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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen

Ein Bedürfnis nach einem Zentralinstitut lag zweifellos vor. Die Kredit¬
organisation der Genossenschaften war unzureichend. Auf der einen Seite fehlte
im Neuwieder Verband eine genügende Dezentralisation, auf der anderen Seite
fehlte dem Reichsverband die notwendige Spitze in Gestalt eines lebenskräftigen
Zentralinstituts. Die Genossenschaften fanden aus sich heraus nicht die Kraft,
ein solches Institut, das, wenn es seinen Zweck erfüllen sollte, ein bedeutendes
Kapital erforderte, zu gründen. Das Großkapital und die Banken zeigten, wie
auch heute noch, für das Genossenschaftswesen ein äußerst geringes Verständnis;
die Deutsche Genossenschaftsbank, welche vielleicht am ehesten berufen gewesen
wäre, die Organisation in die Hand zu nehmen, stand völlig und ausschließlich
im Schulze-Delitzschschen Lager und wäre wohl auch bei gutem Willen nicht
imstande gewesen, den Antagonismus der beiden Richtungen zu überwinden
und zu versöhnen. So schob sich denn der Staat in die Lücke. Die Freunde
einer selbständigen und unabhängigen Entwicklung des Genossenschaftswesens,
vor allem der Schulze-Delitzschsche Verband, bekämpften auf das heftigste dieses
Einmischen des Staates, von dem sie die übelsten Folgen voraushaben.

Indessen die Preußenkasse ging ihren Weg. Die ländlichen Genossenschaften
begrüßten mit Freude den in Aussicht gestellten billigen Kredit und die bequeme
und sichere Art der Unterbringung fremder Gelder. So erhielt die Genossen¬
schaftsbewegung auf dem Lande einen mächtigen Impuls; eine Massengründung
von Genossenschaften setzte ein, und in wenigen Jahren vollzog sich eine wahrhaft
staunenswerte Entwicklung. Das Kapital der Preußenkasse wurde von ursprünglich
5 bis auf 75 Millionen Mark vermehrt; die ländlichen Genossenschaften sammelten
Spareinlagen von nahezu 2 Milliarden Mark an.

Unklar und im Grunde widerspruchsvoll blieb nur die Stellung der
Preußenkasse zu den beiden bestehenden Zentralinstituten, der Neuwieder Zentral¬
kasse und der 1902 vom Reichsverband errichteten Reichsgenossenschastsbank in
Darmstadt. Dies letztere Unternehmen war vom Reichsverband in das Leben
gerufen worden, um dem Mangel eines Kreditinstituts für seine Organisation --
reichlich spät! -- abzuhelfen. Dies erwies sich als wünschenswert, weil die
Preußenkasse zunächst doch nur ein preußisches Institut war, während der
Reichsverband ganz Deutschland umfaßte. Es bestanden also nunmehr drei
Zentralinstitute nebeneinander, die Preußenkasse, Neuwied und Darmstadt. Alle
hatten im Grunde die gleiche Aufgabe, uur daß die beiden genossenschaftlichen
Unternehmungen von vornherein wegen ihrer Kapitalschwäche auf den Kredit
der mächtigen Preußenkasse angewiesen waren. Dieses Nebeneinanderarbeiten
dreier Institute auf dem gleichen Arbeitsfeld mußte zu Unzuträglichkeiten und
Zusammenstößen führen, weil die Preußenkasse als die wirtschaftlich stärkere sich
ein konkurrierendes Eingreifen in die Verbindung mit preußischen Zentralkassen
nicht gefallen ließ. Sie oktroyierte daher den beiden genossenschaftlichen Instituten
1905 ein Vertragsverhältnis auf, wonach beide auf den Geld- und Kreditverkehr
mit preußischen Verbandskassen verzichten mußten. Auf der anderen Seite wurde


Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen

Ein Bedürfnis nach einem Zentralinstitut lag zweifellos vor. Die Kredit¬
organisation der Genossenschaften war unzureichend. Auf der einen Seite fehlte
im Neuwieder Verband eine genügende Dezentralisation, auf der anderen Seite
fehlte dem Reichsverband die notwendige Spitze in Gestalt eines lebenskräftigen
Zentralinstituts. Die Genossenschaften fanden aus sich heraus nicht die Kraft,
ein solches Institut, das, wenn es seinen Zweck erfüllen sollte, ein bedeutendes
Kapital erforderte, zu gründen. Das Großkapital und die Banken zeigten, wie
auch heute noch, für das Genossenschaftswesen ein äußerst geringes Verständnis;
die Deutsche Genossenschaftsbank, welche vielleicht am ehesten berufen gewesen
wäre, die Organisation in die Hand zu nehmen, stand völlig und ausschließlich
im Schulze-Delitzschschen Lager und wäre wohl auch bei gutem Willen nicht
imstande gewesen, den Antagonismus der beiden Richtungen zu überwinden
und zu versöhnen. So schob sich denn der Staat in die Lücke. Die Freunde
einer selbständigen und unabhängigen Entwicklung des Genossenschaftswesens,
vor allem der Schulze-Delitzschsche Verband, bekämpften auf das heftigste dieses
Einmischen des Staates, von dem sie die übelsten Folgen voraushaben.

Indessen die Preußenkasse ging ihren Weg. Die ländlichen Genossenschaften
begrüßten mit Freude den in Aussicht gestellten billigen Kredit und die bequeme
und sichere Art der Unterbringung fremder Gelder. So erhielt die Genossen¬
schaftsbewegung auf dem Lande einen mächtigen Impuls; eine Massengründung
von Genossenschaften setzte ein, und in wenigen Jahren vollzog sich eine wahrhaft
staunenswerte Entwicklung. Das Kapital der Preußenkasse wurde von ursprünglich
5 bis auf 75 Millionen Mark vermehrt; die ländlichen Genossenschaften sammelten
Spareinlagen von nahezu 2 Milliarden Mark an.

