Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Religion

jährige Goethe aber war von dem Geschehnis nicht wenig betroffen. Nach seiner
Auffassung hatte sich Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden,
den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vor¬
stellte, keineswegs väterlich bewiesen, indem er die Gerechten mit den Ungerechten
gleichem Verderben preisgab.

Und schon genügte ihm auch der Religionsunterricht, den er erhielt, nicht.
Die Lehre konnte, so berichtet er, weder der Seele noch dem Herzen zusagen.
Eine Neigung zu den Leuten, die sich von der gesetzlichen Kirche abgesondert
hatten, zu deu Separatisten, Pietisten, Herrnhutern und ähnlichen Sektierern
begann sich in ihm zu entwickeln. In der Poesie fand diese Neigung später
ihren Niederschlag. Es braucht mir an das herrliche Fragment des "Ewigen
Juden" und an die "Bekenntnisse einer schönen Seele" im "Wilhelm Meister"
erinnert zu werden.

Wie sich hierin das Bestreben, sich vom allgemein Gültigen abzusondern,
sich neue Wege zu bahnen, die Macht selbständiger Eigenart, kurz die erste
Regung der Originalität kundgibt, so zeigt sich das Aufblühen freien Denkens
auch darin, daß der Knabe sich eine besondere Art der Verehrung Gottes
erfindet. Wie er in seiner Selbstbiographie erzählt, erbaute er sich aus dem
Notenpult seines Vaters und den besten Stücken einer mineralogischen Sammlung
einen Altar, auf dem entzündete Räucherkerzchen die Flamme bildeten. Die
aufgeschichteten Steine sollten die Welt im Gleichnis vorstellen. Die Flamme
bedeutete das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen.

Diese eigentümliche Wirkung des gewaltigen Naturereignisses auf das kindliche
Gemüt und das Bedürfnis des Knaben nach einer eigenen Forni der Gottes-
verehrung zeigen, daß der Goethischen Individualität von vornherein ein
religiöser Hang innewohnte, daß er im Grunde eine religiöse Natur war.

Wie stark diese ursprüngliche Neigung in Goethe wurzelte, lehrt auch die
Tatsache, daß er in Straßburg mit einer theologischen Abhandlung promovieren
wollte, die aber wegen ihres allzu freisinnigen Geistes vor der juristischen Fakultät
keine Gnade fand. Und noch vor seiner ersten großen Dichtung, dem "Götz
von Berlichingen", aber in demselben Jahr wie diese, ließ er drei kleine
theologische Schriften erscheinen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.
Nur hervorheben will ich, daß er sich in der einen sehr entschieden gegen die
Verdammung der Heiden wendet und als den großen Mittelpunkt unseres
Glaubens die ewige Liebe hinstellt. "Gott und Liebe", heißt es einmal, "sind
Synonyma."

In diesen Schriften stellt sich Goethe auf den Standpunkt eines gläubigen
Christen. Er tut es in der Form, daß er in: Namen eines -Pfarrers spricht.
Unzweifelhaft tut er das. weil er persönlich über diesen Standpunkt schon hinaus
war. Das lehren seine Dichtungen ebenso wie eine Reihe brieflicher Äußerungen.

Es ist immer schwer, bei objektiven Dichtungen wie Dramen und Epen zu
bestimmen, wieviel von dem Fühlen und Denken der vom Autor dargestellten


Grenzboten II 1911 ^
Goethes Religion

jährige Goethe aber war von dem Geschehnis nicht wenig betroffen. Nach seiner
Auffassung hatte sich Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden,
den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vor¬
stellte, keineswegs väterlich bewiesen, indem er die Gerechten mit den Ungerechten
gleichem Verderben preisgab.

Und schon genügte ihm auch der Religionsunterricht, den er erhielt, nicht.
Die Lehre konnte, so berichtet er, weder der Seele noch dem Herzen zusagen.
Eine Neigung zu den Leuten, die sich von der gesetzlichen Kirche abgesondert
hatten, zu deu Separatisten, Pietisten, Herrnhutern und ähnlichen Sektierern
begann sich in ihm zu entwickeln. In der Poesie fand diese Neigung später
ihren Niederschlag. Es braucht mir an das herrliche Fragment des „Ewigen
Juden" und an die „Bekenntnisse einer schönen Seele" im „Wilhelm Meister"
erinnert zu werden.

