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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Literaturgeschichtliches

Gutzkow als Klassiker. Karl Gutzkow
ist in die Reihen der deutschen Klassiker auf¬
genommen worden. Kein Forum kritischer
Richter hat ihn erwählt, keine Akademie hat
ihn gekrönt, keines Fürsten Huld ihm dazu
gelächelt. Die Zeit allein hat dies Kunststück
vermocht: Gutzkow ist "frei" geworden, seine
Werke sind nun Gemeingut, da die wohl¬
berechnete Schutzfrist von dreißig Jahren nach
dem Tode des Schriftstellers verstrichen ist,
die man um keines einzelnen Falles willen
antasten sollte.

Längst hat sich der Name Klassiker über
die unsicheren Schranken einer ursprünglichen
engeren Bedeutung gedehnt, er ist im Ge¬
triebe der Zeiten abgebraucht und allgemeiner
geworden. Wir nennen heute so ziemlich
alles klassisch, was uns einigermaszen historisch
geworden ist, und können auch die TageS-
schriftstellerei so nennen, wenn nur die Zeit
erst beginnt, ihren Rost um die Werke zu
kleiden. Dieser Auffassung folgen auch unsere
zu Dank gepflegten deutschen Sammlungen,
sie nehmen und bringen, was an älteren
Schriftwerken wichtig und lesenswert ist --
und guten Absatz verspricht. Nun hat Gutz-
kows dreißigster Todestag im Dezember 1908
und sein hundertster Geburtstag im März 1911
unseren betriebsamen buchhändlerischen Unter¬
nehmungen neuen Anstoß gegeben, so daß
wir heute über eine Reihe von Publikationen,
darunter drei Ausgaben seiner Werke, be¬
richten können.

[Spaltenumbruch]

Gutzkow als Klassiker I Fast zwei Jahr¬
zehnte vor seinem großen Gegner Gustav
Freytag ging er unter die Unsterblichen!
Und wir nehmen in denselben "grünen
Heften" das Wort über ihn, die in den
fünfziger Jahren des verflossenen Jahr¬
hunderts manchen bitteren Strauß mit ihm
nuszufechten hatten. Lange ist der Kampfes-
lärm verhallt und die Zeiten sind dahin, wo
Gutzkow mit "zweckmäßig gesteigerter Ent¬
rüstung" erklären durfte (wie die Grenzboten
1862 in Ur. 11 S. 437 f. selber zitieren):
daß auch er viel achtungswertere und nütz¬
lichere Gegenstände in Deutschland kennen
gelernt habe, als die Grenzboten seien.
Eine Darstellung der Fehde zwischen Gutzkow
und den Herausgebern der Grenzboten,
Gustav Freytag und Julian Schmidt wäre
ein interessanter und wünschenswerter Bei¬
trag zur deutschen Literatur- und Geistes¬
geschichte. Denn wir verharren nicht in der
drängenden Enge des Augenblicks und werden
das Für und Wider unbefangener auseinnnder-
halten. An manchem Urteil, das damals die
"Grünen" fällten, überrascht uns eine trotz
aller Persönlichen Verstimmung erstaunliche
Klarheit, wie die folgende Charakteristik
der Gutzkowschen Produktion zeigen mag, die
auch heute noch uneingeschränkt richtig er¬
scheint: "Es sind überall Anläufe zu wirk¬
samer Darstellung seiner Empfindungen,
aber seine unruhige und gereizte Seele weiß
nicht Ton und Haltung zu bewahren, und
seine schöpferische Kraft ist zu schwach, die
auftauchenden Vorstellungen und Anschauungen

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Literaturgeschichtliches

Gutzkow als Klassiker. Karl Gutzkow
ist in die Reihen der deutschen Klassiker auf¬
genommen worden. Kein Forum kritischer
Richter hat ihn erwählt, keine Akademie hat
ihn gekrönt, keines Fürsten Huld ihm dazu
gelächelt. Die Zeit allein hat dies Kunststück
vermocht: Gutzkow ist „frei" geworden, seine
Werke sind nun Gemeingut, da die wohl¬
berechnete Schutzfrist von dreißig Jahren nach
dem Tode des Schriftstellers verstrichen ist,
die man um keines einzelnen Falles willen
antasten sollte.

Längst hat sich der Name Klassiker über
die unsicheren Schranken einer ursprünglichen
engeren Bedeutung gedehnt, er ist im Ge¬
triebe der Zeiten abgebraucht und allgemeiner
geworden. Wir nennen heute so ziemlich
alles klassisch, was uns einigermaszen historisch
geworden ist, und können auch die TageS-
schriftstellerei so nennen, wenn nur die Zeit
erst beginnt, ihren Rost um die Werke zu
kleiden. Dieser Auffassung folgen auch unsere
zu Dank gepflegten deutschen Sammlungen,
sie nehmen und bringen, was an älteren
Schriftwerken wichtig und lesenswert ist —
und guten Absatz verspricht. Nun hat Gutz-
kows dreißigster Todestag im Dezember 1908
und sein hundertster Geburtstag im März 1911
unseren betriebsamen buchhändlerischen Unter¬
nehmungen neuen Anstoß gegeben, so daß
wir heute über eine Reihe von Publikationen,
darunter drei Ausgaben seiner Werke, be¬
richten können.

[Spaltenumbruch]

Gutzkow als Klassiker I Fast zwei Jahr¬
zehnte vor seinem großen Gegner Gustav
Freytag ging er unter die Unsterblichen!
Und wir nehmen in denselben „grünen
Heften" das Wort über ihn, die in den
fünfziger Jahren des verflossenen Jahr¬
hunderts manchen bitteren Strauß mit ihm
nuszufechten hatten. Lange ist der Kampfes-
lärm verhallt und die Zeiten sind dahin, wo
Gutzkow mit „zweckmäßig gesteigerter Ent¬
rüstung" erklären durfte (wie die Grenzboten
1862 in Ur. 11 S. 437 f. selber zitieren):
daß auch er viel achtungswertere und nütz¬
lichere Gegenstände in Deutschland kennen
gelernt habe, als die Grenzboten seien.
Eine Darstellung der Fehde zwischen Gutzkow
und den Herausgebern der Grenzboten,
Gustav Freytag und Julian Schmidt wäre
ein interessanter und wünschenswerter Bei¬
trag zur deutschen Literatur- und Geistes¬
geschichte. Denn wir verharren nicht in der
drängenden Enge des Augenblicks und werden
das Für und Wider unbefangener auseinnnder-
halten. An manchem Urteil, das damals die
„Grünen" fällten, überrascht uns eine trotz
aller Persönlichen Verstimmung erstaunliche
Klarheit, wie die folgende Charakteristik
der Gutzkowschen Produktion zeigen mag, die
auch heute noch uneingeschränkt richtig er¬
scheint: „Es sind überall Anläufe zu wirk¬
samer Darstellung seiner Empfindungen,
aber seine unruhige und gereizte Seele weiß
nicht Ton und Haltung zu bewahren, und
seine schöpferische Kraft ist zu schwach, die
auftauchenden Vorstellungen und Anschauungen

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[0482] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Literaturgeschichtliches Gutzkow als Klassiker. Karl Gutzkow ist in die Reihen der deutschen Klassiker auf¬ genommen worden. Kein Forum kritischer Richter hat ihn erwählt, keine Akademie hat ihn gekrönt, keines Fürsten Huld ihm dazu gelächelt. Die Zeit allein hat dies Kunststück vermocht: Gutzkow ist „frei" geworden, seine Werke sind nun Gemeingut, da die wohl¬ berechnete Schutzfrist von dreißig Jahren nach dem Tode des Schriftstellers verstrichen ist, die man um keines einzelnen Falles willen antasten sollte. Längst hat sich der Name Klassiker über die unsicheren Schranken einer ursprünglichen engeren Bedeutung gedehnt, er ist im Ge¬ triebe der Zeiten abgebraucht und allgemeiner geworden. Wir nennen heute so ziemlich alles klassisch, was uns einigermaszen historisch geworden ist, und können auch die TageS- schriftstellerei so nennen, wenn nur die Zeit erst beginnt, ihren Rost um die Werke zu kleiden. Dieser Auffassung folgen auch unsere zu Dank gepflegten deutschen Sammlungen, sie nehmen und bringen, was an älteren Schriftwerken wichtig und lesenswert ist — und guten Absatz verspricht. Nun hat Gutz- kows dreißigster Todestag im Dezember 1908 und sein hundertster Geburtstag im März 1911 unseren betriebsamen buchhändlerischen Unter¬ nehmungen neuen Anstoß gegeben, so daß wir heute über eine Reihe von Publikationen, darunter drei Ausgaben seiner Werke, be¬ richten können. Gutzkow als Klassiker I Fast zwei Jahr¬ zehnte vor seinem großen Gegner Gustav Freytag ging er unter die Unsterblichen! Und wir nehmen in denselben „grünen Heften" das Wort über ihn, die in den fünfziger Jahren des verflossenen Jahr¬ hunderts manchen bitteren Strauß mit ihm nuszufechten hatten. Lange ist der Kampfes- lärm verhallt und die Zeiten sind dahin, wo Gutzkow mit „zweckmäßig gesteigerter Ent¬ rüstung" erklären durfte (wie die Grenzboten 1862 in Ur. 11 S. 437 f. selber zitieren): daß auch er viel achtungswertere und nütz¬ lichere Gegenstände in Deutschland kennen gelernt habe, als die Grenzboten seien. Eine Darstellung der Fehde zwischen Gutzkow und den Herausgebern der Grenzboten, Gustav Freytag und Julian Schmidt wäre ein interessanter und wünschenswerter Bei¬ trag zur deutschen Literatur- und Geistes¬ geschichte. Denn wir verharren nicht in der drängenden Enge des Augenblicks und werden das Für und Wider unbefangener auseinnnder- halten. An manchem Urteil, das damals die „Grünen" fällten, überrascht uns eine trotz aller Persönlichen Verstimmung erstaunliche Klarheit, wie die folgende Charakteristik der Gutzkowschen Produktion zeigen mag, die auch heute noch uneingeschränkt richtig er¬ scheint: „Es sind überall Anläufe zu wirk¬ samer Darstellung seiner Empfindungen, aber seine unruhige und gereizte Seele weiß nicht Ton und Haltung zu bewahren, und seine schöpferische Kraft ist zu schwach, die auftauchenden Vorstellungen und Anschauungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/482>, abgerufen am 22.07.2024.