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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

ständigen Wirkungsvermögens zu besitzen, er¬
wächst zunächst die Fähigkeit der Willcns-
bestimmung aus dieser Eigenart heraus, sowie
das Streben, die Nötigung durch die äußere
Natur einzuschränken und zu überwinden.
Indem der Mensch sich von dieser immer
deutlicher unterscheidet, wird er sich seiner
Eigenart als nicht mehr allein durch die
Naturgesetzlichkeit bestimmt bewußt und erkennt
in sich ein von dieser unabhängiges, geistiges
Wirkungsvermögen; indes erst die volle Ent¬
faltung desselben zu der Geistestätigkeit, die
wir als die Vernunft kennzeichnen, führt zu
der von aller Nötigung durch die Natur¬
gesetzlichkeit freien Selbstbestimmung des
Willens aus der Vernunfterkenntnis. Hiermit
bleibt derWille nicht mehr auf die Natur als die
gegebene, seiende, bedingte Wirklichkeit gerichtet,
er richtet sich auf die sein sollende, als die jener
zugrunde liegende unbedingte Wirklichkeit.

Diese Abwandlung der Lebensbetätigung
aus der Triebartigkeit zum vernünftigen Willen
läßt sich kurz kennzeichnen als die Abwandlung
von dem "ich muß" durch das "ich will",
zu dem "ich soll", in: Einklang mit der fort¬
schreitenden Entfaltung des geistigen Wirkungs¬
vermögens.

Wie verhält sich nun die "Sittlichkeit" zu
diesem Vorgang?

Der Begriff der Sittlichkeit ist inhaltlich
sehr verschieden bestimmt worden und es dürfte
nicht gelingen, volle Übereinstimmung hierüber
zu erreichen. Schon dieser Umstand weist
darauf hin, daß wir die Sittlichkeit nicht als
unabhängig vom Willen gegebene, konstante,
durch Erkenntnis und Willen zu ergreifende
Wirklichkeit zu begreifen haben, daß sie nicht
dem Begriffe der Natur einzuordnen ist. Tat¬
sächlich findet der Begriff der Sittlichkeit auf
die Natur keine Anwendung, auch da nicht,
wo wir geneigt sind, WillenSvorgnnge in der
nußermenschlichen Natur zu erkennen.

Selbst den menschlichen Willen unterwerfen
wir dem sittlichen Urteile da nicht, wo die
Voraussetzung der Willensfreiheit nicht erfüllt,
vielmehr der Wille noch der Nötigung durch
eigene oder äußere Natur unterworfen scheint;
sei es, daß diese Nötigung aus äußeren Um¬
ständen, wie Bedrohung mit Strafen oder
sonstigen Schädigungen und Gefahren, oder
aus geistiger Abhängigkeit infolge Erziehung,

[Spaltenumbruch]

Überlieferung und sozialer Beeinflussung, sei
es, daß sie aus inneren Ursachen erwächst,
wie Geistes- und Willensschwäche, übergroße
Reizbarkeit und andere krankhafte Zustände.

Willensfreiheit, als die Fähigkeit, so zu
handeln, wie es die eigenste innerste Über¬
zeugung bestimmt, muß als die eine Be¬
dingung der Sittlichkeit erfüllt sein; aber sie
bleibt als Ergebnis des Grades der Einsicht
in das eigene Wesen und in die Welt, in
der wir leben, begrenzt durch die eigene
Erkenntnisfähigkeit und durch die ihre Aus¬
bildung bedingenden Verhältnisse. Das ergibt
durchaus individuelle Beurteilungswerte, welche
der WilleiiSbestimmung nur innerhalb enger
Lebenskreise soziale Bedeutung verleihen können.

Das sittliche Urteil gilt allemal unmittel¬
bar oder mittelbar der Beziehung des Menschen
zum Menschen, als Subjekt und Objekt des
Willens; seine Bedeutung liegt in seiner
Allgemeingültigkeit und in der Dauer seiner
Geltung. Das ist die andere Bedingung für
die Anwendbarkeit des sittlichen Urteils auf
die Willensbestimmung.

