kreise. Irgendeine
dunkle Macht hat sie einst vor undenklichen
Zeiten gezogen: wer wird den Zauber lösen?
Und wenn man die Felder schert wieSchafe,
deren Vlies sich wellt, sind sie mit einem Male
leer, elend, erniedrigt und überflüssig, und sie
bitten die Herbstwolken, wie um ein Almosen,
daß sie sie von Kopf bis zu Fuß in Schnee
einhüllen möge, damit sie den Himmel nicht
sehen, der über sie lacht.
Welch eine ungeheuerliche Anspannung,
welche unerhörte Kraft hat die Erde auf¬
geboten, um aus sich etwas Großes unter die
Liebkosung der Sonne zu bringen, — und
sie hat doch nichts hervorgebracht!
Meine Felder! Seht, ich stehe allein in
eurer Mitte mit entblößtem Scheitel. Ich
rufe euch, hört ihr's? Der Wind zaust mein
Haar, — ist das euer Atem? Grau, glatt,
Weit und breit übersehbar, voll Trauer über
eine unheilvolle Zeit, berge ihr das Geheimnis
Gottes, — ich stehe unter euch verloren und
allem.
Meine Kindheit, meine Liebe, mein Glaube!
Ich lasse meinen Blick über euch schweifen von
Osten nach Westen und Tränen umnebeln
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