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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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da könne eine Grabpflege doch überhaupt kaum in Betracht kommen. Aber
selbst wo der Turnus ein wesentlich längerer ist, kommen oft genug Verstöße
gegen ein durchaus berechtigtes pietätvolles Empfinden vor. Wie oft werden
nicht, besonders bei rasch sich ausdehnenden Großstädten, bei Neubauten Gräber
zerstört und die unvermoderten Knochen herausgeworfen und mit dem Bauschule
weggefahren, sofern die Schädel nicht vorher noch als Kinderspielzeug beuutzt
werden. In Berlin steht z. B. der Potsdamer Bahnhof auf einem alten Fried¬
hofsgelände und barg an seiner Ostseite, von einer hohen Mauer umgeben,
noch bis vor wenig Wochen einige Gräber, die bisher nicht zerstört werden
konnten, weil die Frist dafür noch nicht abgelaufen war. Jetzt erhebt sich an
dieser Stelle der Neubau eines der großen Kontorgebäude, wie sie für diesen
Teil der Berliner City charakteristisch sind. An der Westseite standen sogar bis
ebenfalls vor wenig Wochen noch einige Grabsteine in den Höfen der Hinter¬
häuser, die inzwischen ebenfalls verfallen sind. Das größte Kuriosum dieser
angeblich die Pietät sichernden Erdbestattung aber konnte man ebenfalls bis
vor wenig Wochen im Anfang der Berliner Chausseestraße in einer auf einem
Friedhofsgelände aus Brettern aufgeführten Zeitungsbude mit angrenzender
Lesehalle beobachten, aus deren Fußboden ein Grabstein herausragte, den man
bisher zu beseitigen nicht berechtigt war. Aber auch abgesehen von derartigen
Ausnahmefällen sind die großstädtischen Friedhöfe vielfach alles andere als eine
Stätte des Friedens, sondern kontrastieren eingebettet zwischen Eisenbahngleisen
vielfach aufs peinlichste mit ihrer eigentlichen Bestimmung. Infolgedessen ist
die Frage der Feuerbestattung in erster Linie eine großstädtische Frage,
und diejenigen, die sich ihr entgegengestellt haben, werden in bedauerlicher Weise
den oft recht ungünstigen Verhältnissen in der Großstadt nicht gerecht, wo
zweifellos die Feilerbestattung in vielen Fällen eine weit größere Pietät gewähr¬
leistet als die Erdbestattung. Auch ist nicht einzusehen, weshalb man die
Feuerbestattung denjenigen unmöglich machen will, deren Empfinden sie in
höherem Maße als die Erdbestattung entspricht. Zweifellos ist sie auch für
manche persönlichen Verhältnisse die geeignetere und pietätvollere, so für allein¬
stehende Menschen, deren Angehörige und Freunde vor ihnen ins Grab gesunken
sind und um deren Grab sich dereinst niemand kümmert. In derartigen Fällen
bedeutet zweifellos die Feuerbestattung eine größere Pietät als die Erdbestattung.
Auch für den Fall eines Krieges wäre ihre weitere Anwendung, ohne allerdings
dem Empfinden Andersdenkender damit uahetreten zu wollen, aus hygie¬
nischen und ästhetischen Gründen, sowie aus Gründen der Pietät wohl zu befür¬
worten -- trotzdem gerade Graf Haeseler unsere Kriegsgräber aus den Schlachten
des Krieges 1870/71 als ein Argument gegen die Feuerbestattung angeführt
hat. Denn wenn auch die Massengräber nach großen Schlachten, in denen die
Toten vier, fünf Reihen übereinander gebettet werden, vielleicht eine Notwendig¬
keit sind, so wird doch niemand behaupten können, daß diese Bestattnngsweise
den: Pietätsempfinden angemessen ist. Doch darüber mögen sich die Ansichten


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da könne eine Grabpflege doch überhaupt kaum in Betracht kommen. Aber
selbst wo der Turnus ein wesentlich längerer ist, kommen oft genug Verstöße
gegen ein durchaus berechtigtes pietätvolles Empfinden vor. Wie oft werden
nicht, besonders bei rasch sich ausdehnenden Großstädten, bei Neubauten Gräber
zerstört und die unvermoderten Knochen herausgeworfen und mit dem Bauschule
weggefahren, sofern die Schädel nicht vorher noch als Kinderspielzeug beuutzt
werden. In Berlin steht z. B. der Potsdamer Bahnhof auf einem alten Fried¬
hofsgelände und barg an seiner Ostseite, von einer hohen Mauer umgeben,
noch bis vor wenig Wochen einige Gräber, die bisher nicht zerstört werden
konnten, weil die Frist dafür noch nicht abgelaufen war. Jetzt erhebt sich an
dieser Stelle der Neubau eines der großen Kontorgebäude, wie sie für diesen
Teil der Berliner City charakteristisch sind. An der Westseite standen sogar bis
ebenfalls vor wenig Wochen noch einige Grabsteine in den Höfen der Hinter¬
häuser, die inzwischen ebenfalls verfallen sind. Das größte Kuriosum dieser
angeblich die Pietät sichernden Erdbestattung aber konnte man ebenfalls bis
vor wenig Wochen im Anfang der Berliner Chausseestraße in einer auf einem
Friedhofsgelände aus Brettern aufgeführten Zeitungsbude mit angrenzender
Lesehalle beobachten, aus deren Fußboden ein Grabstein herausragte, den man
bisher zu beseitigen nicht berechtigt war. Aber auch abgesehen von derartigen
Ausnahmefällen sind die großstädtischen Friedhöfe vielfach alles andere als eine
Stätte des Friedens, sondern kontrastieren eingebettet zwischen Eisenbahngleisen
vielfach aufs peinlichste mit ihrer eigentlichen Bestimmung. Infolgedessen ist
die Frage der Feuerbestattung in erster Linie eine großstädtische Frage,
und diejenigen, die sich ihr entgegengestellt haben, werden in bedauerlicher Weise
den oft recht ungünstigen Verhältnissen in der Großstadt nicht gerecht, wo
zweifellos die Feilerbestattung in vielen Fällen eine weit größere Pietät gewähr¬
leistet als die Erdbestattung. Auch ist nicht einzusehen, weshalb man die
Feuerbestattung denjenigen unmöglich machen will, deren Empfinden sie in
höherem Maße als die Erdbestattung entspricht. Zweifellos ist sie auch für
manche persönlichen Verhältnisse die geeignetere und pietätvollere, so für allein¬
stehende Menschen, deren Angehörige und Freunde vor ihnen ins Grab gesunken
sind und um deren Grab sich dereinst niemand kümmert. In derartigen Fällen
bedeutet zweifellos die Feuerbestattung eine größere Pietät als die Erdbestattung.
