Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.Lin Beitrag zur Erforschung der Romantik erkennen muß, wenn ich mich überhaupt ihnen zuwende (LippS "Leitfaden der Der Forscher, der die Welt- und Lebensanschauungen eines Philosophen Solche Menschen aber sind die Romantiker. Es gibt keinen Gegenstand, der ") Eine Untersuchung über den Einflusz Fichtes nuf die älteren Romantiker wird in Die Schriftltg. der nächsten Zeit in den Grenzvoten veröffentlicht werden. Grenzboten II 1911 4"
Lin Beitrag zur Erforschung der Romantik erkennen muß, wenn ich mich überhaupt ihnen zuwende (LippS „Leitfaden der Der Forscher, der die Welt- und Lebensanschauungen eines Philosophen Solche Menschen aber sind die Romantiker. Es gibt keinen Gegenstand, der ") Eine Untersuchung über den Einflusz Fichtes nuf die älteren Romantiker wird in Die Schriftltg. der nächsten Zeit in den Grenzvoten veröffentlicht werden. Grenzboten II 1911 4"
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0373" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318656"/> <fw type="header" place="top"> Lin Beitrag zur Erforschung der Romantik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1643" prev="#ID_1642"> erkennen muß, wenn ich mich überhaupt ihnen zuwende (LippS „Leitfaden der<lb/> Psychologie"). Wir stehen dabei alle in gleicher Weise unter dem Zwange der<lb/> Logik der Tatsachen. In bezug auf diese Gegenstände wird sich also allgemeine<lb/> Übereinstimmung herausbilden, und auf diesem Grunde kann sich dann auch eine<lb/> allgemein gültige Terminologie entwickeln. Sobald es sich aber um letzte und<lb/> tiefste Fragen, um Lebens- und Weltanschauung handelt, werden Gegenstände<lb/> gedacht, die nicht mehr sinnlich faßbar sind, nicht mehr allen Menschen in gleicher<lb/> Weise gegenüberstehen und nicht mehr unüberhörbare Forderungen an unser Denken<lb/> stellen; sie sind vielmehr durchaus Kinder des Wünschens und Wollens. Wenn wir<lb/> sie denken, stehen wir nicht unter einem äußeren, in den Tatsachen liegenden,<lb/> sondern unter einem inneren Zwang, einer bestimmten Beschaffenheit unserer<lb/> eigensten Natur. Diese Erlebnisse sind bei jedem Menschen verschieden, je nachdem<lb/> die drei Grundfunktionen des psychischen Lebens in ihnen verteilt sind. Von<lb/> allgemeiner Übereinstimmung kann dabei nicht entfernt in dem Maße die Rede<lb/> sein, wie bei den oben erwähnten Objekten; und so gibt es für diese Dinge auch<lb/> keine allgemein anerkannte Terminologie. Worte und Begriffe sind überhaupt für<lb/> die letzten und tiefsten Gefühlserlebnisse kein adäquater Ausdruck.</p><lb/> <p xml:id="ID_1644"> Der Forscher, der die Welt- und Lebensanschauungen eines Philosophen<lb/> untersucht, darf also nicht jeden Begriff, den er bei ihm findet, in einem von vorn¬<lb/> herein bestimmten Sinn verstehen, sondern muß sich zunächst einmal in seine<lb/> Persönlichkeit hineinversenken und die Welt unter demselben Gesichtswinkel zu sehen<lb/> versuchen, und erst dann kann er die an sich unbestimmten Begriffe mit lebendigem<lb/> Inhalt erfüllen. Um so unerläßlicher ist dieses Verfahren bei den Naturen, die<lb/> innerlich kompliziert sind, bei denen das Streben geringe Konstanz zeigt und<lb/> beständig die Richtung wechselt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1645"> Solche Menschen aber sind die Romantiker. Es gibt keinen Gegenstand, der<lb/> für einen Romantiker nicht gefühlsbetont sein könnte. Während die von einem<lb/> Lustgefühl begleiteten Gegenstände bei anderen Menschen gewöhnlich in einer<lb/> Richtung und auf einem mehr oder weniger eng begrenzten Gebiet liegen, kann<lb/> sich der Romantiker für alles begeistern. Sein Gefühl springt in einer völlig<lb/> unberechenbaren Zickzackbahn von einem Gegenstand zum anderen. Diese erstaun-<lb/> liche Elastizität des Gefühls ist in einer Beziehung eine Stärke, insofern sie alles<lb/> verstehen lehrt, anderseits aber ist durch sie einer gefährlichen Seuche Tor und<lb/> Tür geöffnet: der Selbsttäuschung. Weil sie jeden Gegenstand, jede Individualität<lb/> verstehen und gefühlsmäßig nachahmen können, glauben sie dann auch dem Nach¬<lb/> empfundenen wirklich zu gleichen. So konnten sich z, B. die Romantiker durchaus<lb/> in die grandiose Einheitlichkeit, Einseitigkeit und Kraft der Natur Fichtes hinein<lb/> versenken und verstanden es wohl, Fichtisch zu empfinden und Fichtisch zu reden.