Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.Art'citerschutzgesetzgebung hat, die Verödung des flachen Landes, das Massenelend in den Städten, kurz Es scheint hiernach an der Zeit zu sein, zu fragen: Sind wir mit unserer Leider muß ich das Thema von vornherein stark einschränken. Die eine Hälfte Art'citerschutzgesetzgebung hat, die Verödung des flachen Landes, das Massenelend in den Städten, kurz Es scheint hiernach an der Zeit zu sein, zu fragen: Sind wir mit unserer Leider muß ich das Thema von vornherein stark einschränken. Die eine Hälfte <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318681"/> <fw type="header" place="top"> Art'citerschutzgesetzgebung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1725" prev="#ID_1724"> hat, die Verödung des flachen Landes, das Massenelend in den Städten, kurz<lb/> alles, was in den siebziger Jahren — allerdings in weit geringerem Maße —<lb/> auch bei uns sich zu zeigen begann. Trotz einiger Warnungen vor dem „Sprung<lb/> ins Dunkle" war man daher im allgemeinen bereit, auf eine Gesetzgebung zum<lb/> Schutze der wirtschaftlich Schwachen einzugehen. Im Jahre 1884 wurde mit<lb/> dem Unfallversicherungsgesetz die Arbeiterversicherungsgesetzgebung eingeleitet, im<lb/> Jahre 1891 begann die Weiterentwicklung der in der Gewerbeordnung bereits<lb/> vorhandenen Keime zu einer Arbeiterschutzgesetzgebung. Als dann nach einigen<lb/> Jahren die vorhergesagter üblen Folgen nicht hervortraten, vergaß man ganz,<lb/> daß die Wirkungen so tief einschneidender Gesetze erst nach längerem Bestehen<lb/> voll erkannt werden können, und es brach eine alles mit sich reißende sozial¬<lb/> politische Begeisterung herein; die Warner verstummten fast ganz. Seit einigen<lb/> Jahren ist das ganz allmählich anders geworden. Die Nächstbeteiligten — die<lb/> Arbeitgeber — begannen zuerst leise, dann immer lauter über die von ihnen<lb/> für die Arbeiterversicherung geforderten Geldopfer, über die Jnvaliditäts-<lb/> kleberei, die Krankenkassenbeiträge und besonders über die bei vielen Berufs¬<lb/> genossenschaften mit großer Schnelligkeit steigenden Unfalllasten zu Nagen, sich<lb/> gegen weitere Verschärfungen der Schutzgesetzgebung, Verkürzung der Arbeits¬<lb/> zeiten und ähnliches zu wehren. Im ganzen ist man noch vorsichtig. Es ver¬<lb/> geht zwar keine Tagung von Arbeitgeberverbänden ohne eine Resolution gegen<lb/> die Sozialpolitik im ganzen oder gegen einzelne Maßnahmen, aber man hält<lb/> sich doch noch sehr zurück, und im Reichstage glaubt jeder Redner, der etwas<lb/> gegen einzelne sozialpolitische Maßregeln einzuwenden hat, vorher seine Arbeiter¬<lb/> freundlichkeit beteuern zu müssen. Aber der Ton wird doch allmählich<lb/> lebhafter, und die eingangs erwähnte Kundgebung kann an Grobheit vielleicht,<lb/> an Schärfe kaum noch überboten werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1726"> Es scheint hiernach an der Zeit zu sein, zu fragen: Sind wir mit unserer<lb/> Sozialpolitik noch auf dem rechten Wege?</p><lb/> <p xml:id="ID_1727" next="#ID_1728"> Leider muß ich das Thema von vornherein stark einschränken. Die eine Hälfte<lb/> des Gegenstandes, die Arbeiterversicherung, wird sich im Rahmen eines kurzen<lb/> Aufsatzes kaum behandeln lassen; außer den eigentlichen versicherungstechnischen<lb/> und Organisationsfragen ist noch so viel anderes — ich erinnere nur an die<lb/> Frage der Erziehung der Versicherten zu pflichtgemäßem Handeln, an die Be¬<lb/> einflussung großer Berufsstände, wie der Ärzte — zu berücksichtigen, daß zu<lb/> seiner Besprechung weder der Raum noch meine Sachkunde ausreicht. Außerdem<lb/> ist die Gefahr, daß die Gesetzgebung über das Ziel hinausschieße, hier weniger<lb/> dringend. Der Mensch pflegt zwar mit großer Seelenruhe zuzusehen, wenn<lb/> andere Geld bezahlen müssen, hat aber volles Verständnis dafür, wenn diese<lb/> sich dagegen wehren. Anders ist es mit dem Arbeiterschutze. Vor noch nicht<lb/> langer Zeit war jeder Arbeitgeber, der sich das Recht, über die von ihm<lb/> bezahlten Arbeitskräfte frei zu verfügen, nicht noch weiter schmälern lassen wollte,<lb/> ein Ausbeuter, jeder, der ihm zu Hilfe kam, ein Scharfmacher. Von den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0398]
