Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel logischer Notwendigkeit das Werkzeug zum Selbstzweck werden und die große Idee Der günstige Augenblick, der Frankreich auf Jahrzehnte auf die deutsche Seite Durch das Auftreten Cartwrights in Wien ist die Marokkoangelegenheit Die Marokkofrage war vom Tage ihres Erscheinens an für Reichsspiegel logischer Notwendigkeit das Werkzeug zum Selbstzweck werden und die große Idee Der günstige Augenblick, der Frankreich auf Jahrzehnte auf die deutsche Seite Durch das Auftreten Cartwrights in Wien ist die Marokkoangelegenheit Die Marokkofrage war vom Tage ihres Erscheinens an für <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0440" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319387"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2109" prev="#ID_2108"> logischer Notwendigkeit das Werkzeug zum Selbstzweck werden und die große Idee<lb/> zurücktreten, derenwegen die beiden Schulen geschaffen waren. Als dann im<lb/> Jahre 1898 der Major Marchand Frankreich nach Faschoda geführt hatte, war<lb/> in Deutschland vergessen worden, daß Bismarck nicht deshalb gegen Frankreich<lb/> rüstete um es im geeigneten Augenblick zu überfallen und zu demütigen, sondern<lb/> um es von einem Angriff auf Deutschland abzuhalten. Der endgiltige Friede<lb/> zwischen den beiden Nationen sollte auf Grund gegenseitiger Hochachtung möglich<lb/> werden. Deutschland überließ die Franzosen bei Faschoda ihrem Schicksal. Neben<lb/> romantischen Anschauungen, die in der Stammesverwandtschaft zwischen Briten<lb/> und Deutschen ihren Ausgang fanden, spielten höfische Rücksichten mit; aber auch<lb/> reale, wirtschaftliche Erwägungen spielten mit. Frankreichs Art zu kolonisieren<lb/> und die kolonisierten Gebiete gegen jeden nicht französischen Handel abzuschließen<lb/> ermunterte nicht zur Unterstützung gegen die Engländer, die im allgemeinen die<lb/> ihnen angeschlossenen Gebiete liberal dem Welthandel öffneten. So wurde<lb/> Faschoda eine Schlappe für die Franzosen, — wie heute feststeht,<lb/> eine sehr schnell überwundene Schlappe. Frankreich und England kommen zu<lb/> Verträgen, durch die sie sich Afrika teilen und England konnte sogar, von<lb/> Frankreich unbehelligt, die BurenrepubMen niederringen, während Frankreich in<lb/> Marokko die „Tunisterung" vorzubereiten vermochte.</p><lb/> <p xml:id="ID_2110"> Der günstige Augenblick, der Frankreich auf Jahrzehnte auf die deutsche Seite<lb/> gegen England bringen konnte, ist unwiederbringlich vorbeigeeilt, und Deutschland<lb/> wird durch Herrn Cartwright unliebsam an eine Rede erinnert, die am 7. De¬<lb/> zember 1898 Herr Monson als englischer Botschafter in Paris gehalten hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_2111"> Durch das Auftreten Cartwrights in Wien ist die Marokkoangelegenheit<lb/> plötzlich in ein ganz neues und gefährliches Stadium getreten. War sie am<lb/> 24. August noch eine wirtschaftliche Frage, ein Rechenexempel, so ist sie heute<lb/> eine Ehrensache des deutschen Volkes. Das unglaublicher Weise durch eine deutsche<lb/> Korrespondenz, die Anspruch erhebt ernst genommen zu werden, provozierte<lb/> Dementi ändert an der Tatsache nichts. Nur eine bündige Erklärung, daß der<lb/> Herr Botschafter überhaupt nichts — weder direkt noch indirekt — mit dem<lb/> Artikel zu tun habe, könnte uns überzeugen. Im übrigen ist es gleichgültig, was<lb/> jetzt noch wegen des Artikels vorgebracht wird: er hat, wie die französische Presse<lb/> zeigt, die gewollte Wirkung gehabt, indem er es den Franzosen noch mehr wie<lb/> bisher erschwert sachlich zu verhandeln. Und darin liegt die Gefahr, die Herrn<lb/> von Kiderlens freimütig-entgegenkommende und doch bestimmte Art zu verhandeln<lb/> bisher gebannt hatte. Die Verhandlungen zwischen Herrn v. Kiderlen und<lb/> Herrn Cambon werden voraussichtlich nicht vor Ende dieser Woche wieder<lb/> aufgenommen werden. Es ist darum gut, einmal noch in aller Ruhe darzu¬<lb/> legen, was eigentlich Reales in der Marokkofrage steckt und wo das Beiwerk<lb/> anfängt-, dann wird es auch möglich sein festzustellen, wo die Kriegsgefahr<lb/> herkommt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2112" next="#ID_2113"> Die Marokkofrage war vom Tage ihres Erscheinens an für<lb/> Deutschland eine rein wirtschaftliche Frage, und unsere Diplomatie hat<lb/> sie niemals anders behandelt als im Rahmen des Prinzips der offenen Tür, das<lb/> sie in allen Landen zur Geltung zu bringen strebt. Dieser Gedanke bildet die<lb/> Grundlage des Abkommens vom 3. Juli 1880, das noch Bismarck abgeschlossen,</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0440]