<lb/> Wenn sie deshalb aber glaubten. Geist von Fichtes Geist zu sein, so ist das für<lb/> den. der die Zerrissenheit. Spruughaftigkeit und Uneinheitlichkeit der romantischen<lb/> Psyche kennt, ein leicht zu entdeckender Irrtum. Allerdings muß man steh. um<lb/> das zu durchschauen, die Mühe gemacht haben, den Charakter und die eigentüm¬<lb/> liche Individualität der Romantiker eingehend zu studieren ).</p><lb/> <note xml:id="FID_17" place="foot"> ") Eine Untersuchung über den Einflusz Fichtes nuf die älteren Romantiker wird in<lb/><note type="byline"> Die Schriftltg.</note> der nächsten Zeit in den Grenzvoten veröffentlicht werden. </note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1911 4"</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0373]
Lin Beitrag zur Erforschung der Romantik
erkennen muß, wenn ich mich überhaupt ihnen zuwende (LippS „Leitfaden der
Psychologie"). Wir stehen dabei alle in gleicher Weise unter dem Zwange der
Logik der Tatsachen. In bezug auf diese Gegenstände wird sich also allgemeine
Übereinstimmung herausbilden, und auf diesem Grunde kann sich dann auch eine
allgemein gültige Terminologie entwickeln. Sobald es sich aber um letzte und
tiefste Fragen, um Lebens- und Weltanschauung handelt, werden Gegenstände
gedacht, die nicht mehr sinnlich faßbar sind, nicht mehr allen Menschen in gleicher
Weise gegenüberstehen und nicht mehr unüberhörbare Forderungen an unser Denken
stellen; sie sind vielmehr durchaus Kinder des Wünschens und Wollens. Wenn wir
sie denken, stehen wir nicht unter einem äußeren, in den Tatsachen liegenden,
sondern unter einem inneren Zwang, einer bestimmten Beschaffenheit unserer
eigensten Natur. Diese Erlebnisse sind bei jedem Menschen verschieden, je nachdem
die drei Grundfunktionen des psychischen Lebens in ihnen verteilt sind. Von
allgemeiner Übereinstimmung kann dabei nicht entfernt in dem Maße die Rede
sein, wie bei den oben erwähnten Objekten; und so gibt es für diese Dinge auch
keine allgemein anerkannte Terminologie. Worte und Begriffe sind überhaupt für
die letzten und tiefsten Gefühlserlebnisse kein adäquater Ausdruck.
Der Forscher, der die Welt- und Lebensanschauungen eines Philosophen
untersucht, darf also nicht jeden Begriff, den er bei ihm findet, in einem von vorn¬
herein bestimmten Sinn verstehen, sondern muß sich zunächst einmal in seine
Persönlichkeit hineinversenken und die Welt unter demselben Gesichtswinkel zu sehen
versuchen, und erst dann kann er die an sich unbestimmten Begriffe mit lebendigem
Inhalt erfüllen. Um so unerläßlicher ist dieses Verfahren bei den Naturen, die
innerlich kompliziert sind, bei denen das Streben geringe Konstanz zeigt und
beständig die Richtung wechselt.
Solche Menschen aber sind die Romantiker. Es gibt keinen Gegenstand, der
für einen Romantiker nicht gefühlsbetont sein könnte. Während die von einem
Lustgefühl begleiteten Gegenstände bei anderen Menschen gewöhnlich in einer
Richtung und auf einem mehr oder weniger eng begrenzten Gebiet liegen, kann
sich der Romantiker für alles begeistern. Sein Gefühl springt in einer völlig
unberechenbaren Zickzackbahn von einem Gegenstand zum anderen. Diese erstaun-
liche Elastizität des Gefühls ist in einer Beziehung eine Stärke, insofern sie alles
verstehen lehrt, anderseits aber ist durch sie einer gefährlichen Seuche Tor und
Tür geöffnet: der Selbsttäuschung. Weil sie jeden Gegenstand, jede Individualität
verstehen und gefühlsmäßig nachahmen können, glauben sie dann auch dem Nach¬
empfundenen wirklich zu gleichen. So konnten sich z, B. die Romantiker durchaus
in die grandiose Einheitlichkeit, Einseitigkeit und Kraft der Natur Fichtes hinein
versenken und verstanden es wohl, Fichtisch zu empfinden und Fichtisch zu reden.
Wenn sie deshalb aber glaubten. Geist von Fichtes Geist zu sein, so ist das für
den. der die Zerrissenheit. Spruughaftigkeit und Uneinheitlichkeit der romantischen
Psyche kennt, ein leicht zu entdeckender Irrtum. Allerdings muß man steh. um
das zu durchschauen, die Mühe gemacht haben, den Charakter und die eigentüm¬
liche Individualität der Romantiker eingehend zu studieren ).
") Eine Untersuchung über den Einflusz Fichtes nuf die älteren Romantiker wird in
Die Schriftltg. der nächsten Zeit in den Grenzvoten veröffentlicht werden.
Grenzboten II 1911 4"
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |