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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Llcmdo Tillier

Frau Rüßler und Hawermann neben Pomuchelskopp, David und Sins'uhr. Die
lockere Komposition, zum Teil durch das erste Erscheinen im Feuilleton und die
rasche Umarbeitung verursacht, stört uns weniger als die Franzosen -- wir haben
sie Fritz Reuter auch nie nachgetragen! und daß bei aller Derbheit jegliche Lüsternheit
fehlt, empfinden wir zwar als eine Verschiedenheit von den Romanen Diderots, an
den man für Claude Tillier allzu oft erinnert hat --, aber eben nicht als eine,
die stört.

Claude Tillier hat noch einen zweiten Roman geschrieben, der ebenfalls ins
Deutsche übersetzt worden ist: "Kelloplante et Lornelius", die Geschichte von zwei
Brüdern, einem geistreichen Träumer und einem habgierigen Bourgeois, Claude
Tillier und Dupin -- wie er wenigstens sie auffaßte. Eine liebliche Frauengestalt
und der gesunde Realismus der Gesamtschilderung haben diesen Roman von einem
Luftschiff-Erfinder selbst heut nicht vor der Vergessenheit retten können. In dies
Milieu der phantastischen Hoffnungen und praktischen Enttäuschungen führt doch
ein anderer Liebling deutscher Leser lebensvoller und abwechselungsreicher ein: der
Halbdeutsche Henry Murger mit seiner "Vis ac VoKeme".

Für uns bleibt Claude Tillier der "Meister des Onkel Benjamin". Die
prächtigen Dialoge -- schon in den Pamphleten Glanzstücke --, die gut
holländischen Trinkgelage, die unvergleichliche Dramatisierung einer ebenso
internationalen als unaussprechlichen Redensart; vor allem aber diese Charaktere
mit ihrer rein menschlichen Mischung von Gut und Böse, und Benjamin
Rathery vor allem, dessen eine Seele sich gewaltsam vom Dust hebt, während
die andere in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen
hält -- sie tun es uns an. In ihnen fühlen wir Blut von unserem Blute,
nicht weil wir Deutsche die Gemütlichkeit gepachtet hätten und deshalb den
französischen Chauvinisten einen halben Deutschen nennen dürften, sondern weil
überall so das einfache, gesunde Kleinbürgertum lebt, lacht, weint -- und in seiner
Mitte Idealisten hegt, von denen es mit zorniger Liebe betrachtet wird und die
es verwundert beiseite schiebt.




Llcmdo Tillier

Frau Rüßler und Hawermann neben Pomuchelskopp, David und Sins'uhr. Die
lockere Komposition, zum Teil durch das erste Erscheinen im Feuilleton und die
rasche Umarbeitung verursacht, stört uns weniger als die Franzosen — wir haben
sie Fritz Reuter auch nie nachgetragen! und daß bei aller Derbheit jegliche Lüsternheit
fehlt, empfinden wir zwar als eine Verschiedenheit von den Romanen Diderots, an
den man für Claude Tillier allzu oft erinnert hat —, aber eben nicht als eine,
die stört.

Claude Tillier hat noch einen zweiten Roman geschrieben, der ebenfalls ins
Deutsche übersetzt worden ist: „Kelloplante et Lornelius«, die Geschichte von zwei
Brüdern, einem geistreichen Träumer und einem habgierigen Bourgeois, Claude
Tillier und Dupin — wie er wenigstens sie auffaßte. Eine liebliche Frauengestalt
und der gesunde Realismus der Gesamtschilderung haben diesen Roman von einem
Luftschiff-Erfinder selbst heut nicht vor der Vergessenheit retten können. In dies
Milieu der phantastischen Hoffnungen und praktischen Enttäuschungen führt doch
ein anderer Liebling deutscher Leser lebensvoller und abwechselungsreicher ein: der
Halbdeutsche Henry Murger mit seiner „Vis ac VoKeme".

Für uns bleibt Claude Tillier der „Meister des Onkel Benjamin". Die
prächtigen Dialoge — schon in den Pamphleten Glanzstücke —, die gut
holländischen Trinkgelage, die unvergleichliche Dramatisierung einer ebenso
internationalen als unaussprechlichen Redensart; vor allem aber diese Charaktere
mit ihrer rein menschlichen Mischung von Gut und Böse, und Benjamin
Rathery vor allem, dessen eine Seele sich gewaltsam vom Dust hebt, während
die andere in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen
hält — sie tun es uns an. In ihnen fühlen wir Blut von unserem Blute,
nicht weil wir Deutsche die Gemütlichkeit gepachtet hätten und deshalb den
französischen Chauvinisten einen halben Deutschen nennen dürften, sondern weil
überall so das einfache, gesunde Kleinbürgertum lebt, lacht, weint — und in seiner
Mitte Idealisten hegt, von denen es mit zorniger Liebe betrachtet wird und die
es verwundert beiseite schiebt.




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[0431] Llcmdo Tillier Frau Rüßler und Hawermann neben Pomuchelskopp, David und Sins'uhr. Die lockere Komposition, zum Teil durch das erste Erscheinen im Feuilleton und die rasche Umarbeitung verursacht, stört uns weniger als die Franzosen — wir haben sie Fritz Reuter auch nie nachgetragen! und daß bei aller Derbheit jegliche Lüsternheit fehlt, empfinden wir zwar als eine Verschiedenheit von den Romanen Diderots, an den man für Claude Tillier allzu oft erinnert hat —, aber eben nicht als eine, die stört. Claude Tillier hat noch einen zweiten Roman geschrieben, der ebenfalls ins Deutsche übersetzt worden ist: „Kelloplante et Lornelius«, die Geschichte von zwei Brüdern, einem geistreichen Träumer und einem habgierigen Bourgeois, Claude Tillier und Dupin — wie er wenigstens sie auffaßte. Eine liebliche Frauengestalt und der gesunde Realismus der Gesamtschilderung haben diesen Roman von einem Luftschiff-Erfinder selbst heut nicht vor der Vergessenheit retten können. In dies Milieu der phantastischen Hoffnungen und praktischen Enttäuschungen führt doch ein anderer Liebling deutscher Leser lebensvoller und abwechselungsreicher ein: der Halbdeutsche Henry Murger mit seiner „Vis ac VoKeme". Für uns bleibt Claude Tillier der „Meister des Onkel Benjamin". Die prächtigen Dialoge — schon in den Pamphleten Glanzstücke —, die gut holländischen Trinkgelage, die unvergleichliche Dramatisierung einer ebenso internationalen als unaussprechlichen Redensart; vor allem aber diese Charaktere mit ihrer rein menschlichen Mischung von Gut und Böse, und Benjamin Rathery vor allem, dessen eine Seele sich gewaltsam vom Dust hebt, während die andere in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen hält — sie tun es uns an. In ihnen fühlen wir Blut von unserem Blute, nicht weil wir Deutsche die Gemütlichkeit gepachtet hätten und deshalb den französischen Chauvinisten einen halben Deutschen nennen dürften, sondern weil überall so das einfache, gesunde Kleinbürgertum lebt, lacht, weint — und in seiner Mitte Idealisten hegt, von denen es mit zorniger Liebe betrachtet wird und die es verwundert beiseite schiebt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/431>, abgerufen am 01.07.2024.