Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Storms Märchen Darstellung oft erst recht. Der Kunstmärchendichter geht haarscharf an der Storm selbst hat im "Hinzelmeier" eine "phantastisch-allegorische Dichtung Hat nun Storm vom Börne der echten Märchendichtung getrunken? Storms Märchen Darstellung oft erst recht. Der Kunstmärchendichter geht haarscharf an der Storm selbst hat im „Hinzelmeier" eine „phantastisch-allegorische Dichtung Hat nun Storm vom Börne der echten Märchendichtung getrunken? <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0268" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319217"/> <fw type="header" place="top"> Storms Märchen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1542" prev="#ID_1541"> Darstellung oft erst recht. Der Kunstmärchendichter geht haarscharf an der<lb/> Grenze von Raffinement, Harmlosigkeit, läppischen Getändel entlang. Ohne<lb/> Zweifel hat Andersen, der erfolgreichste Märchenerzähler des neunzehnten Jahr¬<lb/> hunderts, die Grenze nicht immer scharf gesehen, sondern oft überschritten.<lb/> Storm hat recht, wenn er über ihn urteilt: „Der Eindruck, den ich von<lb/> Andersens Märchen behalten, ist der, daß seine Naivität im wesentlichen recht<lb/> bewußt ist, als wenn jemand der Jugend in niedlicher Herablassung erzählt".<lb/> Trotzdem schätzt er ihn: „Dessenungeachtet ist viel Hübsches darin." (Storm an<lb/> Kuh, Stillfreitag 1875. Westermanns Monatshefte 67. Band.)</p><lb/> <p xml:id="ID_1543"> Storm selbst hat im „Hinzelmeier" eine „phantastisch-allegorische Dichtung<lb/> geschrieben, wobei der Dichter nicht mit vollem Glauben seine Geschichte erzählt,<lb/> sondern halb reflektierend daneben steht". (Storm an Kuh, 22. Dezember 1872.<lb/> Ebenda.) Ich habe eben den „Hinzelmeier", der voll von Märchenschönheiten<lb/> ist, den Märchen zugezählt, Storm aber spricht der Erzählung den reinen<lb/> Märchencharakter ab. In einem Briefe an Eggers läßt er sich darüber näher<lb/> aus: „Es ist gewiß ein Vorzug auch eines Märchens, wenn demselben ein<lb/> bestimmter Gedanke und zwar ein solcher, dessen Gültigkeit über die in ca8v<lb/> dargestellten facta hinausgeht, eine Idee, wie man zu sagen pflegt, zugrunde<lb/> liegt, wie z. B. in dem Märchen vom Fischer und sine Fru, die im Pispott<lb/> wohnen; ein Fehler, ein quantitativer Abfall vom Poetischen aber und mit<lb/> ersterem nicht zu verwechseln (es ist eben ein Fehler in der Ausführung) ist es,<lb/> wenn man einen Begriff, der poetice immer nur szenisch dargestellt werden<lb/> darf, durch eine Sache darstellen will, wie dies in meiner Geschichte durch die<lb/> Rose und die Brille (und Rüben) geschehen. Daß jeder ohne weiteres veranlaßt<lb/> wird, hinter diesen Dingen noch etwas anderes, als was sie sich geben, zu<lb/> suchen, schwächt offenbar den poetischen Eindruck; denn es verkümmert das<lb/> Interesse an dem unmittelbar Dargestellten. Dies zugegeben glaube ich aller¬<lb/> dings die Sache ziemlich befleischt und einzelne Szenen, z. B. die auf dem<lb/> Boden, in der Küche, die zwischen Kaspar und Hinzelmeier, den letzten Schlaf<lb/> des Helden, in Blut und Leben dargestellt und namentlich im Kapitel .Krcchirius'<lb/> das Frühlingswerden bis zur .sinnlichen Mitempfindung' herausgekriegt zu<lb/> haben." (Brief an Friedrich Eggers vom 16. Januar 1856. Berlin, Karl<lb/> Curtius. 1911.) Der „Hinzelmeier" ist zu „nachdenklich". Das Geheimnis<lb/> des Märchens liegt eben darin, daß der Dichter seinen reichen Anschauungskreis<lb/> vergessen kann, daß er alles abzulegen imstande ist, was an seinen überlegeneren<lb/> Verstand erinnert; er muß im Reiche des Wunderbaren zu Hause sein und aus dieser<lb/> ' Welt frisch und fröhlich gestalten können, ohne den Stoff durch Reflexion abzu¬<lb/> schwächen, ohne einen Zweck zu bedenken, ohne nach dem Leser oder Zuhörer<lb/> zu fragen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1544" next="#ID_1545"> Hat nun Storm vom Börne der echten Märchendichtung getrunken?<lb/> Storm hat sich über keine andere Seite seines Wesens und seiner Dichtung<lb/> bestimmter und interessierter ausgesprochen als über seine Märchen. Wir sehen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0268]
Storms Märchen
Darstellung oft erst recht. Der Kunstmärchendichter geht haarscharf an der
Grenze von Raffinement, Harmlosigkeit, läppischen Getändel entlang. Ohne
Zweifel hat Andersen, der erfolgreichste Märchenerzähler des neunzehnten Jahr¬
hunderts, die Grenze nicht immer scharf gesehen, sondern oft überschritten.
