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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Eine Sommerreise durch das Baltenland

Von der polnischen und schwedischen Herrschaft sieht man auf einer Wanderung
durch die Stadt keine auffälligen Spuren, um so mehr von der russischen. Von
den 4400 Bomben, die Peter der Große in die Stadt warf, zeigt man noch
eine in der Mauer des Schwarzhäupterhauses. Von diesem eisernen Willkommen¬
gruß an bis auf den heutigen Tag finden wir im Innern dieses prächtigen
Hauses alle Epochen der russischen Herrschaft über Riga verewigt in zeitgenössischen
Bildern der russischen Herrscher. Kulturgeschichtlich interessant ist unter denselben
ein flottes Reiterbild Katharinas der Zweiten, das die Kaiserin im Männer¬
sattel in vollständiger Offiziersuniform in Hosen und Kanonenstiefeln darstellt.
An eine längstverschwundene Zeit der russischen Herrschaft erinnert ein Denkmal
vor dem Schloß. Es ist von der dankbaren Bürgerschaft dem Kaiser Alexander
dem Ersten gewidmet, dessen Gunst und gnädige Gesinnung gegen Riga noch
heute in dem von ihm geschenkten Park fortlebt: die Säule träumt von der
Zeit, wo der russische Kaiser seine deutschen Ostseeprovinzen als eins der wert¬
vollsten Kleinodien seiner .Krone betrachtete, wo er die deutsche Universität
Dorpat gründete.

Wesentlich andere Gedanken erweckte nicht weit vom Alexanderdenkmal das
große Rathaus, von dessen Balkon nach uraltem Brauch Jahr für Jahr die
"Bursprake" (das alte Stadtrecht) verlesen wurde, bis am Ende des letzten
Jahrhunderts die städtische Selbstverwaltung aufgehoben und das Rathaus zum
Archiv seiner eigenen Geschichte, der Saal der Beschlüsse zum Lesesaal der Stadt¬
bibliothek herabgedrückt wurde.

Das sichtbare Zeichen dieses neuen Kurses ist die große orthodoxe Kathedrale,
die möglichst breitspurig auf einem riesigen Platz an der Grenze der Altstadt
und des modernen Riga hingestellt worden ist. Zwischen Alt- und Neu-Riga
liegt ein Gürtel prächtiger Anlagen, die aus und auf der alten Umwallung und
den Festungsgräben entstanden sind. Die malerisch ausgeführten, gärtnerisch
gut gehaltenen, durch reichliches Wasser belebten Anlagen ähneln mit ihren
Hügeln und Einsenkungen dem ebenfalls aus der alten Befestigung heraus¬
gewachsenen herrlichen botanischen Garten von Kopenhagen und sind mit Recht
der Stolz der Nigenser.

Das neue Stadtviertel in der Nähe der Kathedrale mit prächtig breiten
Straßen und palastartigen Gebäuden, das in.der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts entstanden ist, beweist Wohlstand und Sinn für Hygiene, entbehrt
aber jeglicher charakteristischer Ausprägung; es könnte ebensogut in Berlin oder
Mailand oder einer anderen aufstrebenden Stadt stehen.

In diesem Stadtteil liegen drei Gebäude, die dartun. daß der alte han¬
seatische Gemeinsinn in der Bürgerschaft nicht ausgestorben ist. Es sind dies
die neue Handelsschule, ein reizender Bau in norddeutscher Backsteinarchitektur,
das städtische Kunstmuseum und das Polytechnikum.

Die Gründung des Polytechnikums erfolgte noch in der für deutsche Unter¬
richtsanstalten günstigen Zeit der Negierung Alexanders des Zweiten. Trotzdem


Eine Sommerreise durch das Baltenland

Von der polnischen und schwedischen Herrschaft sieht man auf einer Wanderung
durch die Stadt keine auffälligen Spuren, um so mehr von der russischen. Von
den 4400 Bomben, die Peter der Große in die Stadt warf, zeigt man noch
eine in der Mauer des Schwarzhäupterhauses. Von diesem eisernen Willkommen¬
gruß an bis auf den heutigen Tag finden wir im Innern dieses prächtigen
Hauses alle Epochen der russischen Herrschaft über Riga verewigt in zeitgenössischen
Bildern der russischen Herrscher. Kulturgeschichtlich interessant ist unter denselben
ein flottes Reiterbild Katharinas der Zweiten, das die Kaiserin im Männer¬
sattel in vollständiger Offiziersuniform in Hosen und Kanonenstiefeln darstellt.
An eine längstverschwundene Zeit der russischen Herrschaft erinnert ein Denkmal
vor dem Schloß. Es ist von der dankbaren Bürgerschaft dem Kaiser Alexander
dem Ersten gewidmet, dessen Gunst und gnädige Gesinnung gegen Riga noch
heute in dem von ihm geschenkten Park fortlebt: die Säule träumt von der
Zeit, wo der russische Kaiser seine deutschen Ostseeprovinzen als eins der wert¬
vollsten Kleinodien seiner .Krone betrachtete, wo er die deutsche Universität
Dorpat gründete.

Wesentlich andere Gedanken erweckte nicht weit vom Alexanderdenkmal das
große Rathaus, von dessen Balkon nach uraltem Brauch Jahr für Jahr die
„Bursprake" (das alte Stadtrecht) verlesen wurde, bis am Ende des letzten
Jahrhunderts die städtische Selbstverwaltung aufgehoben und das Rathaus zum
Archiv seiner eigenen Geschichte, der Saal der Beschlüsse zum Lesesaal der Stadt¬
bibliothek herabgedrückt wurde.

