Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rcichssxicgcl

die Znsammenschweißnng der Altklerikalen mit der in Wien uns ganz anderen
Voraussetzungen erwachsenen christlichsozialen Partei zu einer "Reichspartei"
nicht haltbar sein iverdei aber man hatte damit gerechnet, daß die Neuwahlen für
den Ncichsrat erst in zwei Jahren stattfinden würden und sich entsprechend ein¬
gerichtet. Die vorzeitige Auflösung brachte den teilweisen Zusammenbrach schon
jetzt, und darum ist es eine Überraschung. Dabei behalte man aber im Auge, daß
es sich uur um einen teilweisen Zusammenbruch handelt, der im wesentlichen
nur die Reichshauptstadt betrifft. Die Partei als Ganzes hat lediglich einen
Verlust von 20 Mandaten, während 7<> ihr verbleiben. Die Frage, welche
Richtung die Politik dieser verbleibenden 7", einschlagen wird, wäre auch dann
brennend geworden, wenn die Wahlen in Wien günstiger verlaufen wären; bis
auf K setzen sich die 76 nämlich aus Vertretern bäuerlicher Wähler der Alpen¬
länder zusammen.

Das gegenwärtige Verhalten der christlich sozialen Partei erweckt nun den
Anschein, als ob sie ihre Niederlage dem Ministerium Bienerth werde entgelten
lassen. Doch hat es damit gute Wege. Mau wird diese Kampfansagen wohl
als die letzten Tränen des Kindes werten dürfen, dem die Puppe zerbrochen ist.
Die heute bedeutungsvollste Tatsache unter deu Ergebnisse!! der Wahlen ist, daß
die Rechnung Bicnerths sich nicht verwirklicht hat; die Stärkung der
Mehrheit, die durch eine Verringerung der sozialdemokratischen Mandate
um etwa achtzehn erfolgen sollte, ist nicht eingetreten. Aber man darf sich
darüber nicht täuschen, daß auch das für die Arbeitsfähigkeit des neuen Hanfes
nur vou ephemerer Bedeutung gewesen wäre. Es wird ja auch jetzt eine Zeitlang
ganz gut gehen; die Abgeordneten werden sich ermüdet von den Anstrengungen
des Wahlkampfes zunächst der wieder fließenden Diäten freuen, uach der ersten,
nur vierzehn Tage währenden Sommertagnng in die Sommerfrischen wandern
und sich im Herbst, wenn die Arbeit wieder ernstlich in Angriff genommen werden
soll, dem Ministerpräsidenten gegenüber zunächst jener Höflichkeit befleißige", die
man Leuten gegenüber zu zeigen pflegt, mit denen man Geschäfte zu machen
beabsichtigt. Dann wird die neue Wehrvorlage auf den Tisch des Hauses
gelegt werden; sie bietet anch dein Freunde einer Verstärkung der Wehrmacht der
Monarchie so viele Angriffspunkte, daß es gewaltiger Opfer des Intellekts bedürfen
wird, um sie unverändert durchzubringen, worauf die Regierung mit Rücksicht
auf die Verhältnisse in Ungarn bestehen muß. Die Opposition wird natürlich
alle Minen springen lassen -- es bedarf nicht allzu großer Dynamitmengen, ^
um die Tätigkeit des Hauses lahmzulegen -- und in sechs oder neun Monaten
wird man so ziemlich wieder dort sein, wo man vor drei Monaten war.
