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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen

Prinzip der Selbstverantwortlichkeit und der wirtschaftlichen Freiheit, auf der
anderen die staatliche Reglementierung.

Wie war es möglich, daß sich ein solcher Gegensatz zwischen den land¬
wirtschaftlichen Genossenschaften und dem Staatsinstitut herausbilden konnte?
Ist doch die Gründung der Preußenkasse im Kreise jener Genossenschaften mit
einem wahren Enthusiasmus aufgenommen wordenI Das landwirtschaftliche
Genossenschaftswesen verdankt auch unzweifelhaft dem Bestehen und der Wirk¬
samkeit des Staatsinstituts einen erheblichen Teil seiner Entwicklung. Erst seit
Gründung des letzteren hat es sich so mächtig entfaltet, daß es gegenwärtig
über dreiundzwanzigtausend Genossenschaften mit mehr als zwei Millionen Mit¬
gliedern umfaßt. Wenn also jetzt von feiten der Genossenschaften der Stand¬
punkt vertreten wird, daß die Haltung ihres Zentralinstituts sich nicht oder nicht
mehr in den Richtlinien bewegt, die sie selbst für das Gedeihen des Genossen¬
schaftswesens als förderlich erachten, so hat bei der außerordentlichen Wichtigkeit
des Genossenschaftswesens für die gesamte Volkswirtschaft die Öffentlichkeit nicht
nur das Recht, sondern die Pflicht, sich mit diesen Vorgängen zu beschäftigen,
um so mehr, als es sich um die Stellungnahme und das Eingreifen eines staat¬
lichen Instituts handelt.

Die praktische genossenschaftliche Arbeit ist in Deutschland von zwei
Männern und von zwei verschiedenen Ausgangspunkten in Angriff genommen
worden: von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen. Ersterer schnitt die Einrichtungen
seiner Genossenschaften nach den Bedürfnissen des städtischen Kleingewerbestandes
zu, letzterer hatte die ländlichen Verhältnisse vor Augen. Aus den verschiedenen
Grundanschauungen der beiden Männer, des liberalen Wirtschaftspolitikers und
des christlich-frommen Altruisten, ergab sich ein gänzlich verschiedener Aufbau
der beiden Genossenschaftsarten: bei Schulze-Delitzsch ein streng geschäftliches
Prinzip, bei Raiffeisen ein Obwalten caritativer Ideen. Der heftige theoretische
Kampf der beiden Richtungen spaltete von vornherein, leider sehr zum Schaden
der Gesamtentwicklung, das deutsche Genossenschaftswesen in zwei Lager; man
erkannte nicht, daß in gewissen trennenden Hauptfragen beide Teile recht hatten,
daß für die städtischen Kreditgenossenschaften die Schulzeschen Richtlinien zutreffend
waren, während die Eigenart des ländlichen Personalkredits Genossenschaften
nach Raiffeisenschem Muster mit Beschränkung auf die Dorfgemeinde und mit
ehrenamtlicher Verwaltung durch den Geistlichen oder Lehrer forderte. So
gingen denn beide Richtungen ihre eigenen Wege. Die Schulzeschen städtischen
Kreditgenossenschaften gelangten, insbesondere nachdem die rechtliche Grundlage
durch ein Genossenschaftsgesetz geschaffen war, zu einer überraschenden und
mächtigen Entwicklung. Jede einzelne Kreditgenossenschaft, gelehrt, nach rein
bankmäßigen Grundsätzen zu handeln, gestaltete sich zu einem selbständigen Wirt¬
schaftskörper, der in der Regel seine Aufgaben aus eigener Kraft erfüllen konnte.
Zwar schufen sich diese Genossenschaften in der Genossenschaftsbank von Sorget,
Parrisius u. Co. ein Zentralinstitut, um leichteren Zutritt zum Geldmarkt zu


Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen

Prinzip der Selbstverantwortlichkeit und der wirtschaftlichen Freiheit, auf der
anderen die staatliche Reglementierung.

Wie war es möglich, daß sich ein solcher Gegensatz zwischen den land¬
wirtschaftlichen Genossenschaften und dem Staatsinstitut herausbilden konnte?
Ist doch die Gründung der Preußenkasse im Kreise jener Genossenschaften mit
einem wahren Enthusiasmus aufgenommen wordenI Das landwirtschaftliche
Genossenschaftswesen verdankt auch unzweifelhaft dem Bestehen und der Wirk¬
samkeit des Staatsinstituts einen erheblichen Teil seiner Entwicklung. Erst seit
Gründung des letzteren hat es sich so mächtig entfaltet, daß es gegenwärtig
über dreiundzwanzigtausend Genossenschaften mit mehr als zwei Millionen Mit¬
gliedern umfaßt. Wenn also jetzt von feiten der Genossenschaften der Stand¬
punkt vertreten wird, daß die Haltung ihres Zentralinstituts sich nicht oder nicht
mehr in den Richtlinien bewegt, die sie selbst für das Gedeihen des Genossen¬
schaftswesens als förderlich erachten, so hat bei der außerordentlichen Wichtigkeit
des Genossenschaftswesens für die gesamte Volkswirtschaft die Öffentlichkeit nicht
nur das Recht, sondern die Pflicht, sich mit diesen Vorgängen zu beschäftigen,
um so mehr, als es sich um die Stellungnahme und das Eingreifen eines staat¬
lichen Instituts handelt.