Wie sich hierin das Bestreben, sich vom allgemein Gültigen abzusondern,
sich neue Wege zu bahnen, die Macht selbständiger Eigenart, kurz die erste
Regung der Originalität kundgibt, so zeigt sich das Aufblühen freien Denkens
auch darin, daß der Knabe sich eine besondere Art der Verehrung Gottes
erfindet. Wie er in seiner Selbstbiographie erzählt, erbaute er sich aus dem
Notenpult seines Vaters und den besten Stücken einer mineralogischen Sammlung
einen Altar, auf dem entzündete Räucherkerzchen die Flamme bildeten. Die
aufgeschichteten Steine sollten die Welt im Gleichnis vorstellen. Die Flamme
bedeutete das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen.

Diese eigentümliche Wirkung des gewaltigen Naturereignisses auf das kindliche
Gemüt und das Bedürfnis des Knaben nach einer eigenen Forni der Gottes-
verehrung zeigen, daß der Goethischen Individualität von vornherein ein
religiöser Hang innewohnte, daß er im Grunde eine religiöse Natur war.

Wie stark diese ursprüngliche Neigung in Goethe wurzelte, lehrt auch die
Tatsache, daß er in Straßburg mit einer theologischen Abhandlung promovieren
wollte, die aber wegen ihres allzu freisinnigen Geistes vor der juristischen Fakultät
keine Gnade fand. Und noch vor seiner ersten großen Dichtung, dem „Götz
von Berlichingen", aber in demselben Jahr wie diese, ließ er drei kleine
theologische Schriften erscheinen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.
Nur hervorheben will ich, daß er sich in der einen sehr entschieden gegen die
Verdammung der Heiden wendet und als den großen Mittelpunkt unseres
Glaubens die ewige Liebe hinstellt. „Gott und Liebe", heißt es einmal, „sind
Synonyma."

In diesen Schriften stellt sich Goethe auf den Standpunkt eines gläubigen
Christen. Er tut es in der Form, daß er in: Namen eines -Pfarrers spricht.
Unzweifelhaft tut er das. weil er persönlich über diesen Standpunkt schon hinaus
war. Das lehren seine Dichtungen ebenso wie eine Reihe brieflicher Äußerungen.

Es ist immer schwer, bei objektiven Dichtungen wie Dramen und Epen zu
bestimmen, wieviel von dem Fühlen und Denken der vom Autor dargestellten