Storm hat recht, wenn er über ihn urteilt: „Der Eindruck, den ich von
Andersens Märchen behalten, ist der, daß seine Naivität im wesentlichen recht
bewußt ist, als wenn jemand der Jugend in niedlicher Herablassung erzählt".
Trotzdem schätzt er ihn: „Dessenungeachtet ist viel Hübsches darin." (Storm an
Kuh, Stillfreitag 1875. Westermanns Monatshefte 67. Band.)
Storm selbst hat im „Hinzelmeier" eine „phantastisch-allegorische Dichtung
geschrieben, wobei der Dichter nicht mit vollem Glauben seine Geschichte erzählt,
sondern halb reflektierend daneben steht". (Storm an Kuh, 22. Dezember 1872.
Ebenda.) Ich habe eben den „Hinzelmeier", der voll von Märchenschönheiten
ist, den Märchen zugezählt, Storm aber spricht der Erzählung den reinen
Märchencharakter ab. In einem Briefe an Eggers läßt er sich darüber näher
aus: „Es ist gewiß ein Vorzug auch eines Märchens, wenn demselben ein
bestimmter Gedanke und zwar ein solcher, dessen Gültigkeit über die in ca8v
dargestellten facta hinausgeht, eine Idee, wie man zu sagen pflegt, zugrunde
liegt, wie z. B. in dem Märchen vom Fischer und sine Fru, die im Pispott
wohnen; ein Fehler, ein quantitativer Abfall vom Poetischen aber und mit
ersterem nicht zu verwechseln (es ist eben ein Fehler in der Ausführung) ist es,
wenn man einen Begriff, der poetice immer nur szenisch dargestellt werden
darf, durch eine Sache darstellen will, wie dies in meiner Geschichte durch die
Rose und die Brille (und Rüben) geschehen. Daß jeder ohne weiteres veranlaßt
wird, hinter diesen Dingen noch etwas anderes, als was sie sich geben, zu
suchen, schwächt offenbar den poetischen Eindruck; denn es verkümmert das
Interesse an dem unmittelbar Dargestellten. Dies zugegeben glaube ich aller¬
dings die Sache ziemlich befleischt und einzelne Szenen, z. B. die auf dem
Boden, in der Küche, die zwischen Kaspar und Hinzelmeier, den letzten Schlaf
des Helden, in Blut und Leben dargestellt und namentlich im Kapitel .Krcchirius'
das Frühlingswerden bis zur .sinnlichen Mitempfindung' herausgekriegt zu
haben." (Brief an Friedrich Eggers vom 16. Januar 1856. Berlin, Karl
Curtius. 1911.) Der „Hinzelmeier" ist zu „nachdenklich". Das Geheimnis
des Märchens liegt eben darin, daß der Dichter seinen reichen Anschauungskreis
vergessen kann, daß er alles abzulegen imstande ist, was an seinen überlegeneren
Verstand erinnert; er muß im Reiche des Wunderbaren zu Hause sein und aus dieser
' Welt frisch und fröhlich gestalten können, ohne den Stoff durch Reflexion abzu¬
schwächen, ohne einen Zweck zu bedenken, ohne nach dem Leser oder Zuhörer
zu fragen.
Hat nun Storm vom Börne der echten Märchendichtung getrunken?
Storm hat sich über keine andere Seite seines Wesens und seiner Dichtung
bestimmter und interessierter ausgesprochen als über seine Märchen. Wir sehen
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