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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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England

ob mit Recht oder Unrecht, ist zu erörtern müßig -- ließ sich vielleicht eine
wärmere Unterstützung britischer Interessen erhoffen. In den letzten beiden
Jahrzehnten des verflossenen und in dem ersten des laufenden Jahrhunderts traten
aber auf politischem nud wirtschaftlichem, selbst technischem Gebiet Erscheinungen
auf, welche Englands Lage in anderem Licht erscheinen ließen. Die schon früher
erfolgte Eröffnung des Suezkanals führte im Hinblick auf die Verteidigung
Indiens zu veränderter Stellungnahme im Orient. Das Deutsche Reich trat in
die Reihe der Kolonialmächte ein und schuf sich die gegenwärtig sast zweitstürkste
Flotte Europas. Frankreich besetzte im Laufe der Zeit fast das gesamte nord¬
westliche Afrika, im Süden bis an den Kongo, Umbangi und Actie reichend,
außerdem Obock, Madagaskar und in Hinterindien Ancun. Stanley gründete
für Leopold den Zweiten von Belgien den Kongostaat, der heute belgische Kolonie
ist. Die nordamerikanische Union erhebt seit ihrem siegreichen Kriege gegen
Spanien unter Aufrechterhaltung der Monroedoktrin und im Besitz von Hawai,
Guam und den Philippinen Anspruch auf eine Vormachtstellung im Stillen Ozean
und rüstet sich zur Eröffnung des Panamakanals. Durch seine Eröffnung wird
voraussichtlich die gesamte politische und wirtschaftliche Weltlage eine Änderung
erfahren. In den: vorläufig noch verbündeten Japan ist im fernen Osten ein
neuer Konkurrent entstanden. Anderseits hat seitdem England Ägypten und
den östlichen Sudan genommen, sich die Burenrepubliken einverleibt und ist
bestrebt, im östlichen und südlichen Afrika ein neues Kolonialreich zu gründen.
Was aber England am unangenehmsten berührt, ist der Umstand, daß die fort¬
schreitende Entwicklung von Handel und Industrie in den verschiedenen Ländern,
vorzugsweise in der Union und in Deutschland, aber auch bei den meisten
übrigen Völkern den Bau von Kriegsflotten bedingte. "Eine Kriegsflotte schafft
nach Makam noch keinen Handel, wohl aber erzeugt der Handel eine Kriegs¬
flotte, die stark genug ist, ihn zu schütze"?, oder er geht in die Hände von Kauf¬
leuten über, welche solchen Schutz genießen. Jedenfalls kann eine schwache
Kriegsflotte Veranlassung geben, daß der bestehende Handel auf eine andere
fremde Flagge übergeht."

Alle diese Erscheinungen, welche nicht gleichzeitig, aber doch in verhältnis¬
mäßig schneller Folge sich entwickelten, bewirkten, daß England nach Erkenntnis
der ihm aus der veränderten Lage möglicherweise drohenden Gefahren mit allen
ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bestrebt ist, die beiden wichtigsten Grund¬
lagen seiner Stellung, "die Oberherrschaft auf den Meeren und den Besitz von
Indien", mehr als bisher zu schützen, da beide bedroht scheinen.

Das Bestreben Englands, die herrschende Vormacht auf den Meeren zu
bleiben, ist nach seiner Vergangenheit wohl begreiflich, bei längerem Frieden
angesichts des Wachstums der anderen Mariner aber auf die Dauer nicht mehr
durchführbar. Welchen Wert England auf die unbedingte Seegeltung legen
muß, wird erst verständlich, wenn man im Auge behält, daß nur durch ihre
Aufrechthaltung die Ernährung des Jnselreichs gesichert ist. Zum reinen Industrie-


England

ob mit Recht oder Unrecht, ist zu erörtern müßig — ließ sich vielleicht eine
wärmere Unterstützung britischer Interessen erhoffen. In den letzten beiden
Jahrzehnten des verflossenen und in dem ersten des laufenden Jahrhunderts traten
aber auf politischem nud wirtschaftlichem, selbst technischem Gebiet Erscheinungen
auf, welche Englands Lage in anderem Licht erscheinen ließen. Die schon früher
erfolgte Eröffnung des Suezkanals führte im Hinblick auf die Verteidigung
Indiens zu veränderter Stellungnahme im Orient. Das Deutsche Reich trat in
die Reihe der Kolonialmächte ein und schuf sich die gegenwärtig sast zweitstürkste
Flotte Europas. Frankreich besetzte im Laufe der Zeit fast das gesamte nord¬
westliche Afrika, im Süden bis an den Kongo, Umbangi und Actie reichend,
außerdem Obock, Madagaskar und in Hinterindien Ancun. Stanley gründete
für Leopold den Zweiten von Belgien den Kongostaat, der heute belgische Kolonie
ist. Die nordamerikanische Union erhebt seit ihrem siegreichen Kriege gegen
Spanien unter Aufrechterhaltung der Monroedoktrin und im Besitz von Hawai,
Guam und den Philippinen Anspruch auf eine Vormachtstellung im Stillen Ozean
und rüstet sich zur Eröffnung des Panamakanals. Durch seine Eröffnung wird
voraussichtlich die gesamte politische und wirtschaftliche Weltlage eine Änderung
erfahren. In den: vorläufig noch verbündeten Japan ist im fernen Osten ein
neuer Konkurrent entstanden. Anderseits hat seitdem England Ägypten und
den östlichen Sudan genommen, sich die Burenrepubliken einverleibt und ist
bestrebt, im östlichen und südlichen Afrika ein neues Kolonialreich zu gründen.
Was aber England am unangenehmsten berührt, ist der Umstand, daß die fort¬
schreitende Entwicklung von Handel und Industrie in den verschiedenen Ländern,
vorzugsweise in der Union und in Deutschland, aber auch bei den meisten
übrigen Völkern den Bau von Kriegsflotten bedingte. „Eine Kriegsflotte schafft
nach Makam noch keinen Handel, wohl aber erzeugt der Handel eine Kriegs¬
flotte, die stark genug ist, ihn zu schütze«?, oder er geht in die Hände von Kauf¬
leuten über, welche solchen Schutz genießen. Jedenfalls kann eine schwache
Kriegsflotte Veranlassung geben, daß der bestehende Handel auf eine andere
fremde Flagge übergeht."

Alle diese Erscheinungen, welche nicht gleichzeitig, aber doch in verhältnis¬
mäßig schneller Folge sich entwickelten, bewirkten, daß England nach Erkenntnis
der ihm aus der veränderten Lage möglicherweise drohenden Gefahren mit allen
ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bestrebt ist, die beiden wichtigsten Grund¬
lagen seiner Stellung, „die Oberherrschaft auf den Meeren und den Besitz von
Indien", mehr als bisher zu schützen, da beide bedroht scheinen.

Das Bestreben Englands, die herrschende Vormacht auf den Meeren zu
bleiben, ist nach seiner Vergangenheit wohl begreiflich, bei längerem Frieden
angesichts des Wachstums der anderen Mariner aber auf die Dauer nicht mehr
durchführbar. Welchen Wert England auf die unbedingte Seegeltung legen
muß, wird erst verständlich, wenn man im Auge behält, daß nur durch ihre
Aufrechthaltung die Ernährung des Jnselreichs gesichert ist. Zum reinen Industrie-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/303>, abgerufen am 04.01.2025.