Grenzboten II 1911 ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0613" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318896"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Religion</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_4158" prev="#ID_4157"> jährige Goethe aber war von dem Geschehnis nicht wenig betroffen. Nach seiner<lb/>
Auffassung hatte sich Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden,<lb/>
den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vor¬<lb/>
stellte, keineswegs väterlich bewiesen, indem er die Gerechten mit den Ungerechten<lb/>
gleichem Verderben preisgab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_4159"> Und schon genügte ihm auch der Religionsunterricht, den er erhielt, nicht.<lb/>
Die Lehre konnte, so berichtet er, weder der Seele noch dem Herzen zusagen.<lb/>
Eine Neigung zu den Leuten, die sich von der gesetzlichen Kirche abgesondert<lb/>
hatten, zu deu Separatisten, Pietisten, Herrnhutern und ähnlichen Sektierern<lb/>
begann sich in ihm zu entwickeln. In der Poesie fand diese Neigung später<lb/>
ihren Niederschlag. Es braucht mir an das herrliche Fragment des &#x201E;Ewigen<lb/>
Juden" und an die &#x201E;Bekenntnisse einer schönen Seele" im &#x201E;Wilhelm Meister"<lb/>
erinnert zu werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_4160"> Wie sich hierin das Bestreben, sich vom allgemein Gültigen abzusondern,<lb/>
sich neue Wege zu bahnen, die Macht selbständiger Eigenart, kurz die erste<lb/>
Regung der Originalität kundgibt, so zeigt sich das Aufblühen freien Denkens<lb/>
auch darin, daß der Knabe sich eine besondere Art der Verehrung Gottes<lb/>
erfindet. Wie er in seiner Selbstbiographie erzählt, erbaute er sich aus dem<lb/>
Notenpult seines Vaters und den besten Stücken einer mineralogischen Sammlung<lb/>
einen Altar, auf dem entzündete Räucherkerzchen die Flamme bildeten. Die<lb/>
aufgeschichteten Steine sollten die Welt im Gleichnis vorstellen. Die Flamme<lb/>
bedeutete das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_4161"> Diese eigentümliche Wirkung des gewaltigen Naturereignisses auf das kindliche<lb/>
Gemüt und das Bedürfnis des Knaben nach einer eigenen Forni der Gottes-<lb/>
verehrung zeigen, daß der Goethischen Individualität von vornherein ein<lb/>
religiöser Hang innewohnte, daß er im Grunde eine religiöse Natur war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_4162"> Wie stark diese ursprüngliche Neigung in Goethe wurzelte, lehrt auch die<lb/>
Tatsache, daß er in Straßburg mit einer theologischen Abhandlung promovieren<lb/>
wollte, die aber wegen ihres allzu freisinnigen Geistes vor der juristischen Fakultät<lb/>
keine Gnade fand. Und noch vor seiner ersten großen Dichtung, dem &#x201E;Götz<lb/>
von Berlichingen", aber in demselben Jahr wie diese, ließ er drei kleine<lb/>
theologische Schriften erscheinen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.<lb/>
Nur hervorheben will ich, daß er sich in der einen sehr entschieden gegen die<lb/>
Verdammung der Heiden wendet und als den großen Mittelpunkt unseres<lb/>
Glaubens die ewige Liebe hinstellt. &#x201E;Gott und Liebe", heißt es einmal, &#x201E;sind<lb/>
Synonyma."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_4163"> In diesen Schriften stellt sich Goethe auf den Standpunkt eines gläubigen<lb/>
Christen. Er tut es in der Form, daß er in: Namen eines -Pfarrers spricht.<lb/>
Unzweifelhaft tut er das. weil er persönlich über diesen Standpunkt schon hinaus<lb/>
war. Das lehren seine Dichtungen ebenso wie eine Reihe brieflicher Äußerungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_4164" next="#ID_4165"> Es ist immer schwer, bei objektiven Dichtungen wie Dramen und Epen zu<lb/>
bestimmen, wieviel von dem Fühlen und Denken der vom Autor dargestellten</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1911 ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0613] Goethes Religion jährige Goethe aber war von dem Geschehnis nicht wenig betroffen. Nach seiner Auffassung hatte sich Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vor¬ stellte, keineswegs väterlich bewiesen, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab. Und schon genügte ihm auch der Religionsunterricht, den er erhielt, nicht. Die Lehre konnte, so berichtet er, weder der Seele noch dem Herzen zusagen. Eine Neigung zu den Leuten, die sich von der gesetzlichen Kirche abgesondert hatten, zu deu Separatisten, Pietisten, Herrnhutern und ähnlichen Sektierern begann sich in ihm zu entwickeln. In der Poesie fand diese Neigung später ihren Niederschlag. Es braucht mir an das herrliche Fragment des „Ewigen Juden" und an die „Bekenntnisse einer schönen Seele" im „Wilhelm Meister" erinnert zu werden. Wie sich hierin das Bestreben, sich vom allgemein Gültigen abzusondern, sich neue Wege zu bahnen, die Macht selbständiger Eigenart, kurz die erste Regung der Originalität kundgibt, so zeigt sich das Aufblühen freien Denkens auch darin, daß der Knabe sich eine besondere Art der Verehrung Gottes erfindet. Wie er in seiner Selbstbiographie erzählt, erbaute er sich aus dem Notenpult seines Vaters und den besten Stücken einer mineralogischen Sammlung einen Altar, auf dem entzündete Räucherkerzchen die Flamme bildeten. Die aufgeschichteten Steine sollten die Welt im Gleichnis vorstellen. Die Flamme bedeutete das zu seinem Schöpfer sich aufsehnende Gemüt des Menschen. Diese eigentümliche Wirkung des gewaltigen Naturereignisses auf das kindliche Gemüt und das Bedürfnis des Knaben nach einer eigenen Forni der Gottes- verehrung zeigen, daß der Goethischen Individualität von vornherein ein religiöser Hang innewohnte, daß er im Grunde eine religiöse Natur war. Wie stark diese ursprüngliche Neigung in Goethe wurzelte, lehrt auch die Tatsache, daß er in Straßburg mit einer theologischen Abhandlung promovieren wollte, die aber wegen ihres allzu freisinnigen Geistes vor der juristischen Fakultät keine Gnade fand. Und noch vor seiner ersten großen Dichtung, dem „Götz von Berlichingen", aber in demselben Jahr wie diese, ließ er drei kleine theologische Schriften erscheinen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Nur hervorheben will ich, daß er sich in der einen sehr entschieden gegen die Verdammung der Heiden wendet und als den großen Mittelpunkt unseres Glaubens die ewige Liebe hinstellt. „Gott und Liebe", heißt es einmal, „sind Synonyma." In diesen Schriften stellt sich Goethe auf den Standpunkt eines gläubigen Christen. Er tut es in der Form, daß er in: Namen eines -Pfarrers spricht. Unzweifelhaft tut er das. weil er persönlich über diesen Standpunkt schon hinaus war. Das lehren seine Dichtungen ebenso wie eine Reihe brieflicher Äußerungen. Es ist immer schwer, bei objektiven Dichtungen wie Dramen und Epen zu bestimmen, wieviel von dem Fühlen und Denken der vom Autor dargestellten Grenzboten II 1911 ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/613
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/613>, abgerufen am 03.07.2024.