Eine Auflösung des Abgeordnetenhauses trifft eben nicht den Punkt, von dein
aus die meisten Leiden Österreichs zu heilen wären. Auch in Österreich ist das
Parlament dazu da, im Einvernehmen mit der Regierung Gesetze
auszuarbeiten und die Verwaltung zu kontrollieren, nicht aber um selbst zu
verwalte". Tatsächlich ist um die gesetzgeberische Arbeit, die hier geleistet wird,


Rcichssxicgcl

die Znsammenschweißnng der Altklerikalen mit der in Wien uns ganz anderen
Voraussetzungen erwachsenen christlichsozialen Partei zu einer „Reichspartei"
nicht haltbar sein iverdei aber man hatte damit gerechnet, daß die Neuwahlen für
den Ncichsrat erst in zwei Jahren stattfinden würden und sich entsprechend ein¬
gerichtet. Die vorzeitige Auflösung brachte den teilweisen Zusammenbrach schon
jetzt, und darum ist es eine Überraschung. Dabei behalte man aber im Auge, daß
es sich uur um einen teilweisen Zusammenbruch handelt, der im wesentlichen
nur die Reichshauptstadt betrifft. Die Partei als Ganzes hat lediglich einen
Verlust von 20 Mandaten, während 7<> ihr verbleiben. Die Frage, welche
Richtung die Politik dieser verbleibenden 7«, einschlagen wird, wäre auch dann
brennend geworden, wenn die Wahlen in Wien günstiger verlaufen wären; bis
auf K setzen sich die 76 nämlich aus Vertretern bäuerlicher Wähler der Alpen¬
länder zusammen.

Das gegenwärtige Verhalten der christlich sozialen Partei erweckt nun den
Anschein, als ob sie ihre Niederlage dem Ministerium Bienerth werde entgelten
lassen. Doch hat es damit gute Wege. Mau wird diese Kampfansagen wohl
als die letzten Tränen des Kindes werten dürfen, dem die Puppe zerbrochen ist.
Die heute bedeutungsvollste Tatsache unter deu Ergebnisse!! der Wahlen ist, daß
die Rechnung Bicnerths sich nicht verwirklicht hat; die Stärkung der
Mehrheit, die durch eine Verringerung der sozialdemokratischen Mandate
um etwa achtzehn erfolgen sollte, ist nicht eingetreten. Aber man darf sich
darüber nicht täuschen, daß auch das für die Arbeitsfähigkeit des neuen Hanfes
nur vou ephemerer Bedeutung gewesen wäre. Es wird ja auch jetzt eine Zeitlang
ganz gut gehen; die Abgeordneten werden sich ermüdet von den Anstrengungen
des Wahlkampfes zunächst der wieder fließenden Diäten freuen, uach der ersten,
nur vierzehn Tage währenden Sommertagnng in die Sommerfrischen wandern
und sich im Herbst, wenn die Arbeit wieder ernstlich in Angriff genommen werden
soll, dem Ministerpräsidenten gegenüber zunächst jener Höflichkeit befleißige», die
man Leuten gegenüber zu zeigen pflegt, mit denen man Geschäfte zu machen
beabsichtigt. Dann wird die neue Wehrvorlage auf den Tisch des Hauses
gelegt werden; sie bietet anch dein Freunde einer Verstärkung der Wehrmacht der
Monarchie so viele Angriffspunkte, daß es gewaltiger Opfer des Intellekts bedürfen
wird, um sie unverändert durchzubringen, worauf die Regierung mit Rücksicht
auf die Verhältnisse in Ungarn bestehen muß. Die Opposition wird natürlich
alle Minen springen lassen — es bedarf nicht allzu großer Dynamitmengen, ^
um die Tätigkeit des Hauses lahmzulegen — und in sechs oder neun Monaten
wird man so ziemlich wieder dort sein, wo man vor drei Monaten war.
