Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.Der rote Rausch Und dann war ein Bersten der Stille, ein Wogen, ein Tücherschwenken, ein Jeanne hatte mit dieser symbolischen Züchtigung dem Präfekten das Leben Das Volk war gerächt, die aufkochende Wut hatte ein Sicherheitsventil Jeanne wurde als Nationalheldin mit Blumen und Umzügen gefeiert, eine Richard blieb wie immer, Auge, Wächter, Beobachter. Er hatte keine Hand Richard, Richard, noch ist deine Zeit nicht gekommen! Gastons Briefe beantwortete er in Kürze also, im Lande sei nichts Neues In der Tat, Gaston war ein kluger Bursche. Es gelang ihm sogar, den Grenzvotm >I 1911 4
Der rote Rausch Und dann war ein Bersten der Stille, ein Wogen, ein Tücherschwenken, ein Jeanne hatte mit dieser symbolischen Züchtigung dem Präfekten das Leben Das Volk war gerächt, die aufkochende Wut hatte ein Sicherheitsventil Jeanne wurde als Nationalheldin mit Blumen und Umzügen gefeiert, eine Richard blieb wie immer, Auge, Wächter, Beobachter. Er hatte keine Hand Richard, Richard, noch ist deine Zeit nicht gekommen! Gastons Briefe beantwortete er in Kürze also, im Lande sei nichts Neues In der Tat, Gaston war ein kluger Bursche. Es gelang ihm sogar, den Grenzvotm >I 1911 4
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0037" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318320"/> <fw type="header" place="top"> Der rote Rausch</fw><lb/> <p xml:id="ID_130"> Und dann war ein Bersten der Stille, ein Wogen, ein Tücherschwenken, ein<lb/> Lärm wie in einem schlechten Spektakelstück.</p><lb/> <p xml:id="ID_131"> Jeanne hatte mit dieser symbolischen Züchtigung dem Präfekten das Leben<lb/> gerettet. Trotzdem hatten Marcellin und seine Genossen Mühe, den Anprall<lb/> abzuwehren, indem sie den Regierungsmann mit ihren Leibern deckten. Nichts<lb/> hätte ihn vor der Lynchjustiz geschützt, wäre uicht Jeanne gewesen, die in einem<lb/> fast hypnotischen Zustande eine Handlung vollführte, die heilig und über¬<lb/> lebensgroß schien.</p><lb/> <p xml:id="ID_132"> Das Volk war gerächt, die aufkochende Wut hatte ein Sicherheitsventil<lb/> gefunden, das furchtbar drohende Verhängnis hatte eine Wendung ins Melodram<lb/> erhalten, Heiterkeit, Genugtuung, Verklärung bildeten den persönlichen Ausgang.<lb/> Der Zorn, der wie eine letzte Springflut zur Tribüne gegen den traurig-lächer¬<lb/> lichen Präfekten hinaufspritzte, war gewendet.</p><lb/> <p xml:id="ID_133"> Jeanne wurde als Nationalheldin mit Blumen und Umzügen gefeiert, eine<lb/> neue Jungfrau von Orleans! Eine zweite Jeanne d'Arc!</p><lb/> <p xml:id="ID_134"> Richard blieb wie immer, Auge, Wächter, Beobachter. Er hatte keine Hand<lb/> erhoben, er hatte keinen Schwur getan, er hatte keinen Fluch gesprochen, er hatte<lb/> an Jeannes Triumph nicht teilgenommen, Er führte wie bisher ein ausgelöschtes<lb/> Dasein, er sah und sah nicht, er hörte und hörte nicht, er war da und er war<lb/> fern. Nur sein glühendes Auge umwetterte unaufhörlich Jeannes liebliche Gestalt,<lb/> sah ihr .Kommen, ihr Gehen, ihr Tun und Lassen und war allgegenwärtig. „Ha,<lb/> dieser verfluchte Rouquis, wie er zärtlich tut, der alte Schäker! Was, er umarmt<lb/> sie, nennt sie seine heldenhafte Kameradin, seine Genossin!" Die Lippen bissen<lb/> sest aufeinander, der bebende Körper beherrschte sich.</p><lb/> <p xml:id="ID_135"> Richard, Richard, noch ist deine Zeit nicht gekommen!</p><lb/> <p xml:id="ID_136"> Gastons Briefe beantwortete er in Kürze also, im Lande sei nichts Neues<lb/> vorgefallen, der Wein würde wohl unverkäuflich bleiben, man täte besser, den<lb/> Weinstock niederzubrennen, wenn die dummen Bauern nur nicht so begriffsstutzig<lb/> wären. Das Weinschloß des Pages, eins des meist begüterten Mannes der<lb/> Gegend, wäre nun unter den Hammer gekommen; es hätte sich kein Käufer<lb/> gefunden, und so sei es einem Lederhändler für ein Butterbrot zugefallen. Pagös<lb/> gehe bettelarm von dem reichen Hof seiner Väter. Auch dem Hause des Leon<lb/> Mcngneau drohe der Zusammenbruch. Niemals habe es so viele Pfändungen im<lb/> Orte gegeben als jetzt, in den sogenannten guten Zeiten; solches war nicht einmal<lb/> in den unvergeßlichen mageren Jahren, wo die Weinberge fast nichts getragen<lb/> haben, vorgekommen. Es fehlten Leute im Orte, die Unternehmungsgeist hätten;<lb/> Männer wie Marcellin, Nouguie und die andern seien alte Weiber, die nur<lb/> zetern, klagen, aufrühren und konspirieren könnten. Sie trieben Politik, wo sie<lb/> praktische Arbeit leisten sollten. Wenn es so fortgehe, sei der Tag nicht mehr<lb/> fern, wo der letzte Mann des Ortes zum Bettelstab werde greisen müssen. Ob<lb/> unter solchen Umständen eine Heirat mit Jeanne für Gaston noch etwas zu<lb/> bedeuten habe, müsse er dahingestellt sein lassen. Bruder Gaston sei immer ein<lb/> kluger Bursche gewesen und werde das Rechte zu finden wissen.</p><lb/> <p xml:id="ID_137" next="#ID_138"> In der Tat, Gaston war ein kluger Bursche. Es gelang ihm sogar, den<lb/> alles vorwissenden Richard, den unübertrefflichen Meister der Wahrscheinlichkeits-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzvotm >I 1911 4</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0037]
Der rote Rausch
Und dann war ein Bersten der Stille, ein Wogen, ein Tücherschwenken, ein
Lärm wie in einem schlechten Spektakelstück.