Die zu fordernde Allgemeingültigkeit und
Unabhängigkeit von dem zeitlichen Wechsel
der Lebensverhältnisse wird nur in dem Maße
bestehen, als das sittliche Urteil einen von
aller Bedingtheit in Zeit und Raum, von der
inneren wie von der äußeren Natur unab¬
hängigen, unbedingten Lebenswert einzusetzen,
die Willensbestimmung mithin ebensowohl
vom Charakter wie von der durch die Sinnes¬
und Verstandstätigkeit gegebenen Zweckmäßig¬
keit loszulösen, sie aus Gesinnung und Ver¬
nunft zu begründen vermag. Die menschliche
Urteilskraft steht keineswegs von vornherein
auf dieser Höhe; sie erreicht sie immer nur
auf den Gipfeln der Geistesbetätigung und
nähert sich ihr im übrigen, im einzelnen wie
in der Gesamtheit in sehr verschiedenem Grade.

Die zu beantwortende Frage erfordert
nicht das Eingehen auf die inhaltliche Be¬
stimmung des Begriffes der Sittlichkeit; eS
genügt festzuhalten, daß die Sittlichkeit als
sein sollende Willensbestimmtheit, nicht als
vollendetes Sein, sondern als zu verwirk¬
lichende Idee zu verstehen ist, aus deren
scheinbarer Verwirklichung immer wieder neue
Vernunftforderung erwächst; sowie daß es sich
bei dieser Verwirklichung weder um ein Müssen

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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ständigen Wirkungsvermögens zu besitzen, er¬
wächst zunächst die Fähigkeit der Willcns-
bestimmung aus dieser Eigenart heraus, sowie
das Streben, die Nötigung durch die äußere
Natur einzuschränken und zu überwinden.
Indem der Mensch sich von dieser immer
deutlicher unterscheidet, wird er sich seiner
Eigenart als nicht mehr allein durch die
Naturgesetzlichkeit bestimmt bewußt und erkennt
in sich ein von dieser unabhängiges, geistiges
Wirkungsvermögen; indes erst die volle Ent¬
faltung desselben zu der Geistestätigkeit, die
wir als die Vernunft kennzeichnen, führt zu
der von aller Nötigung durch die Natur¬
gesetzlichkeit freien Selbstbestimmung des
Willens aus der Vernunfterkenntnis. Hiermit
bleibt derWille nicht mehr auf die Natur als die
gegebene, seiende, bedingte Wirklichkeit gerichtet,
er richtet sich auf die sein sollende, als die jener
zugrunde liegende unbedingte Wirklichkeit.

Diese Abwandlung der Lebensbetätigung
aus der Triebartigkeit zum vernünftigen Willen
läßt sich kurz kennzeichnen als die Abwandlung
von dem „ich muß" durch das „ich will",
zu dem „ich soll", in: Einklang mit der fort¬
schreitenden Entfaltung des geistigen Wirkungs¬
vermögens.

Wie verhält sich nun die „Sittlichkeit" zu
diesem Vorgang?

Der Begriff der Sittlichkeit ist inhaltlich
sehr verschieden bestimmt worden und es dürfte
nicht gelingen, volle Übereinstimmung hierüber
zu erreichen. Schon dieser Umstand weist
darauf hin, daß wir die Sittlichkeit nicht als
unabhängig vom Willen gegebene, konstante,
durch Erkenntnis und Willen zu ergreifende
Wirklichkeit zu begreifen haben, daß sie nicht
dem Begriffe der Natur einzuordnen ist. Tat¬
sächlich findet der Begriff der Sittlichkeit auf
die Natur keine Anwendung, auch da nicht,
wo wir geneigt sind, WillenSvorgnnge in der
nußermenschlichen Natur zu erkennen.

Selbst den menschlichen Willen unterwerfen
wir dem sittlichen Urteile da nicht, wo die
Voraussetzung der Willensfreiheit nicht erfüllt,
vielmehr der Wille noch der Nötigung durch
eigene oder äußere Natur unterworfen scheint;
sei es, daß diese Nötigung aus äußeren Um¬
ständen, wie Bedrohung mit Strafen oder
sonstigen Schädigungen und Gefahren, oder
aus geistiger Abhängigkeit infolge Erziehung,

[Spaltenumbruch]

Überlieferung und sozialer Beeinflussung, sei
es, daß sie aus inneren Ursachen erwächst,
wie Geistes- und Willensschwäche, übergroße
Reizbarkeit und andere krankhafte Zustände.