Auch für den Fall eines Krieges wäre ihre weitere Anwendung, ohne allerdings
dem Empfinden Andersdenkender damit uahetreten zu wollen, aus hygie¬
nischen und ästhetischen Gründen, sowie aus Gründen der Pietät wohl zu befür¬
worten — trotzdem gerade Graf Haeseler unsere Kriegsgräber aus den Schlachten
des Krieges 1870/71 als ein Argument gegen die Feuerbestattung angeführt
hat. Denn wenn auch die Massengräber nach großen Schlachten, in denen die
Toten vier, fünf Reihen übereinander gebettet werden, vielleicht eine Notwendig¬
keit sind, so wird doch niemand behaupten können, daß diese Bestattnngsweise
den: Pietätsempfinden angemessen ist. Doch darüber mögen sich die Ansichten


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[0103] Reichsspiegol da könne eine Grabpflege doch überhaupt kaum in Betracht kommen. Aber selbst wo der Turnus ein wesentlich längerer ist, kommen oft genug Verstöße gegen ein durchaus berechtigtes pietätvolles Empfinden vor. Wie oft werden nicht, besonders bei rasch sich ausdehnenden Großstädten, bei Neubauten Gräber zerstört und die unvermoderten Knochen herausgeworfen und mit dem Bauschule weggefahren, sofern die Schädel nicht vorher noch als Kinderspielzeug beuutzt werden. In Berlin steht z. B. der Potsdamer Bahnhof auf einem alten Fried¬ hofsgelände und barg an seiner Ostseite, von einer hohen Mauer umgeben, noch bis vor wenig Wochen einige Gräber, die bisher nicht zerstört werden konnten, weil die Frist dafür noch nicht abgelaufen war. Jetzt erhebt sich an dieser Stelle der Neubau eines der großen Kontorgebäude, wie sie für diesen Teil der Berliner City charakteristisch sind. An der Westseite standen sogar bis ebenfalls vor wenig Wochen noch einige Grabsteine in den Höfen der Hinter¬ häuser, die inzwischen ebenfalls verfallen sind. Das größte Kuriosum dieser angeblich die Pietät sichernden Erdbestattung aber konnte man ebenfalls bis vor wenig Wochen im Anfang der Berliner Chausseestraße in einer auf einem Friedhofsgelände aus Brettern aufgeführten Zeitungsbude mit angrenzender Lesehalle beobachten, aus deren Fußboden ein Grabstein herausragte, den man bisher zu beseitigen nicht berechtigt war. Aber auch abgesehen von derartigen Ausnahmefällen sind die großstädtischen Friedhöfe vielfach alles andere als eine Stätte des Friedens, sondern kontrastieren eingebettet zwischen Eisenbahngleisen vielfach aufs peinlichste mit ihrer eigentlichen Bestimmung. Infolgedessen ist die Frage der Feuerbestattung in erster Linie eine großstädtische Frage, und diejenigen, die sich ihr entgegengestellt haben, werden in bedauerlicher Weise den oft recht ungünstigen Verhältnissen in der Großstadt nicht gerecht, wo zweifellos die Feilerbestattung in vielen Fällen eine weit größere Pietät gewähr¬ leistet als die Erdbestattung. Auch ist nicht einzusehen, weshalb man die Feuerbestattung denjenigen unmöglich machen will, deren Empfinden sie in höherem Maße als die Erdbestattung entspricht. Zweifellos ist sie auch für manche persönlichen Verhältnisse die geeignetere und pietätvollere, so für allein¬ stehende Menschen, deren Angehörige und Freunde vor ihnen ins Grab gesunken sind und um deren Grab sich dereinst niemand kümmert. In derartigen Fällen bedeutet zweifellos die Feuerbestattung eine größere Pietät als die Erdbestattung. Auch für den Fall eines Krieges wäre ihre weitere Anwendung, ohne allerdings dem Empfinden Andersdenkender damit uahetreten zu wollen, aus hygie¬ nischen und ästhetischen Gründen, sowie aus Gründen der Pietät wohl zu befür¬ worten — trotzdem gerade Graf Haeseler unsere Kriegsgräber aus den Schlachten des Krieges 1870/71 als ein Argument gegen die Feuerbestattung angeführt hat. Denn wenn auch die Massengräber nach großen Schlachten, in denen die Toten vier, fünf Reihen übereinander gebettet werden, vielleicht eine Notwendig¬ keit sind, so wird doch niemand behaupten können, daß diese Bestattnngsweise den: Pietätsempfinden angemessen ist. Doch darüber mögen sich die Ansichten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/103>, abgerufen am 29.12.2024.