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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die Wiederkunft Naundorffs

Ludwigs des siebzehnten", wie ihn Henri Rochefort witzig genannt hat, und
Henri Provins (Foulon de Vaulx). Es sind keine Vollblutfranzosen, Friedrichs
ist von Geburt ein Rheinländer und Provins ein Belgier, wie denn die deutsche
und die französische Schweiz sowie die niederländischen Gebiete seit jeher ihren
Anteil an der Ausbildung und Fortspinnung der Naundorfflegende gehabt haben;
und so konnte ein eifriger Naundorffgegner in einer Pariser Zeitung neulich
seiue Entrüstung darüber äußern, daß Fremde den Franzosen einen preußischen
Abenteurer als Bourbonensprößling anheften wollten. Die französische Wissen¬
schaft hat sich dem Naundorffroman allezeit gegenüber ablehnend und ignorierend
verhalten, so daß die leidenschaftlichen Anhänger der Sekte ihr "eine Verschwörung
des Stillschweigens" vorwerfen dursten. Noch schweigsamer hat sich bisher die
deutsche Wissenschaft dem Problem gegenüber gezeigt, so daß sich Belletristen,
Genealogen und andere historische Dilettanten der Frage bemächtigten. Und
doch hat die Angelegenheit ein großes wissenschaftliches Interesse. Das Probleni,
ob der unglückliche Dauphin im Kerker gestorben oder entronnen ist, und was
ini zweiten Falle aus ihm geworden, verdient immer wieder gründlich mit allen
Waffen menschlichen Scharfsinns untersucht zu werdeu. Und auch die Geschichte
Naundorffs reizt zur Durchforschung, gleichviel wie man über seine Echtheit
denken mag. Hält man ihn für den wahren Dauphin, so erhebt sich die
schwierige Aufgabe, den Zusammenhang seiner abenteuerlichen Schicksale zu er¬
klären. Glaubt man seinen Memoiren nicht und erklärt man ihn für einen Betrüger,
so ist das Problem aufzulösen, wie er so viele Gläubige finden und lange über
seinen Tod hinaus die Welt in Atem halten konnte. Und in den reich fließenden
Quellen der deutschen Archive und der französischen Literatur, in den Memoiren
und nenerdings veröffentlichten Familienbriefen Naundorffs ist ein höchst ergiebiges
Material vorhanden für eine psychologische Charakteristik dieses unruhigen und
schillernden Geistes. Diese wissenschaftliche Aufgabe lockte mich schon vor Jahren,
und ich schrieb 1909 einen längeren Aufsatz, in dem ich das Problem nach allen
Seiten Kitisch behandelte und aufzulösen suchte*). Aber während die Arbeit
im Nedaktionspulte einer großen Fachzeitschrift ruhte, um erst nach langer Pause
das Licht der Öffentlichkeit zu erblicken, brach ein gewaltiger Sturm in den
Pariser Zeitungen über die Naundorfffrage aus. Die Enkel Naundorffs forderten
das französische Geburtsrecht für sich vom Senat Frankreichs zurück, und ein
glühender Anhänger ihrer Sache, Boissy d'Anglas, suchte die hohe Körperschaft
zu einem diesen Ansprüchen günstigen Beschlusse zu drängen. Da meine Ab¬
handlung endlich gerade in dem Augenblick erschien, wo die Geister in Paris
durch die Senatsverhandlung stark erregt waren, hat sie diesseits und jen¬
seits des Rheins einen stärkeren Widerhall gefunden, als sonst zu erwarten
gewesen wäre.



") O. Tschirch: "Die Naundorfflegende. Darstellung und Kritik". Historische Zeitschrift,
herausgegeben von Meinecke. Bd. 106, Heft 3. Der Aufsatz erscheint demnächst in einer
Sonderaufgabe bei Oldenbourg in München.
Die Wiederkunft Naundorffs

Ludwigs des siebzehnten", wie ihn Henri Rochefort witzig genannt hat, und
Henri Provins (Foulon de Vaulx). Es sind keine Vollblutfranzosen, Friedrichs
ist von Geburt ein Rheinländer und Provins ein Belgier, wie denn die deutsche
und die französische Schweiz sowie die niederländischen Gebiete seit jeher ihren
Anteil an der Ausbildung und Fortspinnung der Naundorfflegende gehabt haben;
und so konnte ein eifriger Naundorffgegner in einer Pariser Zeitung neulich
seiue Entrüstung darüber äußern, daß Fremde den Franzosen einen preußischen
Abenteurer als Bourbonensprößling anheften wollten. Die französische Wissen¬
schaft hat sich dem Naundorffroman allezeit gegenüber ablehnend und ignorierend
verhalten, so daß die leidenschaftlichen Anhänger der Sekte ihr „eine Verschwörung
des Stillschweigens" vorwerfen dursten. Noch schweigsamer hat sich bisher die
deutsche Wissenschaft dem Problem gegenüber gezeigt, so daß sich Belletristen,
Genealogen und andere historische Dilettanten der Frage bemächtigten. Und
doch hat die Angelegenheit ein großes wissenschaftliches Interesse. Das Probleni,
ob der unglückliche Dauphin im Kerker gestorben oder entronnen ist, und was
ini zweiten Falle aus ihm geworden, verdient immer wieder gründlich mit allen
Waffen menschlichen Scharfsinns untersucht zu werdeu. Und auch die Geschichte
Naundorffs reizt zur Durchforschung, gleichviel wie man über seine Echtheit
denken mag. Hält man ihn für den wahren Dauphin, so erhebt sich die
schwierige Aufgabe, den Zusammenhang seiner abenteuerlichen Schicksale zu er¬
klären. Glaubt man seinen Memoiren nicht und erklärt man ihn für einen Betrüger,
so ist das Problem aufzulösen, wie er so viele Gläubige finden und lange über
seinen Tod hinaus die Welt in Atem halten konnte. Und in den reich fließenden
Quellen der deutschen Archive und der französischen Literatur, in den Memoiren
und nenerdings veröffentlichten Familienbriefen Naundorffs ist ein höchst ergiebiges
Material vorhanden für eine psychologische Charakteristik dieses unruhigen und
schillernden Geistes. Diese wissenschaftliche Aufgabe lockte mich schon vor Jahren,
und ich schrieb 1909 einen längeren Aufsatz, in dem ich das Problem nach allen
Seiten Kitisch behandelte und aufzulösen suchte*). Aber während die Arbeit
im Nedaktionspulte einer großen Fachzeitschrift ruhte, um erst nach langer Pause
das Licht der Öffentlichkeit zu erblicken, brach ein gewaltiger Sturm in den
Pariser Zeitungen über die Naundorfffrage aus. Die Enkel Naundorffs forderten
das französische Geburtsrecht für sich vom Senat Frankreichs zurück, und ein
glühender Anhänger ihrer Sache, Boissy d'Anglas, suchte die hohe Körperschaft
zu einem diesen Ansprüchen günstigen Beschlusse zu drängen. Da meine Ab¬
handlung endlich gerade in dem Augenblick erschien, wo die Geister in Paris
durch die Senatsverhandlung stark erregt waren, hat sie diesseits und jen¬
seits des Rheins einen stärkeren Widerhall gefunden, als sonst zu erwarten
gewesen wäre.



") O. Tschirch: „Die Naundorfflegende. Darstellung und Kritik". Historische Zeitschrift,
herausgegeben von Meinecke. Bd. 106, Heft 3. Der Aufsatz erscheint demnächst in einer
Sonderaufgabe bei Oldenbourg in München.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/356>, abgerufen am 22.07.2024.