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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Staat und Handel

furchtlos, dort in Südwest entstanden und breitete von dort seine Nation über
die Welt aus und schickte seine achtunggebietende Flagge von dort aus über die
Meere! Und wenn sie alle ihre Gesetzbücher zu Hause gelassen hätten, wo sie
niemand mehr lesen kann, wo nur das Schaf oder die Maus in ihren Blättern
schnüffeln -- sie hätten ihre Gesetzgebung mitgenommen im Herzen und im
Verstände und hätten ihre Moral und ihre Religion im Gemüt und in der
Vernunft mit sich genommen -- und hätten ihre Literatur und ihre Dichter
und ihre Kunst und ihre Industrie und alles mit sich -- denn all das steht
und fällt mit der Existenz des Menschengeschlechtes!

Oder ein anderes Beispiel. -- Ganz Deutschland würde Haus und Hof
verlassen und alle Menschen, die zwischen den deutschen Grenzpfählen leben,
würden nach Frankreich auswandern. Alle Franzosen aber würden dafür ins
Deutsche Reich wandern. Es würde lediglich nur ein Austausch der menschlichen
Lebewesen beider Staaten stattfinden. Alles Vieh, alle Bücher, alle Kunst¬
erzeugnisse, alle Maschinen, alles andere würde da bleiben, wo es ist -- nur
die Menschen würden ausgetauscht werden! -- Was würde der Fall sein? --
Würde das Land zwischen den: Rhein und der Memel nicht in kürzester Frist
Frankreich sein? Republik mit französischem Recht, französischen Sitten, französischer
Kunst, Industrie und allem? -- Und wäre nicht in kürzester Frist das jetzige
Land Frankreich dann das Deutsche Kaiserreich? Lager in den jetzt französischen
Häfen nicht deutsche Panzerschiffe, würde die dritte französische Wagenklasse
der Eisenbahn nicht unter deutschen Beamten sauber werden wie unsere
dritte, und sprächen deutsche Richter nicht ebenso Recht, wie sie in Deutsch¬
land sprechen? --

Der Charakter der Nationen ist zwar stets durch Temperatur und Klima
beeinflußt worden, für den aus Menschheitsgehirnen hervorgegangenen Begriff
des Staates, des Staatswesens aber ist nur der Mensch alles. Es ist nicht die
Hauptsache, ob das Stück Erde des Staates mit zufällig so bemalten Grenz¬
pfählen umschlossen ist, sondern die Existenz des Menschengeschlechtes, die Funktion
seiner Gehirne ist und bleibt alles, und mit ihr sällt alles zusammen in nichts.

Man kann sich sogar eine riesige Felsenplatte denken, in die es unmöglich
ist einen Spatenstich Hineinzugraben oder ein einziges Korn auf ihr zu züchten
--- und doch kann darauf eine Gemeinschaft von Menschen leben und einen
Staat bilden.

Der Staat ist also nur ein Begriff, und dieser Begriff lebt oder stirbt mit
dem Bewußtsein des Menschen. Daher hat also das Volk auch den Staat
geschaffen, nicht der Staat sein Volk. Wenn es auch so scheinen mag, als ob
ein Staat vermöge der in ihm jahrhunderte- oder jahrzehntelang geltenden
Prinzipien und Gesetze den Charakter seines Volkes bestimmt oder die geistige
und moralische Entwicklung seiner Bürger und der heranwachsenden Generationen
beeinflußt -- so ist es tatsächlich doch das Volk selbst, das den Staat (oder
Staatsbegriff) nur als Werkzeug benutzt.


Staat und Handel

furchtlos, dort in Südwest entstanden und breitete von dort seine Nation über
die Welt aus und schickte seine achtunggebietende Flagge von dort aus über die
Meere! Und wenn sie alle ihre Gesetzbücher zu Hause gelassen hätten, wo sie
niemand mehr lesen kann, wo nur das Schaf oder die Maus in ihren Blättern
schnüffeln — sie hätten ihre Gesetzgebung mitgenommen im Herzen und im
Verstände und hätten ihre Moral und ihre Religion im Gemüt und in der
Vernunft mit sich genommen — und hätten ihre Literatur und ihre Dichter
und ihre Kunst und ihre Industrie und alles mit sich — denn all das steht
und fällt mit der Existenz des Menschengeschlechtes!

Oder ein anderes Beispiel. — Ganz Deutschland würde Haus und Hof
verlassen und alle Menschen, die zwischen den deutschen Grenzpfählen leben,
würden nach Frankreich auswandern. Alle Franzosen aber würden dafür ins
Deutsche Reich wandern. Es würde lediglich nur ein Austausch der menschlichen
Lebewesen beider Staaten stattfinden. Alles Vieh, alle Bücher, alle Kunst¬
erzeugnisse, alle Maschinen, alles andere würde da bleiben, wo es ist — nur
die Menschen würden ausgetauscht werden! — Was würde der Fall sein? —
Würde das Land zwischen den: Rhein und der Memel nicht in kürzester Frist
Frankreich sein? Republik mit französischem Recht, französischen Sitten, französischer
Kunst, Industrie und allem? — Und wäre nicht in kürzester Frist das jetzige
Land Frankreich dann das Deutsche Kaiserreich? Lager in den jetzt französischen
Häfen nicht deutsche Panzerschiffe, würde die dritte französische Wagenklasse
der Eisenbahn nicht unter deutschen Beamten sauber werden wie unsere
dritte, und sprächen deutsche Richter nicht ebenso Recht, wie sie in Deutsch¬
land sprechen? —

