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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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England

sonderlich in Frage. Daß England seine oder seiner Kolonien Landmacht in
absehbarer Zeit so reorganisieren wird, daß sie sich bei europäischen oder Welt¬
konflikten mit Aussicht auf eine entscheidende Mitwirkung beteiligen könnten, muß
bezweifelt werdeu. Es wäre schon viel erreicht, wenn die Kolonien Kontingente
aufstellen und unterhalten könnten, welche notdürftig den allernotwendigsteu
eigenen Schutz ausüben, oder das Mutterland im Bedarfsfalle in Indien in
etwas zu unterstützen imstande wären.

Nach seiner ganzen Vergangenheit ist der Engländer, der für die Person
sonst alle wünschenswerten militärischen Eigenschaften besitzt, nicht an den
Gedanken zu gewöhnen, die allgemeine Wehrpflicht in gleichem Umfange wie
die europäischen Militärstaaten einzuführen. Alles andere aber ist und bleibt
unter den heutigen Verhältnissen Stückwerk. Hierin und in dem nicht aufzu¬
haltenden Wachsen der nichtenglischen Kriegsflotten liegt der wunde Punkt des
Weltreichs. In der in den letzten Jahren vorgenommenen Erhöhung der
Effektivstärke auf 800000 Mann, einschließlich der indischen Armee und mit
Zuhilfenahme beurlaubter Reserven und aktivierter Teile der Miliz, steckt große
Selbsttäuschung. Mehr als 160000 Mann könnte England schwerlich auf den
Kontinent werfen.

Wenn England auch noch zum Teil die Meere und die Fahrstraßen zu
seinen englischen Besitzungen beherrscht, so ist eine wenn auch nur vorüber¬
gehende Schwächung seiner Seestreitkräftc nicht ausgeschlossen und die großen
Entscheidungskampfe werden schließlich doch zu Lande mit straff organisierten,
in höchster Vollendung ausgebildeten und gut geführten Heeren ausgefochten.

Schon über die Lasten des Burenkrieges murrte der englische Steuerzahler
und fürchtet unter den fortgesetzten Rüstungen zu ersticken, und doch ist dies nur
ein Vorgeschmack zu dem, was ein neuer Meutereikrieg in Indien, ein Aufstand
in Ägypten oder ein Krieg mit einem europäischen Großstaat kosten würde.

Es muß zweifelhaft erscheinen, ob das heutige England eine siegreiche
Verteidigung seines gesamten Weltreiches finanziell ertragen könnte, namentlich
da von einer so absoluten Seebeherrschung wie zu Nelsons Zeiten nicht mehr
die Rede ist. Bis jetzt hat England, was an eigener Kraft ihm fehlte, durch
geschicktes Ausnutzen fremder Völker und Ausspielen der einzelnen Nationen
gegeneinander erreicht. Wird dieses Spiel auf die Dauer ausreichen? Nach
allen Lehren der Geschichte muß es verneint werden. Eines Tages versagt
dieses Spiel, und die dann hereinbrechende Katastrophe wird vielleicht die
größte, welche je ein Volk auf dem Höhepunkt der Macht erreicht hat.




England

sonderlich in Frage. Daß England seine oder seiner Kolonien Landmacht in
absehbarer Zeit so reorganisieren wird, daß sie sich bei europäischen oder Welt¬
konflikten mit Aussicht auf eine entscheidende Mitwirkung beteiligen könnten, muß
bezweifelt werdeu. Es wäre schon viel erreicht, wenn die Kolonien Kontingente
aufstellen und unterhalten könnten, welche notdürftig den allernotwendigsteu
eigenen Schutz ausüben, oder das Mutterland im Bedarfsfalle in Indien in
etwas zu unterstützen imstande wären.

Nach seiner ganzen Vergangenheit ist der Engländer, der für die Person
sonst alle wünschenswerten militärischen Eigenschaften besitzt, nicht an den
Gedanken zu gewöhnen, die allgemeine Wehrpflicht in gleichem Umfange wie
die europäischen Militärstaaten einzuführen. Alles andere aber ist und bleibt
unter den heutigen Verhältnissen Stückwerk. Hierin und in dem nicht aufzu¬
haltenden Wachsen der nichtenglischen Kriegsflotten liegt der wunde Punkt des
Weltreichs. In der in den letzten Jahren vorgenommenen Erhöhung der
Effektivstärke auf 800000 Mann, einschließlich der indischen Armee und mit
Zuhilfenahme beurlaubter Reserven und aktivierter Teile der Miliz, steckt große
Selbsttäuschung. Mehr als 160000 Mann könnte England schwerlich auf den
Kontinent werfen.