Willensfreiheit, als die Fähigkeit, so zu
handeln, wie es die eigenste innerste Über¬
zeugung bestimmt, muß als die eine Be¬
dingung der Sittlichkeit erfüllt sein; aber sie
bleibt als Ergebnis des Grades der Einsicht
in das eigene Wesen und in die Welt, in
der wir leben, begrenzt durch die eigene
Erkenntnisfähigkeit und durch die ihre Aus¬
bildung bedingenden Verhältnisse. Das ergibt
durchaus individuelle Beurteilungswerte, welche
der WilleiiSbestimmung nur innerhalb enger
Lebenskreise soziale Bedeutung verleihen können.

Das sittliche Urteil gilt allemal unmittel¬
bar oder mittelbar der Beziehung des Menschen
zum Menschen, als Subjekt und Objekt des
Willens; seine Bedeutung liegt in seiner
Allgemeingültigkeit und in der Dauer seiner
Geltung. Das ist die andere Bedingung für
die Anwendbarkeit des sittlichen Urteils auf
die Willensbestimmung.

Die zu fordernde Allgemeingültigkeit und
Unabhängigkeit von dem zeitlichen Wechsel
der Lebensverhältnisse wird nur in dem Maße
bestehen, als das sittliche Urteil einen von
aller Bedingtheit in Zeit und Raum, von der
inneren wie von der äußeren Natur unab¬
hängigen, unbedingten Lebenswert einzusetzen,
die Willensbestimmung mithin ebensowohl
vom Charakter wie von der durch die Sinnes¬
und Verstandstätigkeit gegebenen Zweckmäßig¬
keit loszulösen, sie aus Gesinnung und Ver¬
nunft zu begründen vermag. Die menschliche
Urteilskraft steht keineswegs von vornherein
auf dieser Höhe; sie erreicht sie immer nur
auf den Gipfeln der Geistesbetätigung und
nähert sich ihr im übrigen, im einzelnen wie
in der Gesamtheit in sehr verschiedenem Grade.

Die zu beantwortende Frage erfordert
nicht das Eingehen auf die inhaltliche Be¬
stimmung des Begriffes der Sittlichkeit; eS
genügt festzuhalten, daß die Sittlichkeit als
sein sollende Willensbestimmtheit, nicht als
vollendetes Sein, sondern als zu verwirk¬
lichende Idee zu verstehen ist, aus deren
scheinbarer Verwirklichung immer wieder neue
Vernunftforderung erwächst; sowie daß es sich
bei dieser Verwirklichung weder um ein Müssen