Eine Auflösung des Abgeordnetenhauses trifft eben nicht den Punkt, von dein
aus die meisten Leiden Österreichs zu heilen wären. Auch in Österreich ist das
Parlament dazu da, im Einvernehmen mit der Regierung Gesetze
auszuarbeiten und die Verwaltung zu kontrollieren, nicht aber um selbst zu
verwalte». Tatsächlich ist um die gesetzgeberische Arbeit, die hier geleistet wird,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0652" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318935"/>
            <fw type="header" place="top"> Rcichssxicgcl</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_4957" prev="#ID_4956"> die Znsammenschweißnng der Altklerikalen mit der in Wien uns ganz anderen<lb/>
Voraussetzungen erwachsenen christlichsozialen Partei zu einer &#x201E;Reichspartei"<lb/>
nicht haltbar sein iverdei aber man hatte damit gerechnet, daß die Neuwahlen für<lb/>
den Ncichsrat erst in zwei Jahren stattfinden würden und sich entsprechend ein¬<lb/>
gerichtet. Die vorzeitige Auflösung brachte den teilweisen Zusammenbrach schon<lb/>
jetzt, und darum ist es eine Überraschung. Dabei behalte man aber im Auge, daß<lb/>
es sich uur um einen teilweisen Zusammenbruch handelt, der im wesentlichen<lb/>
nur die Reichshauptstadt betrifft. Die Partei als Ganzes hat lediglich einen<lb/>
Verlust von 20 Mandaten, während 7&lt;&gt; ihr verbleiben. Die Frage, welche<lb/>
Richtung die Politik dieser verbleibenden 7«, einschlagen wird, wäre auch dann<lb/>
brennend geworden, wenn die Wahlen in Wien günstiger verlaufen wären; bis<lb/>
auf K setzen sich die 76 nämlich aus Vertretern bäuerlicher Wähler der Alpen¬<lb/>
länder zusammen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_4958" next="#ID_4959"> Das gegenwärtige Verhalten der christlich sozialen Partei erweckt nun den<lb/>
Anschein, als ob sie ihre Niederlage dem Ministerium Bienerth werde entgelten<lb/>
lassen. Doch hat es damit gute Wege. Mau wird diese Kampfansagen wohl<lb/>
als die letzten Tränen des Kindes werten dürfen, dem die Puppe zerbrochen ist.<lb/>
Die heute bedeutungsvollste Tatsache unter deu Ergebnisse!! der Wahlen ist, daß<lb/>
die Rechnung Bicnerths sich nicht verwirklicht hat; die Stärkung der<lb/>
Mehrheit, die durch eine Verringerung der sozialdemokratischen Mandate<lb/>
um etwa achtzehn erfolgen sollte, ist nicht eingetreten. Aber man darf sich<lb/>
darüber nicht täuschen, daß auch das für die Arbeitsfähigkeit des neuen Hanfes<lb/>
nur vou ephemerer Bedeutung gewesen wäre. Es wird ja auch jetzt eine Zeitlang<lb/>
ganz gut gehen; die Abgeordneten werden sich ermüdet von den Anstrengungen<lb/>
des Wahlkampfes zunächst der wieder fließenden Diäten freuen, uach der ersten,<lb/>
nur vierzehn Tage währenden Sommertagnng in die Sommerfrischen wandern<lb/>
und sich im Herbst, wenn die Arbeit wieder ernstlich in Angriff genommen werden<lb/>
soll, dem Ministerpräsidenten gegenüber zunächst jener Höflichkeit befleißige», die<lb/>
man Leuten gegenüber zu zeigen pflegt, mit denen man Geschäfte zu machen<lb/>
beabsichtigt. Dann wird die neue Wehrvorlage auf den Tisch des Hauses<lb/>
gelegt werden; sie bietet anch dein Freunde einer Verstärkung der Wehrmacht der<lb/>
Monarchie so viele Angriffspunkte, daß es gewaltiger Opfer des Intellekts bedürfen<lb/>
wird, um sie unverändert durchzubringen, worauf die Regierung mit Rücksicht<lb/>
auf die Verhältnisse in Ungarn bestehen muß. Die Opposition wird natürlich<lb/>
alle Minen springen lassen &#x2014; es bedarf nicht allzu großer Dynamitmengen, ^<lb/>
um die Tätigkeit des Hauses lahmzulegen &#x2014; und in sechs oder neun Monaten<lb/>
wird man so ziemlich wieder dort sein, wo man vor drei Monaten war.<lb/>
Eine Auflösung des Abgeordnetenhauses trifft eben nicht den Punkt, von dein<lb/>
aus die meisten Leiden Österreichs zu heilen wären. Auch in Österreich ist das<lb/>
Parlament dazu da, im Einvernehmen mit der Regierung Gesetze<lb/>
auszuarbeiten und die Verwaltung zu kontrollieren, nicht aber um selbst zu<lb/>
verwalte». Tatsächlich ist um die gesetzgeberische Arbeit, die hier geleistet wird,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0652] Rcichssxicgcl die Znsammenschweißnng der Altklerikalen mit der in Wien uns ganz anderen Voraussetzungen erwachsenen christlichsozialen Partei zu einer „Reichspartei" nicht haltbar sein iverdei aber man hatte damit gerechnet, daß die Neuwahlen für den Ncichsrat erst in zwei Jahren stattfinden würden und sich entsprechend ein¬ gerichtet. Die vorzeitige Auflösung brachte den teilweisen Zusammenbrach schon jetzt, und darum ist es eine Überraschung. Dabei behalte man aber im Auge, daß es sich uur um einen teilweisen Zusammenbruch handelt, der im wesentlichen nur die Reichshauptstadt betrifft. Die Partei als Ganzes hat lediglich einen Verlust von 20 Mandaten, während 7<> ihr verbleiben. Die Frage, welche Richtung die Politik dieser verbleibenden 7«, einschlagen wird, wäre auch dann brennend geworden, wenn die Wahlen in Wien günstiger verlaufen wären; bis auf K setzen sich die 76 nämlich aus Vertretern bäuerlicher Wähler der Alpen¬ länder zusammen. Das gegenwärtige Verhalten der christlich sozialen Partei erweckt nun den Anschein, als ob sie ihre Niederlage dem Ministerium Bienerth werde entgelten lassen. Doch hat es damit gute Wege. Mau wird diese Kampfansagen wohl als die letzten Tränen des Kindes werten dürfen, dem die Puppe zerbrochen ist. Die heute bedeutungsvollste Tatsache unter deu Ergebnisse!! der Wahlen ist, daß die Rechnung Bicnerths sich nicht verwirklicht hat; die Stärkung der Mehrheit, die durch eine Verringerung der sozialdemokratischen Mandate um etwa achtzehn erfolgen sollte, ist nicht eingetreten. Aber man darf sich darüber nicht täuschen, daß auch das für die Arbeitsfähigkeit des neuen Hanfes nur vou ephemerer Bedeutung gewesen wäre. Es wird ja auch jetzt eine Zeitlang ganz gut gehen; die Abgeordneten werden sich ermüdet von den Anstrengungen des Wahlkampfes zunächst der wieder fließenden Diäten freuen, uach der ersten, nur vierzehn Tage währenden Sommertagnng in die Sommerfrischen wandern und sich im Herbst, wenn die Arbeit wieder ernstlich in Angriff genommen werden soll, dem Ministerpräsidenten gegenüber zunächst jener Höflichkeit befleißige», die man Leuten gegenüber zu zeigen pflegt, mit denen man Geschäfte zu machen beabsichtigt. Dann wird die neue Wehrvorlage auf den Tisch des Hauses gelegt werden; sie bietet anch dein Freunde einer Verstärkung der Wehrmacht der Monarchie so viele Angriffspunkte, daß es gewaltiger Opfer des Intellekts bedürfen wird, um sie unverändert durchzubringen, worauf die Regierung mit Rücksicht auf die Verhältnisse in Ungarn bestehen muß. Die Opposition wird natürlich alle Minen springen lassen — es bedarf nicht allzu großer Dynamitmengen, ^ um die Tätigkeit des Hauses lahmzulegen — und in sechs oder neun Monaten wird man so ziemlich wieder dort sein, wo man vor drei Monaten war. Eine Auflösung des Abgeordnetenhauses trifft eben nicht den Punkt, von dein aus die meisten Leiden Österreichs zu heilen wären. Auch in Österreich ist das Parlament dazu da, im Einvernehmen mit der Regierung Gesetze auszuarbeiten und die Verwaltung zu kontrollieren, nicht aber um selbst zu verwalte». Tatsächlich ist um die gesetzgeberische Arbeit, die hier geleistet wird,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/652
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/652>, abgerufen am 03.07.2024.