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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Bausteine der chinesischen Anltur

Quelle, die über die altchinesische Religion Aufschluß gewährt, sind die bereits
wiederholt erwähnten, von Konfuzius gesammelten kanonischen Bücher; aber
was wir aus ihnen erfahren, ist leider wenig genug, soweit das Stoffliche, die
religiöse Vorstellungswelt, in Betracht kommt. Das rituelle Moment steht hier
durchaus im Vordergrunde. So viel aber ist aus jenen Texten klar ersichtlich,
daß schon in der ältesten uns zugänglichen Periode der chinesischen Geschichte
das religiöse Empfinden einen zwiefachen Ausdruck fand: erstens in einer Art
Naturreligion, nach der die ganze sichtbare Welt in allen ihren Teilen als von
Geistern oder Gottheiten bewohnt und beherrscht gedacht wird, und zweitens in
der Ahnenverehrung.

Obenan unter den Naturgottheiten steht der Himmel oder, wie er auch
genannt wird, der Shang-ti, d. h. der höchste Herrscher. Er lenkt die Geschicke
der Welt, des ganzen Reiches sowohl wie jedes einzelnen, indem er das Gute
belohnt und das Böse bestraft. Daraus geht zwar klar hervor, daß die alten
Chinesen in der Anbetung des Himmels ihrem Glauben an eine ausgleichende
Gerechtigkeit, an eine sittliche Weltordnung Ausdruck gaben; aber wie sie sich
das höchste Wesen beschaffen dachten, das sich nur durch sein Wirken und Walten
zu erkennen gibt, davon erfahren wir nichts. Nur zwei oder drei Beispiele
lassen sich aus dem kanonischen Buche der Lieder nachweisen, wo der Shang-ti
das eine Mal redend auftritt, das andere Mal, ähnlich dem alttestamentlichen
Jehova, sich am Dufte der Opfergaben labt. Das sind aber auch in der gesamten
ältesten Literatur die einzigen Andeutungen einer anthropomorphistischen Auffassung.

Der Himmel nimmt als oberste Gottheit eine alles so sehr überragende
Stellung ein, daß manche sich dadurch verleite" ließen, die alten Chinesen für
Monotheisten zu halten, was sie indessen keineswegs waren; denn tatsächlich
stand jeder Teil des Universums, jede Erscheinung der sichtbaren Welt unter
dem Schutze und der Herrschaft einer besonderen Gottheit. So gab es Schutz¬
gottheiten der Berge und Ströme, des Erdbodens und der Saaten, der himm¬
lischen Gestirne, des Windes, des Regens, des Donners u. a. in. Daß man
sich unter diesen Gottheiten nicht etwa mechanisch wirkende Kräfte, sondern
bewußt handelnde Wesen vorstellte, können wir jedoch lediglich aus der Tatsache
schließen, daß man sie durch Opfer und Gebet verehrte: im übrigen fehlt auch
hier jede Spur einer anthropomorphistischen Vorstellungsweise.

Das Moment des Persönlichen in dem Verhältnis des Menschen zu den
Wesen einer übernatürlichen Welt, das dieser Naturreligion so gänzlich fehlt,
kommt erst in der Ahnenverehrung zu seinem vollen Recht, die denn auch schon
im Altertum, wie sie es heute noch ist, die Religion des Volkes im eigentlichen
Sinne gewesen zu sein scheint.

Die Ahnenverehrung ist im Grunde nichts anderes als der religiöse Aus¬
druck des uno, eben jener kindlichen Pietät, die wir bereits als die Grundlage
der konfuzianischen Ethik kennen gelernt haben. Sie beruht auf dem Glauben,
daß die verstorbenen Vorfahren einen Einfluß auf die Geschicke ihrer über-


Bausteine der chinesischen Anltur

Quelle, die über die altchinesische Religion Aufschluß gewährt, sind die bereits
wiederholt erwähnten, von Konfuzius gesammelten kanonischen Bücher; aber
was wir aus ihnen erfahren, ist leider wenig genug, soweit das Stoffliche, die
religiöse Vorstellungswelt, in Betracht kommt. Das rituelle Moment steht hier
durchaus im Vordergrunde. So viel aber ist aus jenen Texten klar ersichtlich,
daß schon in der ältesten uns zugänglichen Periode der chinesischen Geschichte
das religiöse Empfinden einen zwiefachen Ausdruck fand: erstens in einer Art
Naturreligion, nach der die ganze sichtbare Welt in allen ihren Teilen als von
Geistern oder Gottheiten bewohnt und beherrscht gedacht wird, und zweitens in
der Ahnenverehrung.

Obenan unter den Naturgottheiten steht der Himmel oder, wie er auch
genannt wird, der Shang-ti, d. h. der höchste Herrscher. Er lenkt die Geschicke
der Welt, des ganzen Reiches sowohl wie jedes einzelnen, indem er das Gute
belohnt und das Böse bestraft. Daraus geht zwar klar hervor, daß die alten
Chinesen in der Anbetung des Himmels ihrem Glauben an eine ausgleichende
Gerechtigkeit, an eine sittliche Weltordnung Ausdruck gaben; aber wie sie sich
das höchste Wesen beschaffen dachten, das sich nur durch sein Wirken und Walten
zu erkennen gibt, davon erfahren wir nichts. Nur zwei oder drei Beispiele
lassen sich aus dem kanonischen Buche der Lieder nachweisen, wo der Shang-ti
das eine Mal redend auftritt, das andere Mal, ähnlich dem alttestamentlichen
Jehova, sich am Dufte der Opfergaben labt. Das sind aber auch in der gesamten
ältesten Literatur die einzigen Andeutungen einer anthropomorphistischen Auffassung.