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[0289] Maßgebliches und Unmaßgebliches ständigen Wirkungsvermögens zu besitzen, er¬ wächst zunächst die Fähigkeit der Willcns- bestimmung aus dieser Eigenart heraus, sowie das Streben, die Nötigung durch die äußere Natur einzuschränken und zu überwinden. Indem der Mensch sich von dieser immer deutlicher unterscheidet, wird er sich seiner Eigenart als nicht mehr allein durch die Naturgesetzlichkeit bestimmt bewußt und erkennt in sich ein von dieser unabhängiges, geistiges Wirkungsvermögen; indes erst die volle Ent¬ faltung desselben zu der Geistestätigkeit, die wir als die Vernunft kennzeichnen, führt zu der von aller Nötigung durch die Natur¬ gesetzlichkeit freien Selbstbestimmung des Willens aus der Vernunfterkenntnis. Hiermit bleibt derWille nicht mehr auf die Natur als die gegebene, seiende, bedingte Wirklichkeit gerichtet, er richtet sich auf die sein sollende, als die jener zugrunde liegende unbedingte Wirklichkeit. Diese Abwandlung der Lebensbetätigung aus der Triebartigkeit zum vernünftigen Willen läßt sich kurz kennzeichnen als die Abwandlung von dem „ich muß" durch das „ich will", zu dem „ich soll", in: Einklang mit der fort¬ schreitenden Entfaltung des geistigen Wirkungs¬ vermögens. Wie verhält sich nun die „Sittlichkeit" zu diesem Vorgang? Der Begriff der Sittlichkeit ist inhaltlich sehr verschieden bestimmt worden und es dürfte nicht gelingen, volle Übereinstimmung hierüber zu erreichen. Schon dieser Umstand weist darauf hin, daß wir die Sittlichkeit nicht als unabhängig vom Willen gegebene, konstante, durch Erkenntnis und Willen zu ergreifende Wirklichkeit zu begreifen haben, daß sie nicht dem Begriffe der Natur einzuordnen ist. Tat¬ sächlich findet der Begriff der Sittlichkeit auf die Natur keine Anwendung, auch da nicht, wo wir geneigt sind, WillenSvorgnnge in der nußermenschlichen Natur zu erkennen. Selbst den menschlichen Willen unterwerfen wir dem sittlichen Urteile da nicht, wo die Voraussetzung der Willensfreiheit nicht erfüllt, vielmehr der Wille noch der Nötigung durch eigene oder äußere Natur unterworfen scheint; sei es, daß diese Nötigung aus äußeren Um¬ ständen, wie Bedrohung mit Strafen oder sonstigen Schädigungen und Gefahren, oder aus geistiger Abhängigkeit infolge Erziehung, Überlieferung und sozialer Beeinflussung, sei es, daß sie aus inneren Ursachen erwächst, wie Geistes- und Willensschwäche, übergroße Reizbarkeit und andere krankhafte Zustände. Willensfreiheit, als die Fähigkeit, so zu handeln, wie es die eigenste innerste Über¬ zeugung bestimmt, muß als die eine Be¬ dingung der Sittlichkeit erfüllt sein; aber sie bleibt als Ergebnis des Grades der Einsicht in das eigene Wesen und in die Welt, in der wir leben, begrenzt durch die eigene Erkenntnisfähigkeit und durch die ihre Aus¬ bildung bedingenden Verhältnisse. Das ergibt durchaus individuelle Beurteilungswerte, welche der WilleiiSbestimmung nur innerhalb enger Lebenskreise soziale Bedeutung verleihen können. Das sittliche Urteil gilt allemal unmittel¬ bar oder mittelbar der Beziehung des Menschen zum Menschen, als Subjekt und Objekt des Willens; seine Bedeutung liegt in seiner Allgemeingültigkeit und in der Dauer seiner Geltung. Das ist die andere Bedingung für die Anwendbarkeit des sittlichen Urteils auf die Willensbestimmung. Die zu fordernde Allgemeingültigkeit und Unabhängigkeit von dem zeitlichen Wechsel der Lebensverhältnisse wird nur in dem Maße bestehen, als das sittliche Urteil einen von aller Bedingtheit in Zeit und Raum, von der inneren wie von der äußeren Natur unab¬ hängigen, unbedingten Lebenswert einzusetzen, die Willensbestimmung mithin ebensowohl vom Charakter wie von der durch die Sinnes¬ und Verstandstätigkeit gegebenen Zweckmäßig¬ keit loszulösen, sie aus Gesinnung und Ver¬ nunft zu begründen vermag. Die menschliche Urteilskraft steht keineswegs von vornherein auf dieser Höhe; sie erreicht sie immer nur auf den Gipfeln der Geistesbetätigung und nähert sich ihr im übrigen, im einzelnen wie in der Gesamtheit in sehr verschiedenem Grade. Die zu beantwortende Frage erfordert nicht das Eingehen auf die inhaltliche Be¬ stimmung des Begriffes der Sittlichkeit; eS genügt festzuhalten, daß die Sittlichkeit als sein sollende Willensbestimmtheit, nicht als vollendetes Sein, sondern als zu verwirk¬ lichende Idee zu verstehen ist, aus deren scheinbarer Verwirklichung immer wieder neue Vernunftforderung erwächst; sowie daß es sich bei dieser Verwirklichung weder um ein Müssen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/289>, abgerufen am 29.12.2024.