Die praktische genossenschaftliche Arbeit ist in Deutschland von zwei
Männern und von zwei verschiedenen Ausgangspunkten in Angriff genommen
worden: von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen. Ersterer schnitt die Einrichtungen
seiner Genossenschaften nach den Bedürfnissen des städtischen Kleingewerbestandes
zu, letzterer hatte die ländlichen Verhältnisse vor Augen. Aus den verschiedenen
Grundanschauungen der beiden Männer, des liberalen Wirtschaftspolitikers und
des christlich-frommen Altruisten, ergab sich ein gänzlich verschiedener Aufbau
der beiden Genossenschaftsarten: bei Schulze-Delitzsch ein streng geschäftliches
Prinzip, bei Raiffeisen ein Obwalten caritativer Ideen. Der heftige theoretische
Kampf der beiden Richtungen spaltete von vornherein, leider sehr zum Schaden
der Gesamtentwicklung, das deutsche Genossenschaftswesen in zwei Lager; man
erkannte nicht, daß in gewissen trennenden Hauptfragen beide Teile recht hatten,
daß für die städtischen Kreditgenossenschaften die Schulzeschen Richtlinien zutreffend
waren, während die Eigenart des ländlichen Personalkredits Genossenschaften
nach Raiffeisenschem Muster mit Beschränkung auf die Dorfgemeinde und mit
ehrenamtlicher Verwaltung durch den Geistlichen oder Lehrer forderte. So
gingen denn beide Richtungen ihre eigenen Wege. Die Schulzeschen städtischen
Kreditgenossenschaften gelangten, insbesondere nachdem die rechtliche Grundlage
durch ein Genossenschaftsgesetz geschaffen war, zu einer überraschenden und
mächtigen Entwicklung. Jede einzelne Kreditgenossenschaft, gelehrt, nach rein
bankmäßigen Grundsätzen zu handeln, gestaltete sich zu einem selbständigen Wirt¬
schaftskörper, der in der Regel seine Aufgaben aus eigener Kraft erfüllen konnte.
Zwar schufen sich diese Genossenschaften in der Genossenschaftsbank von Sorget,
Parrisius u. Co. ein Zentralinstitut, um leichteren Zutritt zum Geldmarkt zu


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[0158] Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen Prinzip der Selbstverantwortlichkeit und der wirtschaftlichen Freiheit, auf der anderen die staatliche Reglementierung. Wie war es möglich, daß sich ein solcher Gegensatz zwischen den land¬ wirtschaftlichen Genossenschaften und dem Staatsinstitut herausbilden konnte? Ist doch die Gründung der Preußenkasse im Kreise jener Genossenschaften mit einem wahren Enthusiasmus aufgenommen wordenI Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen verdankt auch unzweifelhaft dem Bestehen und der Wirk¬ samkeit des Staatsinstituts einen erheblichen Teil seiner Entwicklung. Erst seit Gründung des letzteren hat es sich so mächtig entfaltet, daß es gegenwärtig über dreiundzwanzigtausend Genossenschaften mit mehr als zwei Millionen Mit¬ gliedern umfaßt. Wenn also jetzt von feiten der Genossenschaften der Stand¬ punkt vertreten wird, daß die Haltung ihres Zentralinstituts sich nicht oder nicht mehr in den Richtlinien bewegt, die sie selbst für das Gedeihen des Genossen¬ schaftswesens als förderlich erachten, so hat bei der außerordentlichen Wichtigkeit des Genossenschaftswesens für die gesamte Volkswirtschaft die Öffentlichkeit nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sich mit diesen Vorgängen zu beschäftigen, um so mehr, als es sich um die Stellungnahme und das Eingreifen eines staat¬ lichen Instituts handelt. Die praktische genossenschaftliche Arbeit ist in Deutschland von zwei Männern und von zwei verschiedenen Ausgangspunkten in Angriff genommen worden: von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen. Ersterer schnitt die Einrichtungen seiner Genossenschaften nach den Bedürfnissen des städtischen Kleingewerbestandes zu, letzterer hatte die ländlichen Verhältnisse vor Augen. Aus den verschiedenen Grundanschauungen der beiden Männer, des liberalen Wirtschaftspolitikers und des christlich-frommen Altruisten, ergab sich ein gänzlich verschiedener Aufbau der beiden Genossenschaftsarten: bei Schulze-Delitzsch ein streng geschäftliches Prinzip, bei Raiffeisen ein Obwalten caritativer Ideen. Der heftige theoretische Kampf der beiden Richtungen spaltete von vornherein, leider sehr zum Schaden der Gesamtentwicklung, das deutsche Genossenschaftswesen in zwei Lager; man erkannte nicht, daß in gewissen trennenden Hauptfragen beide Teile recht hatten, daß für die städtischen Kreditgenossenschaften die Schulzeschen Richtlinien zutreffend waren, während die Eigenart des ländlichen Personalkredits Genossenschaften nach Raiffeisenschem Muster mit Beschränkung auf die Dorfgemeinde und mit ehrenamtlicher Verwaltung durch den Geistlichen oder Lehrer forderte. So gingen denn beide Richtungen ihre eigenen Wege. Die Schulzeschen städtischen Kreditgenossenschaften gelangten, insbesondere nachdem die rechtliche Grundlage durch ein Genossenschaftsgesetz geschaffen war, zu einer überraschenden und mächtigen Entwicklung. Jede einzelne Kreditgenossenschaft, gelehrt, nach rein bankmäßigen Grundsätzen zu handeln, gestaltete sich zu einem selbständigen Wirt¬ schaftskörper, der in der Regel seine Aufgaben aus eigener Kraft erfüllen konnte. Zwar schufen sich diese Genossenschaften in der Genossenschaftsbank von Sorget, Parrisius u. Co. ein Zentralinstitut, um leichteren Zutritt zum Geldmarkt zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/158>, abgerufen am 29.12.2024.