Jeanne hatte mit dieser symbolischen Züchtigung dem Präfekten das Leben
gerettet. Trotzdem hatten Marcellin und seine Genossen Mühe, den Anprall
abzuwehren, indem sie den Regierungsmann mit ihren Leibern deckten. Nichts
hätte ihn vor der Lynchjustiz geschützt, wäre uicht Jeanne gewesen, die in einem
fast hypnotischen Zustande eine Handlung vollführte, die heilig und über¬
lebensgroß schien.
Das Volk war gerächt, die aufkochende Wut hatte ein Sicherheitsventil
gefunden, das furchtbar drohende Verhängnis hatte eine Wendung ins Melodram
erhalten, Heiterkeit, Genugtuung, Verklärung bildeten den persönlichen Ausgang.
Der Zorn, der wie eine letzte Springflut zur Tribüne gegen den traurig-lächer¬
lichen Präfekten hinaufspritzte, war gewendet.
Jeanne wurde als Nationalheldin mit Blumen und Umzügen gefeiert, eine
neue Jungfrau von Orleans! Eine zweite Jeanne d'Arc!
Richard blieb wie immer, Auge, Wächter, Beobachter. Er hatte keine Hand
erhoben, er hatte keinen Schwur getan, er hatte keinen Fluch gesprochen, er hatte
an Jeannes Triumph nicht teilgenommen, Er führte wie bisher ein ausgelöschtes
Dasein, er sah und sah nicht, er hörte und hörte nicht, er war da und er war
fern. Nur sein glühendes Auge umwetterte unaufhörlich Jeannes liebliche Gestalt,
sah ihr .Kommen, ihr Gehen, ihr Tun und Lassen und war allgegenwärtig. „Ha,
dieser verfluchte Rouquis, wie er zärtlich tut, der alte Schäker! Was, er umarmt
sie, nennt sie seine heldenhafte Kameradin, seine Genossin!" Die Lippen bissen
sest aufeinander, der bebende Körper beherrschte sich.
Richard, Richard, noch ist deine Zeit nicht gekommen!
Gastons Briefe beantwortete er in Kürze also, im Lande sei nichts Neues
vorgefallen, der Wein würde wohl unverkäuflich bleiben, man täte besser, den
Weinstock niederzubrennen, wenn die dummen Bauern nur nicht so begriffsstutzig
wären. Das Weinschloß des Pages, eins des meist begüterten Mannes der
Gegend, wäre nun unter den Hammer gekommen; es hätte sich kein Käufer
gefunden, und so sei es einem Lederhändler für ein Butterbrot zugefallen. Pagös
gehe bettelarm von dem reichen Hof seiner Väter. Auch dem Hause des Leon
Mcngneau drohe der Zusammenbruch. Niemals habe es so viele Pfändungen im
Orte gegeben als jetzt, in den sogenannten guten Zeiten; solches war nicht einmal
in den unvergeßlichen mageren Jahren, wo die Weinberge fast nichts getragen
haben, vorgekommen. Es fehlten Leute im Orte, die Unternehmungsgeist hätten;
Männer wie Marcellin, Nouguie und die andern seien alte Weiber, die nur
zetern, klagen, aufrühren und konspirieren könnten. Sie trieben Politik, wo sie
praktische Arbeit leisten sollten. Wenn es so fortgehe, sei der Tag nicht mehr
fern, wo der letzte Mann des Ortes zum Bettelstab werde greisen müssen. Ob
unter solchen Umständen eine Heirat mit Jeanne für Gaston noch etwas zu
bedeuten habe, müsse er dahingestellt sein lassen. Bruder Gaston sei immer ein
kluger Bursche gewesen und werde das Rechte zu finden wissen.
In der Tat, Gaston war ein kluger Bursche. Es gelang ihm sogar, den
alles vorwissenden Richard, den unübertrefflichen Meister der Wahrscheinlichkeits-
Grenzvotm >I 1911 4
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |