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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Humor geschildert, wie sich der Klatsch der
kleinen Stadt an diese harmlose Begebenheit
hängt: Jung hat nicht etwa Eile gehabt, den
Zug noch zu erreichen, er ist vielmehr -- ge¬
flohen, ganz einfach ausgerückt aus dem Elend,
in das er durch seine Heirat geraten ist. La¬
winenartig wächst dieses Gerücht, und schließlich
flüstert man sich scheu in die Ohren, er habe
auch eine bedeutende Schuldenlast hinterlassen
und sogar Wechsel gefälscht. Man hat alle
Ursache, sich um die "arme berlassene Frau"
zu kümmern; die aber ist ein Schalk, sie wider¬
spricht nicht, sie sagt nichts, sie läßt im Ein¬
verständnis mit dem spottlustigen Onkel Karl
vielmehr alles über sich ergehen. Zuerst rücken
die früheren Verehrer Lottes, darunter auch
der Kritiker, an, dann auch die alten Tanten,
bis zuletzt der Fürst aufmerksam wird. Er
besichtigt Jungs Atelier und läßt eine Sonder-
ausstellnng seiner Bilder im Schloß veran¬
stalten. Die "Lady Macbeth" wird für die
fürstliche Galerie angekauft, und nun steht der
Verfemte Plötzlich im Mittelpunkt des Inter¬
esses. Seine Bilder werden als Meisterwerke
gepriesen und rasend gekauft; triumphierend
schwenkt Onkel Karl die blauen und braunen
Lappen in der Luft. Der am nächsten Be¬
teiligte, der Maler Jung, hat von all den
Vorgängen keine Ahnung, während seine junge
Frau und der Onkel Karl lachen, lachen, wie
der Leser es tut, wenn er die lustige Schilderung
dieser Begebenheiten liest.

Das Pflänzchen Humor gedeiht in unserer
Zeit, in der der Kampf ums Dasein auf allen
Gebieten so scharf entbrannt ist, nur noch
kümmerlich. DerWitz treibt allenthalben üppige
Blüten, die aber selten lieblichen Duft auf¬
atmen. Er löst auch nicht das befreiende
Lachen aus, nach dem wir alle uns sehnen.
Das kommt daher, weil er nicht dem Herzen,
sondern dem Verstände entspringt. "Das alte
Haus" ist ein mit goldigem Herzenshumor
geschriebenes Buch, das wir mit behaglichem
Lachen lesen, ohne daß eine Spur von Bitterkeit
P> Gr. zurückbleibt.

Bildende Aunst

Kaiser-Friedrich-Museum zu Magdeburg.
Die entwicklungsgeschichtliche Ordnung des
Museums, die in Ur. 26 der Grenzboten
besprochen worden ist, hat soeben ihren Ab¬

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schluß in der Neueinrichtung der Gemälde¬
sammlung gefunden. Was diesem Teil der
G^crie bisher zu seiner Abrundung fehlte,
War vor allem der ausreichende Raum;
jetzt sind durch den Fortzug des Kunstvereins,
dem die Stadt ein eigenes Heim gebaut hat,
die beiden Säle frei geworden, mit denen
die Darstellung der Malerei im fünfzehnten
Jahrhundert beginnt. Die Anlage des ganzen
Gebäudes bringt eS mit sich, daß man von
der großen Treppe im Obergeschoß zu¬
nächst in eine Halle kommt, von der aus
man einerseits die moderne Kunst in richtiger
Folge bis 1910 verfolgen kann, auf der
anderen Seite jedoch die Entwicklung von
1860 an gleichsam rückwärts aufrollt, um
vom letzten Raum an nochmals den historischen
Gang zu beginnen und dann, darauf fußend,
die neuere Malerei besser zu würdigen. So
führt das Museum selber den Betrachter und
lehrt ihn Zusammenhänge verstehen, die in
einem Durcheinander von Bildern und Zeiten
niemals klar werden können. Man könnte
hier fast von einer Erziehung zur Gerechtig¬
keit (im Sehen I) sprechen, wenn das Wort
Erziehung nicht schon zu doktrinär wäre für
die klare und mühelose Art, in der hier die
Kunstwerke selber sich und ihre Beziehungen
erläutern. Man wird nicht verwirrt durch
die Fülle der Erscheinungen, sondern durch
ihre Ordnung geklärt.

Der erste Raum enthält die farben¬
prächtige Kunst der Malerei im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert. Die Ent¬
deckung der Welt im Kleinen und Farbigen
spricht sich hier noch durchaus in religiösen
Darstellungen aus, deren farbiger Glanz
von keiner Zeit wieder erreicht worden ist.
Während hier noch im sechzehnten Jahrhundert
Deutschland die erste Stelle einnimmt und
nur ein paar Bilder nach der schönen
Form Italiens im Cinquecento weisen, breitet
sich im siebzehnten Jahrhundert die Wirklich¬
keitskunst der Niederländer in großer Fülle
aus: Landschaft und Genre herrschen vor, die
Farbe ist braungrün und trübe geworden.
Erst das achtzehnte Jahrhundert hellt sie
wieder auf, das mit Porträts, Landschaften
und Genrebildern vornehmlich von deutschen
Malern vertreten ist; man erinnert sich an die
hellen, hohen Säle des Rokoko und ihre

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Humor geschildert, wie sich der Klatsch der
kleinen Stadt an diese harmlose Begebenheit
hängt: Jung hat nicht etwa Eile gehabt, den
Zug noch zu erreichen, er ist vielmehr — ge¬
flohen, ganz einfach ausgerückt aus dem Elend,
in das er durch seine Heirat geraten ist. La¬
winenartig wächst dieses Gerücht, und schließlich
flüstert man sich scheu in die Ohren, er habe
auch eine bedeutende Schuldenlast hinterlassen
und sogar Wechsel gefälscht. Man hat alle
Ursache, sich um die „arme berlassene Frau"
zu kümmern; die aber ist ein Schalk, sie wider¬
spricht nicht, sie sagt nichts, sie läßt im Ein¬
verständnis mit dem spottlustigen Onkel Karl
vielmehr alles über sich ergehen. Zuerst rücken
die früheren Verehrer Lottes, darunter auch
der Kritiker, an, dann auch die alten Tanten,
bis zuletzt der Fürst aufmerksam wird. Er
besichtigt Jungs Atelier und läßt eine Sonder-
ausstellnng seiner Bilder im Schloß veran¬
stalten. Die „Lady Macbeth" wird für die
fürstliche Galerie angekauft, und nun steht der
Verfemte Plötzlich im Mittelpunkt des Inter¬
esses. Seine Bilder werden als Meisterwerke
gepriesen und rasend gekauft; triumphierend
schwenkt Onkel Karl die blauen und braunen
Lappen in der Luft. Der am nächsten Be¬
teiligte, der Maler Jung, hat von all den
Vorgängen keine Ahnung, während seine junge
Frau und der Onkel Karl lachen, lachen, wie
der Leser es tut, wenn er die lustige Schilderung
dieser Begebenheiten liest.

Das Pflänzchen Humor gedeiht in unserer
Zeit, in der der Kampf ums Dasein auf allen
Gebieten so scharf entbrannt ist, nur noch
kümmerlich. DerWitz treibt allenthalben üppige
Blüten, die aber selten lieblichen Duft auf¬
atmen. Er löst auch nicht das befreiende
Lachen aus, nach dem wir alle uns sehnen.
Das kommt daher, weil er nicht dem Herzen,
sondern dem Verstände entspringt. „Das alte
Haus" ist ein mit goldigem Herzenshumor
geschriebenes Buch, das wir mit behaglichem
Lachen lesen, ohne daß eine Spur von Bitterkeit
P> Gr. zurückbleibt.

Bildende Aunst

Kaiser-Friedrich-Museum zu Magdeburg.
Die entwicklungsgeschichtliche Ordnung des
Museums, die in Ur. 26 der Grenzboten
besprochen worden ist, hat soeben ihren Ab¬

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schluß in der Neueinrichtung der Gemälde¬
sammlung gefunden. Was diesem Teil der
G^crie bisher zu seiner Abrundung fehlte,
War vor allem der ausreichende Raum;
jetzt sind durch den Fortzug des Kunstvereins,
dem die Stadt ein eigenes Heim gebaut hat,
die beiden Säle frei geworden, mit denen
die Darstellung der Malerei im fünfzehnten
Jahrhundert beginnt. Die Anlage des ganzen
Gebäudes bringt eS mit sich, daß man von
der großen Treppe im Obergeschoß zu¬
nächst in eine Halle kommt, von der aus
man einerseits die moderne Kunst in richtiger
Folge bis 1910 verfolgen kann, auf der
anderen Seite jedoch die Entwicklung von
1860 an gleichsam rückwärts aufrollt, um
vom letzten Raum an nochmals den historischen
Gang zu beginnen und dann, darauf fußend,
die neuere Malerei besser zu würdigen. So
führt das Museum selber den Betrachter und
lehrt ihn Zusammenhänge verstehen, die in
einem Durcheinander von Bildern und Zeiten
niemals klar werden können. Man könnte
hier fast von einer Erziehung zur Gerechtig¬
keit (im Sehen I) sprechen, wenn das Wort
Erziehung nicht schon zu doktrinär wäre für
die klare und mühelose Art, in der hier die
Kunstwerke selber sich und ihre Beziehungen
erläutern. Man wird nicht verwirrt durch
die Fülle der Erscheinungen, sondern durch
ihre Ordnung geklärt.

Der erste Raum enthält die farben¬
prächtige Kunst der Malerei im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert. Die Ent¬
deckung der Welt im Kleinen und Farbigen
spricht sich hier noch durchaus in religiösen
Darstellungen aus, deren farbiger Glanz
von keiner Zeit wieder erreicht worden ist.
Während hier noch im sechzehnten Jahrhundert
Deutschland die erste Stelle einnimmt und
nur ein paar Bilder nach der schönen
Form Italiens im Cinquecento weisen, breitet
sich im siebzehnten Jahrhundert die Wirklich¬
keitskunst der Niederländer in großer Fülle
aus: Landschaft und Genre herrschen vor, die
Farbe ist braungrün und trübe geworden.
Erst das achtzehnte Jahrhundert hellt sie
wieder auf, das mit Porträts, Landschaften
und Genrebildern vornehmlich von deutschen
Malern vertreten ist; man erinnert sich an die
hellen, hohen Säle des Rokoko und ihre

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[0194] Maßgebliches und Unmaßgebliches Humor geschildert, wie sich der Klatsch der kleinen Stadt an diese harmlose Begebenheit hängt: Jung hat nicht etwa Eile gehabt, den Zug noch zu erreichen, er ist vielmehr — ge¬ flohen, ganz einfach ausgerückt aus dem Elend, in das er durch seine Heirat geraten ist. La¬ winenartig wächst dieses Gerücht, und schließlich flüstert man sich scheu in die Ohren, er habe auch eine bedeutende Schuldenlast hinterlassen und sogar Wechsel gefälscht. Man hat alle Ursache, sich um die „arme berlassene Frau" zu kümmern; die aber ist ein Schalk, sie wider¬ spricht nicht, sie sagt nichts, sie läßt im Ein¬ verständnis mit dem spottlustigen Onkel Karl vielmehr alles über sich ergehen. Zuerst rücken die früheren Verehrer Lottes, darunter auch der Kritiker, an, dann auch die alten Tanten, bis zuletzt der Fürst aufmerksam wird. Er besichtigt Jungs Atelier und läßt eine Sonder- ausstellnng seiner Bilder im Schloß veran¬ stalten. Die „Lady Macbeth" wird für die fürstliche Galerie angekauft, und nun steht der Verfemte Plötzlich im Mittelpunkt des Inter¬ esses. Seine Bilder werden als Meisterwerke gepriesen und rasend gekauft; triumphierend schwenkt Onkel Karl die blauen und braunen Lappen in der Luft. Der am nächsten Be¬ teiligte, der Maler Jung, hat von all den Vorgängen keine Ahnung, während seine junge Frau und der Onkel Karl lachen, lachen, wie der Leser es tut, wenn er die lustige Schilderung dieser Begebenheiten liest. Das Pflänzchen Humor gedeiht in unserer Zeit, in der der Kampf ums Dasein auf allen Gebieten so scharf entbrannt ist, nur noch kümmerlich. DerWitz treibt allenthalben üppige Blüten, die aber selten lieblichen Duft auf¬ atmen. Er löst auch nicht das befreiende Lachen aus, nach dem wir alle uns sehnen. Das kommt daher, weil er nicht dem Herzen, sondern dem Verstände entspringt. „Das alte Haus" ist ein mit goldigem Herzenshumor geschriebenes Buch, das wir mit behaglichem Lachen lesen, ohne daß eine Spur von Bitterkeit P> Gr. zurückbleibt. Bildende Aunst Kaiser-Friedrich-Museum zu Magdeburg. Die entwicklungsgeschichtliche Ordnung des Museums, die in Ur. 26 der Grenzboten besprochen worden ist, hat soeben ihren Ab¬ schluß in der Neueinrichtung der Gemälde¬ sammlung gefunden. Was diesem Teil der G^crie bisher zu seiner Abrundung fehlte, War vor allem der ausreichende Raum; jetzt sind durch den Fortzug des Kunstvereins, dem die Stadt ein eigenes Heim gebaut hat, die beiden Säle frei geworden, mit denen die Darstellung der Malerei im fünfzehnten Jahrhundert beginnt. Die Anlage des ganzen Gebäudes bringt eS mit sich, daß man von der großen Treppe im Obergeschoß zu¬ nächst in eine Halle kommt, von der aus man einerseits die moderne Kunst in richtiger Folge bis 1910 verfolgen kann, auf der anderen Seite jedoch die Entwicklung von 1860 an gleichsam rückwärts aufrollt, um vom letzten Raum an nochmals den historischen Gang zu beginnen und dann, darauf fußend, die neuere Malerei besser zu würdigen. So führt das Museum selber den Betrachter und lehrt ihn Zusammenhänge verstehen, die in einem Durcheinander von Bildern und Zeiten niemals klar werden können. Man könnte hier fast von einer Erziehung zur Gerechtig¬ keit (im Sehen I) sprechen, wenn das Wort Erziehung nicht schon zu doktrinär wäre für die klare und mühelose Art, in der hier die Kunstwerke selber sich und ihre Beziehungen erläutern. Man wird nicht verwirrt durch die Fülle der Erscheinungen, sondern durch ihre Ordnung geklärt. Der erste Raum enthält die farben¬ prächtige Kunst der Malerei im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. Die Ent¬ deckung der Welt im Kleinen und Farbigen spricht sich hier noch durchaus in religiösen Darstellungen aus, deren farbiger Glanz von keiner Zeit wieder erreicht worden ist. Während hier noch im sechzehnten Jahrhundert Deutschland die erste Stelle einnimmt und nur ein paar Bilder nach der schönen Form Italiens im Cinquecento weisen, breitet sich im siebzehnten Jahrhundert die Wirklich¬ keitskunst der Niederländer in großer Fülle aus: Landschaft und Genre herrschen vor, die Farbe ist braungrün und trübe geworden. Erst das achtzehnte Jahrhundert hellt sie wieder auf, das mit Porträts, Landschaften und Genrebildern vornehmlich von deutschen Malern vertreten ist; man erinnert sich an die hellen, hohen Säle des Rokoko und ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/194>, abgerufen am 29.12.2024.