Unklar und im Grunde widerspruchsvoll blieb nur die Stellung der
Preußenkasse zu den beiden bestehenden Zentralinstituten, der Neuwieder Zentral¬
kasse und der 1902 vom Reichsverband errichteten Reichsgenossenschastsbank in
Darmstadt. Dies letztere Unternehmen war vom Reichsverband in das Leben
gerufen worden, um dem Mangel eines Kreditinstituts für seine Organisation —
reichlich spät! — abzuhelfen. Dies erwies sich als wünschenswert, weil die
Preußenkasse zunächst doch nur ein preußisches Institut war, während der
Reichsverband ganz Deutschland umfaßte. Es bestanden also nunmehr drei
Zentralinstitute nebeneinander, die Preußenkasse, Neuwied und Darmstadt. Alle
hatten im Grunde die gleiche Aufgabe, uur daß die beiden genossenschaftlichen
Unternehmungen von vornherein wegen ihrer Kapitalschwäche auf den Kredit
der mächtigen Preußenkasse angewiesen waren. Dieses Nebeneinanderarbeiten
dreier Institute auf dem gleichen Arbeitsfeld mußte zu Unzuträglichkeiten und
Zusammenstößen führen, weil die Preußenkasse als die wirtschaftlich stärkere sich
ein konkurrierendes Eingreifen in die Verbindung mit preußischen Zentralkassen
nicht gefallen ließ. Sie oktroyierte daher den beiden genossenschaftlichen Instituten
1905 ein Vertragsverhältnis auf, wonach beide auf den Geld- und Kreditverkehr
mit preußischen Verbandskassen verzichten mußten. Auf der anderen Seite wurde


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[0160] Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen Ein Bedürfnis nach einem Zentralinstitut lag zweifellos vor. Die Kredit¬ organisation der Genossenschaften war unzureichend. Auf der einen Seite fehlte im Neuwieder Verband eine genügende Dezentralisation, auf der anderen Seite fehlte dem Reichsverband die notwendige Spitze in Gestalt eines lebenskräftigen Zentralinstituts. Die Genossenschaften fanden aus sich heraus nicht die Kraft, ein solches Institut, das, wenn es seinen Zweck erfüllen sollte, ein bedeutendes Kapital erforderte, zu gründen. Das Großkapital und die Banken zeigten, wie auch heute noch, für das Genossenschaftswesen ein äußerst geringes Verständnis; die Deutsche Genossenschaftsbank, welche vielleicht am ehesten berufen gewesen wäre, die Organisation in die Hand zu nehmen, stand völlig und ausschließlich im Schulze-Delitzschschen Lager und wäre wohl auch bei gutem Willen nicht imstande gewesen, den Antagonismus der beiden Richtungen zu überwinden und zu versöhnen. So schob sich denn der Staat in die Lücke. Die Freunde einer selbständigen und unabhängigen Entwicklung des Genossenschaftswesens, vor allem der Schulze-Delitzschsche Verband, bekämpften auf das heftigste dieses Einmischen des Staates, von dem sie die übelsten Folgen voraushaben. Indessen die Preußenkasse ging ihren Weg. Die ländlichen Genossenschaften begrüßten mit Freude den in Aussicht gestellten billigen Kredit und die bequeme und sichere Art der Unterbringung fremder Gelder. So erhielt die Genossen¬ schaftsbewegung auf dem Lande einen mächtigen Impuls; eine Massengründung von Genossenschaften setzte ein, und in wenigen Jahren vollzog sich eine wahrhaft staunenswerte Entwicklung. Das Kapital der Preußenkasse wurde von ursprünglich 5 bis auf 75 Millionen Mark vermehrt; die ländlichen Genossenschaften sammelten Spareinlagen von nahezu 2 Milliarden Mark an. Unklar und im Grunde widerspruchsvoll blieb nur die Stellung der Preußenkasse zu den beiden bestehenden Zentralinstituten, der Neuwieder Zentral¬ kasse und der 1902 vom Reichsverband errichteten Reichsgenossenschastsbank in Darmstadt. Dies letztere Unternehmen war vom Reichsverband in das Leben gerufen worden, um dem Mangel eines Kreditinstituts für seine Organisation — reichlich spät! — abzuhelfen. Dies erwies sich als wünschenswert, weil die Preußenkasse zunächst doch nur ein preußisches Institut war, während der Reichsverband ganz Deutschland umfaßte. Es bestanden also nunmehr drei Zentralinstitute nebeneinander, die Preußenkasse, Neuwied und Darmstadt. Alle hatten im Grunde die gleiche Aufgabe, uur daß die beiden genossenschaftlichen Unternehmungen von vornherein wegen ihrer Kapitalschwäche auf den Kredit der mächtigen Preußenkasse angewiesen waren. Dieses Nebeneinanderarbeiten dreier Institute auf dem gleichen Arbeitsfeld mußte zu Unzuträglichkeiten und Zusammenstößen führen, weil die Preußenkasse als die wirtschaftlich stärkere sich ein konkurrierendes Eingreifen in die Verbindung mit preußischen Zentralkassen nicht gefallen ließ. Sie oktroyierte daher den beiden genossenschaftlichen Instituten 1905 ein Vertragsverhältnis auf, wonach beide auf den Geld- und Kreditverkehr mit preußischen Verbandskassen verzichten mußten. Auf der anderen Seite wurde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/160>, abgerufen am 01.01.2025.