Wenn England auch noch zum Teil die Meere und die Fahrstraßen zu
seinen englischen Besitzungen beherrscht, so ist eine wenn auch nur vorüber¬
gehende Schwächung seiner Seestreitkräftc nicht ausgeschlossen und die großen
Entscheidungskampfe werden schließlich doch zu Lande mit straff organisierten,
in höchster Vollendung ausgebildeten und gut geführten Heeren ausgefochten.

Schon über die Lasten des Burenkrieges murrte der englische Steuerzahler
und fürchtet unter den fortgesetzten Rüstungen zu ersticken, und doch ist dies nur
ein Vorgeschmack zu dem, was ein neuer Meutereikrieg in Indien, ein Aufstand
in Ägypten oder ein Krieg mit einem europäischen Großstaat kosten würde.

Es muß zweifelhaft erscheinen, ob das heutige England eine siegreiche
Verteidigung seines gesamten Weltreiches finanziell ertragen könnte, namentlich
da von einer so absoluten Seebeherrschung wie zu Nelsons Zeiten nicht mehr
die Rede ist. Bis jetzt hat England, was an eigener Kraft ihm fehlte, durch
geschicktes Ausnutzen fremder Völker und Ausspielen der einzelnen Nationen
gegeneinander erreicht. Wird dieses Spiel auf die Dauer ausreichen? Nach
allen Lehren der Geschichte muß es verneint werden. Eines Tages versagt
dieses Spiel, und die dann hereinbrechende Katastrophe wird vielleicht die
größte, welche je ein Volk auf dem Höhepunkt der Macht erreicht hat.




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[0310] England sonderlich in Frage. Daß England seine oder seiner Kolonien Landmacht in absehbarer Zeit so reorganisieren wird, daß sie sich bei europäischen oder Welt¬ konflikten mit Aussicht auf eine entscheidende Mitwirkung beteiligen könnten, muß bezweifelt werdeu. Es wäre schon viel erreicht, wenn die Kolonien Kontingente aufstellen und unterhalten könnten, welche notdürftig den allernotwendigsteu eigenen Schutz ausüben, oder das Mutterland im Bedarfsfalle in Indien in etwas zu unterstützen imstande wären. Nach seiner ganzen Vergangenheit ist der Engländer, der für die Person sonst alle wünschenswerten militärischen Eigenschaften besitzt, nicht an den Gedanken zu gewöhnen, die allgemeine Wehrpflicht in gleichem Umfange wie die europäischen Militärstaaten einzuführen. Alles andere aber ist und bleibt unter den heutigen Verhältnissen Stückwerk. Hierin und in dem nicht aufzu¬ haltenden Wachsen der nichtenglischen Kriegsflotten liegt der wunde Punkt des Weltreichs. In der in den letzten Jahren vorgenommenen Erhöhung der Effektivstärke auf 800000 Mann, einschließlich der indischen Armee und mit Zuhilfenahme beurlaubter Reserven und aktivierter Teile der Miliz, steckt große Selbsttäuschung. Mehr als 160000 Mann könnte England schwerlich auf den Kontinent werfen. Wenn England auch noch zum Teil die Meere und die Fahrstraßen zu seinen englischen Besitzungen beherrscht, so ist eine wenn auch nur vorüber¬ gehende Schwächung seiner Seestreitkräftc nicht ausgeschlossen und die großen Entscheidungskampfe werden schließlich doch zu Lande mit straff organisierten, in höchster Vollendung ausgebildeten und gut geführten Heeren ausgefochten. Schon über die Lasten des Burenkrieges murrte der englische Steuerzahler und fürchtet unter den fortgesetzten Rüstungen zu ersticken, und doch ist dies nur ein Vorgeschmack zu dem, was ein neuer Meutereikrieg in Indien, ein Aufstand in Ägypten oder ein Krieg mit einem europäischen Großstaat kosten würde. Es muß zweifelhaft erscheinen, ob das heutige England eine siegreiche Verteidigung seines gesamten Weltreiches finanziell ertragen könnte, namentlich da von einer so absoluten Seebeherrschung wie zu Nelsons Zeiten nicht mehr die Rede ist. Bis jetzt hat England, was an eigener Kraft ihm fehlte, durch geschicktes Ausnutzen fremder Völker und Ausspielen der einzelnen Nationen gegeneinander erreicht. Wird dieses Spiel auf die Dauer ausreichen? Nach allen Lehren der Geschichte muß es verneint werden. Eines Tages versagt dieses Spiel, und die dann hereinbrechende Katastrophe wird vielleicht die größte, welche je ein Volk auf dem Höhepunkt der Macht erreicht hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/310>, abgerufen am 29.12.2024.