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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Sorgen und Stützen britischer lveltpolitik

bisweilen doch so weit gegangen, daß dieser Anschein nicht ganz vermieden wurde.
Verhältnismäßig unbedeutend, aber doch recht bezeichnend war im Herbst 1910
die Weigerung Frankreichs, die Jahresversammlung der Jungägypter in den
Mauern von Paris tagen zu lassen. Ist doch gerade in Ägypten durch das
ganze letzte Jahrhundert hindurch Frankreich den Engländern oft genug entgegen¬
getreten! Im Jahre 1798 mußte es sich durch Nelsons Flotte in seinen ägyptischen
Unternehmungen schwer beeinträchtigen lassen; das Jahr 1840 führte aufs neue
dicht an einen englisch-französischen Krieg um Ägypten; um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts entspann sich das langwierige Ringen Englands gegen
den Bau des Suezkanals durch Frankreich, bis dann England selbst den fertigen
Kanal schließlich in seine Hände brachte und weiterhin das von Frankreich
beharrlich erstrebte Ägypten selbst mit Beschlag belegte. Erst nachdem zu Ausgang
des vorigen Jahrhunderts Frankreich noch einmal versucht hatte, wenigstens an
den oberen Nil vorzustoßen, brachte dieses Jahrhundert nach der französischen
Schlappe bei Faschoda die endgültige friedliche Verständigung zwischen Frankreich
und England über Ägypten, indem England die Franzosen mit der Zulassung
des marokkanischen Abenteuers abspeiste.

Noch im Jahre 1905, als Delcass6 bereits die eifrigsten Versuche unter¬
nommen hatte, England nahe zu kommen, zeigte die offiziöse Pariser Presse
England gegenüber doch eine sehr selbständige Haltung. So las man noch im
Juni jenes Jahres, als ein deutsch-französischer Krieg unmittelbar bevorzustehen
schien, im Temps, daß England, wenn es einen Krieg gegen Deutschland wolle,
bedenken müsse, "daß eine große Nation wie Frankreich Herrin ihrer Ent¬
schließungen ist und sich nicht in einen Krieg einlassen kann, um die Geschäfte
einer dritten Macht zu besorgen". Weiter wurde England darauf hingewiesen,
daß es nach eigenem Geständnis nicht imstande wäre, Frankreich kontinentale
Bürgschaften zu leisten. Aber schon am 9. Juli desselben Jahres wurde der
Besuch der englischen Flotte in Brest mit ostentativer Herzlichkeit ausgenommen;
und noch bevor die britischen Panzerschiffe den französischen Hafen verlassen
hatten, gab der zurückgetretene Delcassö sein Programm der französisch-britischen
Bündnispolitik bekannt. Ein Vierteljahr später verriet er das von England
mündlich gegebene Versprechen, es werde im Falle eines deutschen Angriffes auf
Frankreich seine Flotte mobil machen, den Kaiser-Wilhelm-Kanal besetzen und
hunderttausend Mann in Schleswig-Holstein landen. Das französisch-englische
Militärabkommen, dessen Bestehen von der Regierung bestritten wurde, beschäftigte
auch im Herbst 1906 wieder die Pariser Kammer, wobei die Minister sich in
Schweigen hüllten. Im Mai 1908 wurde im Buckinghampalast die "englisch¬
französische Entente" gefeiert, von der französischen Presse aber immer noch der
Vorbehalt gemacht, daß England zunächst sein Landhecr zu vergrößern habe,
um für Frankreich ein vollwertiger Bundesgenosse zu sein.




Sorgen und Stützen britischer lveltpolitik

bisweilen doch so weit gegangen, daß dieser Anschein nicht ganz vermieden wurde.
Verhältnismäßig unbedeutend, aber doch recht bezeichnend war im Herbst 1910
die Weigerung Frankreichs, die Jahresversammlung der Jungägypter in den
Mauern von Paris tagen zu lassen. Ist doch gerade in Ägypten durch das
ganze letzte Jahrhundert hindurch Frankreich den Engländern oft genug entgegen¬
getreten! Im Jahre 1798 mußte es sich durch Nelsons Flotte in seinen ägyptischen
Unternehmungen schwer beeinträchtigen lassen; das Jahr 1840 führte aufs neue
dicht an einen englisch-französischen Krieg um Ägypten; um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts entspann sich das langwierige Ringen Englands gegen
den Bau des Suezkanals durch Frankreich, bis dann England selbst den fertigen
Kanal schließlich in seine Hände brachte und weiterhin das von Frankreich
beharrlich erstrebte Ägypten selbst mit Beschlag belegte. Erst nachdem zu Ausgang
des vorigen Jahrhunderts Frankreich noch einmal versucht hatte, wenigstens an
den oberen Nil vorzustoßen, brachte dieses Jahrhundert nach der französischen
Schlappe bei Faschoda die endgültige friedliche Verständigung zwischen Frankreich
und England über Ägypten, indem England die Franzosen mit der Zulassung
des marokkanischen Abenteuers abspeiste.

Noch im Jahre 1905, als Delcass6 bereits die eifrigsten Versuche unter¬
nommen hatte, England nahe zu kommen, zeigte die offiziöse Pariser Presse
England gegenüber doch eine sehr selbständige Haltung. So las man noch im
Juni jenes Jahres, als ein deutsch-französischer Krieg unmittelbar bevorzustehen
schien, im Temps, daß England, wenn es einen Krieg gegen Deutschland wolle,
bedenken müsse, „daß eine große Nation wie Frankreich Herrin ihrer Ent¬
schließungen ist und sich nicht in einen Krieg einlassen kann, um die Geschäfte
einer dritten Macht zu besorgen". Weiter wurde England darauf hingewiesen,
daß es nach eigenem Geständnis nicht imstande wäre, Frankreich kontinentale
Bürgschaften zu leisten. Aber schon am 9. Juli desselben Jahres wurde der
Besuch der englischen Flotte in Brest mit ostentativer Herzlichkeit ausgenommen;
und noch bevor die britischen Panzerschiffe den französischen Hafen verlassen
hatten, gab der zurückgetretene Delcassö sein Programm der französisch-britischen
Bündnispolitik bekannt. Ein Vierteljahr später verriet er das von England
mündlich gegebene Versprechen, es werde im Falle eines deutschen Angriffes auf
Frankreich seine Flotte mobil machen, den Kaiser-Wilhelm-Kanal besetzen und
hunderttausend Mann in Schleswig-Holstein landen. Das französisch-englische
Militärabkommen, dessen Bestehen von der Regierung bestritten wurde, beschäftigte
auch im Herbst 1906 wieder die Pariser Kammer, wobei die Minister sich in
Schweigen hüllten. Im Mai 1908 wurde im Buckinghampalast die „englisch¬
französische Entente" gefeiert, von der französischen Presse aber immer noch der
Vorbehalt gemacht, daß England zunächst sein Landhecr zu vergrößern habe,
um für Frankreich ein vollwertiger Bundesgenosse zu sein.




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[0512] Sorgen und Stützen britischer lveltpolitik bisweilen doch so weit gegangen, daß dieser Anschein nicht ganz vermieden wurde. Verhältnismäßig unbedeutend, aber doch recht bezeichnend war im Herbst 1910 die Weigerung Frankreichs, die Jahresversammlung der Jungägypter in den Mauern von Paris tagen zu lassen. Ist doch gerade in Ägypten durch das ganze letzte Jahrhundert hindurch Frankreich den Engländern oft genug entgegen¬ getreten! Im Jahre 1798 mußte es sich durch Nelsons Flotte in seinen ägyptischen Unternehmungen schwer beeinträchtigen lassen; das Jahr 1840 führte aufs neue dicht an einen englisch-französischen Krieg um Ägypten; um die Mitte des vorigen Jahrhunderts entspann sich das langwierige Ringen Englands gegen den Bau des Suezkanals durch Frankreich, bis dann England selbst den fertigen Kanal schließlich in seine Hände brachte und weiterhin das von Frankreich beharrlich erstrebte Ägypten selbst mit Beschlag belegte. Erst nachdem zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts Frankreich noch einmal versucht hatte, wenigstens an den oberen Nil vorzustoßen, brachte dieses Jahrhundert nach der französischen Schlappe bei Faschoda die endgültige friedliche Verständigung zwischen Frankreich und England über Ägypten, indem England die Franzosen mit der Zulassung des marokkanischen Abenteuers abspeiste. Noch im Jahre 1905, als Delcass6 bereits die eifrigsten Versuche unter¬ nommen hatte, England nahe zu kommen, zeigte die offiziöse Pariser Presse England gegenüber doch eine sehr selbständige Haltung. So las man noch im Juni jenes Jahres, als ein deutsch-französischer Krieg unmittelbar bevorzustehen schien, im Temps, daß England, wenn es einen Krieg gegen Deutschland wolle, bedenken müsse, „daß eine große Nation wie Frankreich Herrin ihrer Ent¬ schließungen ist und sich nicht in einen Krieg einlassen kann, um die Geschäfte einer dritten Macht zu besorgen". Weiter wurde England darauf hingewiesen, daß es nach eigenem Geständnis nicht imstande wäre, Frankreich kontinentale Bürgschaften zu leisten. Aber schon am 9. Juli desselben Jahres wurde der Besuch der englischen Flotte in Brest mit ostentativer Herzlichkeit ausgenommen; und noch bevor die britischen Panzerschiffe den französischen Hafen verlassen hatten, gab der zurückgetretene Delcassö sein Programm der französisch-britischen Bündnispolitik bekannt. Ein Vierteljahr später verriet er das von England mündlich gegebene Versprechen, es werde im Falle eines deutschen Angriffes auf Frankreich seine Flotte mobil machen, den Kaiser-Wilhelm-Kanal besetzen und hunderttausend Mann in Schleswig-Holstein landen. Das französisch-englische Militärabkommen, dessen Bestehen von der Regierung bestritten wurde, beschäftigte auch im Herbst 1906 wieder die Pariser Kammer, wobei die Minister sich in Schweigen hüllten. Im Mai 1908 wurde im Buckinghampalast die „englisch¬ französische Entente" gefeiert, von der französischen Presse aber immer noch der Vorbehalt gemacht, daß England zunächst sein Landhecr zu vergrößern habe, um für Frankreich ein vollwertiger Bundesgenosse zu sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/512>, abgerufen am 28.09.2024.