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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Englische Politik

der in England selber rege ist, die große Bedeutung ethischer und religiöser
Ideale, die neben der konservativen, der imperialistischen Strömung und ihrer
Machttendenz herlaufen und deren bestem Inhalte nicht einmal zu widersprechen
brauchen. Unzweifelhaft ist dieser grundsätzlich humanitäre Gedankenstrom in
England stark, wie denn seit den Tagen der Puritaner neben allem harten
Realismus ein Zug zum Grundsätzlichen dieses Volksleben immer erfüllt hat:
in einer oft sonderbaren Mischung, deren Aufrichtigkeit dem Ausländer nicht
immer einleuchtet und dennoch besteht. Wird sich der Entschluß zum rücksichts¬
losen Vernichtungskrieg aus Gründen der Konkurrenz und etwa der Angst gegen
diese Gefühle der Menschlichkeit und des Gewissens durchsetzen? Und ander¬
seits, würde der Krieg sich lohnen? Man darf bezweifeln, ob ein Niedergang
Deutschlands politisch für England ein Bedürfnis ist und ein Heil wäre; aber
wenn England selbst -- was eine Sache für sich bleibt -- wünschenswert
fände, Deutschland zu verwunden: überwöge nicht dennoch die Last der unver¬
meidlichen Opfer, die Störung aller wirtschaftlichen Beziehungen, der riesen¬
großen Beziehungen gerade auch zu Deutschland selber in Ausfuhr und Einfuhr,
überwöge nicht gerade der wirtschaftliche Schaden selbst eines Sieges den wirt¬
schaftlichen Nutzen, den man von ihm erhofft? Alle diese Fragen sind auch
in England oft aufgeworfen und beantwortet worden, und ihre innerliche
Bedeutsamkeit unterschätzt man auch drüben nicht. Ob solche Erwägungen in
ernster Stunde überwiegen würden, vermag der Ausländer freilich am wenigsten
zu entscheiden."

Angesichts der säkularen Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der englischen
Auslandspolitik läge die Versuchung nahe genug, die Notwendigkeit eines künf¬
tigen Krieges auszurechnen. Aber selbst wenn wir von den eben dagegen an¬
geführten Gründen vollkommen absehen, wird man sich doch hüten, den un¬
berechenbar lebendigen Kräften der Gegenwart Gewalt anzutun und der Ge¬
schichte dogmatische Schlußfolgerungen abzupressen. Ihre Warnung vor der
Möglichkeit, vor der Gefahr an sich und die Mahnung, ihr gerüstet ins Auge
zu sehen, darf niemand auf die leichte Schulter nehmen. Und auch das Eine
tut dem deutschen Volke bitter not: zu lernen von dieser Kraft der einheitlichen
Überlieferung, zu lernen von dem tiefen allgemeinen Staats- und Machtbewußt¬
sein, das die englischen Geschlechter der Vergangenheit und Gegenwart verbindet.




Englische Politik

der in England selber rege ist, die große Bedeutung ethischer und religiöser
Ideale, die neben der konservativen, der imperialistischen Strömung und ihrer
Machttendenz herlaufen und deren bestem Inhalte nicht einmal zu widersprechen
brauchen. Unzweifelhaft ist dieser grundsätzlich humanitäre Gedankenstrom in
England stark, wie denn seit den Tagen der Puritaner neben allem harten
Realismus ein Zug zum Grundsätzlichen dieses Volksleben immer erfüllt hat:
in einer oft sonderbaren Mischung, deren Aufrichtigkeit dem Ausländer nicht
immer einleuchtet und dennoch besteht. Wird sich der Entschluß zum rücksichts¬
losen Vernichtungskrieg aus Gründen der Konkurrenz und etwa der Angst gegen
diese Gefühle der Menschlichkeit und des Gewissens durchsetzen? Und ander¬
seits, würde der Krieg sich lohnen? Man darf bezweifeln, ob ein Niedergang
Deutschlands politisch für England ein Bedürfnis ist und ein Heil wäre; aber
wenn England selbst — was eine Sache für sich bleibt — wünschenswert
fände, Deutschland zu verwunden: überwöge nicht dennoch die Last der unver¬
meidlichen Opfer, die Störung aller wirtschaftlichen Beziehungen, der riesen¬
großen Beziehungen gerade auch zu Deutschland selber in Ausfuhr und Einfuhr,
überwöge nicht gerade der wirtschaftliche Schaden selbst eines Sieges den wirt¬
schaftlichen Nutzen, den man von ihm erhofft? Alle diese Fragen sind auch
in England oft aufgeworfen und beantwortet worden, und ihre innerliche
Bedeutsamkeit unterschätzt man auch drüben nicht. Ob solche Erwägungen in
ernster Stunde überwiegen würden, vermag der Ausländer freilich am wenigsten
zu entscheiden."