Art'citerschutzgesetzgebung
hat, die Verödung des flachen Landes, das Massenelend in den Städten, kurz
alles, was in den siebziger Jahren — allerdings in weit geringerem Maße —
auch bei uns sich zu zeigen begann. Trotz einiger Warnungen vor dem „Sprung
ins Dunkle" war man daher im allgemeinen bereit, auf eine Gesetzgebung zum
Schutze der wirtschaftlich Schwachen einzugehen. Im Jahre 1884 wurde mit
dem Unfallversicherungsgesetz die Arbeiterversicherungsgesetzgebung eingeleitet, im
Jahre 1891 begann die Weiterentwicklung der in der Gewerbeordnung bereits
vorhandenen Keime zu einer Arbeiterschutzgesetzgebung. Als dann nach einigen
Jahren die vorhergesagter üblen Folgen nicht hervortraten, vergaß man ganz,
daß die Wirkungen so tief einschneidender Gesetze erst nach längerem Bestehen
voll erkannt werden können, und es brach eine alles mit sich reißende sozial¬
politische Begeisterung herein; die Warner verstummten fast ganz. Seit einigen
Jahren ist das ganz allmählich anders geworden. Die Nächstbeteiligten — die
Arbeitgeber — begannen zuerst leise, dann immer lauter über die von ihnen
für die Arbeiterversicherung geforderten Geldopfer, über die Jnvaliditäts-
kleberei, die Krankenkassenbeiträge und besonders über die bei vielen Berufs¬
genossenschaften mit großer Schnelligkeit steigenden Unfalllasten zu Nagen, sich
gegen weitere Verschärfungen der Schutzgesetzgebung, Verkürzung der Arbeits¬
zeiten und ähnliches zu wehren. Im ganzen ist man noch vorsichtig. Es ver¬
geht zwar keine Tagung von Arbeitgeberverbänden ohne eine Resolution gegen
die Sozialpolitik im ganzen oder gegen einzelne Maßnahmen, aber man hält
sich doch noch sehr zurück, und im Reichstage glaubt jeder Redner, der etwas
gegen einzelne sozialpolitische Maßregeln einzuwenden hat, vorher seine Arbeiter¬
freundlichkeit beteuern zu müssen. Aber der Ton wird doch allmählich
lebhafter, und die eingangs erwähnte Kundgebung kann an Grobheit vielleicht,
an Schärfe kaum noch überboten werden.
Es scheint hiernach an der Zeit zu sein, zu fragen: Sind wir mit unserer
Sozialpolitik noch auf dem rechten Wege?
Leider muß ich das Thema von vornherein stark einschränken. Die eine Hälfte
des Gegenstandes, die Arbeiterversicherung, wird sich im Rahmen eines kurzen
Aufsatzes kaum behandeln lassen; außer den eigentlichen versicherungstechnischen
und Organisationsfragen ist noch so viel anderes — ich erinnere nur an die
Frage der Erziehung der Versicherten zu pflichtgemäßem Handeln, an die Be¬
einflussung großer Berufsstände, wie der Ärzte — zu berücksichtigen, daß zu
seiner Besprechung weder der Raum noch meine Sachkunde ausreicht. Außerdem
ist die Gefahr, daß die Gesetzgebung über das Ziel hinausschieße, hier weniger
dringend. Der Mensch pflegt zwar mit großer Seelenruhe zuzusehen, wenn
andere Geld bezahlen müssen, hat aber volles Verständnis dafür, wenn diese
sich dagegen wehren. Anders ist es mit dem Arbeiterschutze. Vor noch nicht
langer Zeit war jeder Arbeitgeber, der sich das Recht, über die von ihm
bezahlten Arbeitskräfte frei zu verfügen, nicht noch weiter schmälern lassen wollte,
ein Ausbeuter, jeder, der ihm zu Hilfe kam, ein Scharfmacher. Von den
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