Der Himmel nimmt als oberste Gottheit eine alles so sehr überragende
Stellung ein, daß manche sich dadurch verleite» ließen, die alten Chinesen für
Monotheisten zu halten, was sie indessen keineswegs waren; denn tatsächlich
stand jeder Teil des Universums, jede Erscheinung der sichtbaren Welt unter
dem Schutze und der Herrschaft einer besonderen Gottheit. So gab es Schutz¬
gottheiten der Berge und Ströme, des Erdbodens und der Saaten, der himm¬
lischen Gestirne, des Windes, des Regens, des Donners u. a. in. Daß man
sich unter diesen Gottheiten nicht etwa mechanisch wirkende Kräfte, sondern
bewußt handelnde Wesen vorstellte, können wir jedoch lediglich aus der Tatsache
schließen, daß man sie durch Opfer und Gebet verehrte: im übrigen fehlt auch
hier jede Spur einer anthropomorphistischen Vorstellungsweise.

Das Moment des Persönlichen in dem Verhältnis des Menschen zu den
Wesen einer übernatürlichen Welt, das dieser Naturreligion so gänzlich fehlt,
kommt erst in der Ahnenverehrung zu seinem vollen Recht, die denn auch schon
im Altertum, wie sie es heute noch ist, die Religion des Volkes im eigentlichen
Sinne gewesen zu sein scheint.

Die Ahnenverehrung ist im Grunde nichts anderes als der religiöse Aus¬
druck des uno, eben jener kindlichen Pietät, die wir bereits als die Grundlage
der konfuzianischen Ethik kennen gelernt haben. Sie beruht auf dem Glauben,
daß die verstorbenen Vorfahren einen Einfluß auf die Geschicke ihrer über-


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[0166] Bausteine der chinesischen Anltur Quelle, die über die altchinesische Religion Aufschluß gewährt, sind die bereits wiederholt erwähnten, von Konfuzius gesammelten kanonischen Bücher; aber was wir aus ihnen erfahren, ist leider wenig genug, soweit das Stoffliche, die religiöse Vorstellungswelt, in Betracht kommt. Das rituelle Moment steht hier durchaus im Vordergrunde. So viel aber ist aus jenen Texten klar ersichtlich, daß schon in der ältesten uns zugänglichen Periode der chinesischen Geschichte das religiöse Empfinden einen zwiefachen Ausdruck fand: erstens in einer Art Naturreligion, nach der die ganze sichtbare Welt in allen ihren Teilen als von Geistern oder Gottheiten bewohnt und beherrscht gedacht wird, und zweitens in der Ahnenverehrung. Obenan unter den Naturgottheiten steht der Himmel oder, wie er auch genannt wird, der Shang-ti, d. h. der höchste Herrscher. Er lenkt die Geschicke der Welt, des ganzen Reiches sowohl wie jedes einzelnen, indem er das Gute belohnt und das Böse bestraft. Daraus geht zwar klar hervor, daß die alten Chinesen in der Anbetung des Himmels ihrem Glauben an eine ausgleichende Gerechtigkeit, an eine sittliche Weltordnung Ausdruck gaben; aber wie sie sich das höchste Wesen beschaffen dachten, das sich nur durch sein Wirken und Walten zu erkennen gibt, davon erfahren wir nichts. Nur zwei oder drei Beispiele lassen sich aus dem kanonischen Buche der Lieder nachweisen, wo der Shang-ti das eine Mal redend auftritt, das andere Mal, ähnlich dem alttestamentlichen Jehova, sich am Dufte der Opfergaben labt. Das sind aber auch in der gesamten ältesten Literatur die einzigen Andeutungen einer anthropomorphistischen Auffassung. Der Himmel nimmt als oberste Gottheit eine alles so sehr überragende Stellung ein, daß manche sich dadurch verleite» ließen, die alten Chinesen für Monotheisten zu halten, was sie indessen keineswegs waren; denn tatsächlich stand jeder Teil des Universums, jede Erscheinung der sichtbaren Welt unter dem Schutze und der Herrschaft einer besonderen Gottheit. So gab es Schutz¬ gottheiten der Berge und Ströme, des Erdbodens und der Saaten, der himm¬ lischen Gestirne, des Windes, des Regens, des Donners u. a. in. Daß man sich unter diesen Gottheiten nicht etwa mechanisch wirkende Kräfte, sondern bewußt handelnde Wesen vorstellte, können wir jedoch lediglich aus der Tatsache schließen, daß man sie durch Opfer und Gebet verehrte: im übrigen fehlt auch hier jede Spur einer anthropomorphistischen Vorstellungsweise. Das Moment des Persönlichen in dem Verhältnis des Menschen zu den Wesen einer übernatürlichen Welt, das dieser Naturreligion so gänzlich fehlt, kommt erst in der Ahnenverehrung zu seinem vollen Recht, die denn auch schon im Altertum, wie sie es heute noch ist, die Religion des Volkes im eigentlichen Sinne gewesen zu sein scheint. Die Ahnenverehrung ist im Grunde nichts anderes als der religiöse Aus¬ druck des uno, eben jener kindlichen Pietät, die wir bereits als die Grundlage der konfuzianischen Ethik kennen gelernt haben. Sie beruht auf dem Glauben, daß die verstorbenen Vorfahren einen Einfluß auf die Geschicke ihrer über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/166>, abgerufen am 29.12.2024.