Reichsspiegel
logischer Notwendigkeit das Werkzeug zum Selbstzweck werden und die große Idee
zurücktreten, derenwegen die beiden Schulen geschaffen waren. Als dann im
Jahre 1898 der Major Marchand Frankreich nach Faschoda geführt hatte, war
in Deutschland vergessen worden, daß Bismarck nicht deshalb gegen Frankreich
rüstete um es im geeigneten Augenblick zu überfallen und zu demütigen, sondern
um es von einem Angriff auf Deutschland abzuhalten. Der endgiltige Friede
zwischen den beiden Nationen sollte auf Grund gegenseitiger Hochachtung möglich
werden. Deutschland überließ die Franzosen bei Faschoda ihrem Schicksal. Neben
romantischen Anschauungen, die in der Stammesverwandtschaft zwischen Briten
und Deutschen ihren Ausgang fanden, spielten höfische Rücksichten mit; aber auch
reale, wirtschaftliche Erwägungen spielten mit. Frankreichs Art zu kolonisieren
und die kolonisierten Gebiete gegen jeden nicht französischen Handel abzuschließen
ermunterte nicht zur Unterstützung gegen die Engländer, die im allgemeinen die
ihnen angeschlossenen Gebiete liberal dem Welthandel öffneten. So wurde
Faschoda eine Schlappe für die Franzosen, — wie heute feststeht,
eine sehr schnell überwundene Schlappe. Frankreich und England kommen zu
Verträgen, durch die sie sich Afrika teilen und England konnte sogar, von
Frankreich unbehelligt, die BurenrepubMen niederringen, während Frankreich in
Marokko die „Tunisterung" vorzubereiten vermochte.
Der günstige Augenblick, der Frankreich auf Jahrzehnte auf die deutsche Seite
gegen England bringen konnte, ist unwiederbringlich vorbeigeeilt, und Deutschland
wird durch Herrn Cartwright unliebsam an eine Rede erinnert, die am 7. De¬
zember 1898 Herr Monson als englischer Botschafter in Paris gehalten hat.
Durch das Auftreten Cartwrights in Wien ist die Marokkoangelegenheit
plötzlich in ein ganz neues und gefährliches Stadium getreten. War sie am
24. August noch eine wirtschaftliche Frage, ein Rechenexempel, so ist sie heute
eine Ehrensache des deutschen Volkes. Das unglaublicher Weise durch eine deutsche
Korrespondenz, die Anspruch erhebt ernst genommen zu werden, provozierte
Dementi ändert an der Tatsache nichts. Nur eine bündige Erklärung, daß der
Herr Botschafter überhaupt nichts — weder direkt noch indirekt — mit dem
Artikel zu tun habe, könnte uns überzeugen. Im übrigen ist es gleichgültig, was
jetzt noch wegen des Artikels vorgebracht wird: er hat, wie die französische Presse
zeigt, die gewollte Wirkung gehabt, indem er es den Franzosen noch mehr wie
bisher erschwert sachlich zu verhandeln. Und darin liegt die Gefahr, die Herrn
von Kiderlens freimütig-entgegenkommende und doch bestimmte Art zu verhandeln
bisher gebannt hatte. Die Verhandlungen zwischen Herrn v. Kiderlen und
Herrn Cambon werden voraussichtlich nicht vor Ende dieser Woche wieder
aufgenommen werden. Es ist darum gut, einmal noch in aller Ruhe darzu¬
legen, was eigentlich Reales in der Marokkofrage steckt und wo das Beiwerk
anfängt-, dann wird es auch möglich sein festzustellen, wo die Kriegsgefahr
herkommt.
Die Marokkofrage war vom Tage ihres Erscheinens an für
Deutschland eine rein wirtschaftliche Frage, und unsere Diplomatie hat
sie niemals anders behandelt als im Rahmen des Prinzips der offenen Tür, das
sie in allen Landen zur Geltung zu bringen strebt. Dieser Gedanke bildet die
Grundlage des Abkommens vom 3. Juli 1880, das noch Bismarck abgeschlossen,
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