Der Charakter der Nationen ist zwar stets durch Temperatur und Klima
beeinflußt worden, für den aus Menschheitsgehirnen hervorgegangenen Begriff
des Staates, des Staatswesens aber ist nur der Mensch alles. Es ist nicht die
Hauptsache, ob das Stück Erde des Staates mit zufällig so bemalten Grenz¬
pfählen umschlossen ist, sondern die Existenz des Menschengeschlechtes, die Funktion
seiner Gehirne ist und bleibt alles, und mit ihr sällt alles zusammen in nichts.

Man kann sich sogar eine riesige Felsenplatte denken, in die es unmöglich
ist einen Spatenstich Hineinzugraben oder ein einziges Korn auf ihr zu züchten
-— und doch kann darauf eine Gemeinschaft von Menschen leben und einen
Staat bilden.

Der Staat ist also nur ein Begriff, und dieser Begriff lebt oder stirbt mit
dem Bewußtsein des Menschen. Daher hat also das Volk auch den Staat
geschaffen, nicht der Staat sein Volk. Wenn es auch so scheinen mag, als ob
ein Staat vermöge der in ihm jahrhunderte- oder jahrzehntelang geltenden
Prinzipien und Gesetze den Charakter seines Volkes bestimmt oder die geistige
und moralische Entwicklung seiner Bürger und der heranwachsenden Generationen
beeinflußt — so ist es tatsächlich doch das Volk selbst, das den Staat (oder
Staatsbegriff) nur als Werkzeug benutzt.


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[0255] Staat und Handel furchtlos, dort in Südwest entstanden und breitete von dort seine Nation über die Welt aus und schickte seine achtunggebietende Flagge von dort aus über die Meere! Und wenn sie alle ihre Gesetzbücher zu Hause gelassen hätten, wo sie niemand mehr lesen kann, wo nur das Schaf oder die Maus in ihren Blättern schnüffeln — sie hätten ihre Gesetzgebung mitgenommen im Herzen und im Verstände und hätten ihre Moral und ihre Religion im Gemüt und in der Vernunft mit sich genommen — und hätten ihre Literatur und ihre Dichter und ihre Kunst und ihre Industrie und alles mit sich — denn all das steht und fällt mit der Existenz des Menschengeschlechtes! Oder ein anderes Beispiel. — Ganz Deutschland würde Haus und Hof verlassen und alle Menschen, die zwischen den deutschen Grenzpfählen leben, würden nach Frankreich auswandern. Alle Franzosen aber würden dafür ins Deutsche Reich wandern. Es würde lediglich nur ein Austausch der menschlichen Lebewesen beider Staaten stattfinden. Alles Vieh, alle Bücher, alle Kunst¬ erzeugnisse, alle Maschinen, alles andere würde da bleiben, wo es ist — nur die Menschen würden ausgetauscht werden! — Was würde der Fall sein? — Würde das Land zwischen den: Rhein und der Memel nicht in kürzester Frist Frankreich sein? Republik mit französischem Recht, französischen Sitten, französischer Kunst, Industrie und allem? — Und wäre nicht in kürzester Frist das jetzige Land Frankreich dann das Deutsche Kaiserreich? Lager in den jetzt französischen Häfen nicht deutsche Panzerschiffe, würde die dritte französische Wagenklasse der Eisenbahn nicht unter deutschen Beamten sauber werden wie unsere dritte, und sprächen deutsche Richter nicht ebenso Recht, wie sie in Deutsch¬ land sprechen? — Der Charakter der Nationen ist zwar stets durch Temperatur und Klima beeinflußt worden, für den aus Menschheitsgehirnen hervorgegangenen Begriff des Staates, des Staatswesens aber ist nur der Mensch alles. Es ist nicht die Hauptsache, ob das Stück Erde des Staates mit zufällig so bemalten Grenz¬ pfählen umschlossen ist, sondern die Existenz des Menschengeschlechtes, die Funktion seiner Gehirne ist und bleibt alles, und mit ihr sällt alles zusammen in nichts. Man kann sich sogar eine riesige Felsenplatte denken, in die es unmöglich ist einen Spatenstich Hineinzugraben oder ein einziges Korn auf ihr zu züchten -— und doch kann darauf eine Gemeinschaft von Menschen leben und einen Staat bilden. Der Staat ist also nur ein Begriff, und dieser Begriff lebt oder stirbt mit dem Bewußtsein des Menschen. Daher hat also das Volk auch den Staat geschaffen, nicht der Staat sein Volk. Wenn es auch so scheinen mag, als ob ein Staat vermöge der in ihm jahrhunderte- oder jahrzehntelang geltenden Prinzipien und Gesetze den Charakter seines Volkes bestimmt oder die geistige und moralische Entwicklung seiner Bürger und der heranwachsenden Generationen beeinflußt — so ist es tatsächlich doch das Volk selbst, das den Staat (oder Staatsbegriff) nur als Werkzeug benutzt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/255>, abgerufen am 04.01.2025.