Angesichts der säkularen Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der englischen
Auslandspolitik läge die Versuchung nahe genug, die Notwendigkeit eines künf¬
tigen Krieges auszurechnen. Aber selbst wenn wir von den eben dagegen an¬
geführten Gründen vollkommen absehen, wird man sich doch hüten, den un¬
berechenbar lebendigen Kräften der Gegenwart Gewalt anzutun und der Ge¬
schichte dogmatische Schlußfolgerungen abzupressen. Ihre Warnung vor der
Möglichkeit, vor der Gefahr an sich und die Mahnung, ihr gerüstet ins Auge
zu sehen, darf niemand auf die leichte Schulter nehmen. Und auch das Eine
tut dem deutschen Volke bitter not: zu lernen von dieser Kraft der einheitlichen
Überlieferung, zu lernen von dem tiefen allgemeinen Staats- und Machtbewußt¬
sein, das die englischen Geschlechter der Vergangenheit und Gegenwart verbindet.




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[0452] Englische Politik der in England selber rege ist, die große Bedeutung ethischer und religiöser Ideale, die neben der konservativen, der imperialistischen Strömung und ihrer Machttendenz herlaufen und deren bestem Inhalte nicht einmal zu widersprechen brauchen. Unzweifelhaft ist dieser grundsätzlich humanitäre Gedankenstrom in England stark, wie denn seit den Tagen der Puritaner neben allem harten Realismus ein Zug zum Grundsätzlichen dieses Volksleben immer erfüllt hat: in einer oft sonderbaren Mischung, deren Aufrichtigkeit dem Ausländer nicht immer einleuchtet und dennoch besteht. Wird sich der Entschluß zum rücksichts¬ losen Vernichtungskrieg aus Gründen der Konkurrenz und etwa der Angst gegen diese Gefühle der Menschlichkeit und des Gewissens durchsetzen? Und ander¬ seits, würde der Krieg sich lohnen? Man darf bezweifeln, ob ein Niedergang Deutschlands politisch für England ein Bedürfnis ist und ein Heil wäre; aber wenn England selbst — was eine Sache für sich bleibt — wünschenswert fände, Deutschland zu verwunden: überwöge nicht dennoch die Last der unver¬ meidlichen Opfer, die Störung aller wirtschaftlichen Beziehungen, der riesen¬ großen Beziehungen gerade auch zu Deutschland selber in Ausfuhr und Einfuhr, überwöge nicht gerade der wirtschaftliche Schaden selbst eines Sieges den wirt¬ schaftlichen Nutzen, den man von ihm erhofft? Alle diese Fragen sind auch in England oft aufgeworfen und beantwortet worden, und ihre innerliche Bedeutsamkeit unterschätzt man auch drüben nicht. Ob solche Erwägungen in ernster Stunde überwiegen würden, vermag der Ausländer freilich am wenigsten zu entscheiden." Angesichts der säkularen Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der englischen Auslandspolitik läge die Versuchung nahe genug, die Notwendigkeit eines künf¬ tigen Krieges auszurechnen. Aber selbst wenn wir von den eben dagegen an¬ geführten Gründen vollkommen absehen, wird man sich doch hüten, den un¬ berechenbar lebendigen Kräften der Gegenwart Gewalt anzutun und der Ge¬ schichte dogmatische Schlußfolgerungen abzupressen. Ihre Warnung vor der Möglichkeit, vor der Gefahr an sich und die Mahnung, ihr gerüstet ins Auge zu sehen, darf niemand auf die leichte Schulter nehmen. Und auch das Eine tut dem deutschen Volke bitter not: zu lernen von dieser Kraft der einheitlichen Überlieferung, zu lernen von dem tiefen allgemeinen Staats- und Machtbewußt¬ sein, das die englischen Geschlechter der Vergangenheit und Gegenwart verbindet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/452>, abgerufen am 29.12.2024.