Das sichtbare Zeichen dieses neuen Kurses ist die große orthodoxe Kathedrale,
die möglichst breitspurig auf einem riesigen Platz an der Grenze der Altstadt
und des modernen Riga hingestellt worden ist. Zwischen Alt- und Neu-Riga
liegt ein Gürtel prächtiger Anlagen, die aus und auf der alten Umwallung und
den Festungsgräben entstanden sind. Die malerisch ausgeführten, gärtnerisch
gut gehaltenen, durch reichliches Wasser belebten Anlagen ähneln mit ihren
Hügeln und Einsenkungen dem ebenfalls aus der alten Befestigung heraus¬
gewachsenen herrlichen botanischen Garten von Kopenhagen und sind mit Recht
der Stolz der Nigenser.

Das neue Stadtviertel in der Nähe der Kathedrale mit prächtig breiten
Straßen und palastartigen Gebäuden, das in.der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts entstanden ist, beweist Wohlstand und Sinn für Hygiene, entbehrt
aber jeglicher charakteristischer Ausprägung; es könnte ebensogut in Berlin oder
Mailand oder einer anderen aufstrebenden Stadt stehen.

In diesem Stadtteil liegen drei Gebäude, die dartun. daß der alte han¬
seatische Gemeinsinn in der Bürgerschaft nicht ausgestorben ist. Es sind dies
die neue Handelsschule, ein reizender Bau in norddeutscher Backsteinarchitektur,
das städtische Kunstmuseum und das Polytechnikum.

Die Gründung des Polytechnikums erfolgte noch in der für deutsche Unter¬
richtsanstalten günstigen Zeit der Negierung Alexanders des Zweiten. Trotzdem


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[0328] Eine Sommerreise durch das Baltenland Von der polnischen und schwedischen Herrschaft sieht man auf einer Wanderung durch die Stadt keine auffälligen Spuren, um so mehr von der russischen. Von den 4400 Bomben, die Peter der Große in die Stadt warf, zeigt man noch eine in der Mauer des Schwarzhäupterhauses. Von diesem eisernen Willkommen¬ gruß an bis auf den heutigen Tag finden wir im Innern dieses prächtigen Hauses alle Epochen der russischen Herrschaft über Riga verewigt in zeitgenössischen Bildern der russischen Herrscher. Kulturgeschichtlich interessant ist unter denselben ein flottes Reiterbild Katharinas der Zweiten, das die Kaiserin im Männer¬ sattel in vollständiger Offiziersuniform in Hosen und Kanonenstiefeln darstellt. An eine längstverschwundene Zeit der russischen Herrschaft erinnert ein Denkmal vor dem Schloß. Es ist von der dankbaren Bürgerschaft dem Kaiser Alexander dem Ersten gewidmet, dessen Gunst und gnädige Gesinnung gegen Riga noch heute in dem von ihm geschenkten Park fortlebt: die Säule träumt von der Zeit, wo der russische Kaiser seine deutschen Ostseeprovinzen als eins der wert¬ vollsten Kleinodien seiner .Krone betrachtete, wo er die deutsche Universität Dorpat gründete. Wesentlich andere Gedanken erweckte nicht weit vom Alexanderdenkmal das große Rathaus, von dessen Balkon nach uraltem Brauch Jahr für Jahr die „Bursprake" (das alte Stadtrecht) verlesen wurde, bis am Ende des letzten Jahrhunderts die städtische Selbstverwaltung aufgehoben und das Rathaus zum Archiv seiner eigenen Geschichte, der Saal der Beschlüsse zum Lesesaal der Stadt¬ bibliothek herabgedrückt wurde. Das sichtbare Zeichen dieses neuen Kurses ist die große orthodoxe Kathedrale, die möglichst breitspurig auf einem riesigen Platz an der Grenze der Altstadt und des modernen Riga hingestellt worden ist. Zwischen Alt- und Neu-Riga liegt ein Gürtel prächtiger Anlagen, die aus und auf der alten Umwallung und den Festungsgräben entstanden sind. Die malerisch ausgeführten, gärtnerisch gut gehaltenen, durch reichliches Wasser belebten Anlagen ähneln mit ihren Hügeln und Einsenkungen dem ebenfalls aus der alten Befestigung heraus¬ gewachsenen herrlichen botanischen Garten von Kopenhagen und sind mit Recht der Stolz der Nigenser. Das neue Stadtviertel in der Nähe der Kathedrale mit prächtig breiten Straßen und palastartigen Gebäuden, das in.der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden ist, beweist Wohlstand und Sinn für Hygiene, entbehrt aber jeglicher charakteristischer Ausprägung; es könnte ebensogut in Berlin oder Mailand oder einer anderen aufstrebenden Stadt stehen. In diesem Stadtteil liegen drei Gebäude, die dartun. daß der alte han¬ seatische Gemeinsinn in der Bürgerschaft nicht ausgestorben ist. Es sind dies die neue Handelsschule, ein reizender Bau in norddeutscher Backsteinarchitektur, das städtische Kunstmuseum und das Polytechnikum. Die Gründung des Polytechnikums erfolgte noch in der für deutsche Unter¬ richtsanstalten günstigen Zeit der Negierung Alexanders des Zweiten. Trotzdem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/328>, abgerufen am 23.07.2024.