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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Grillxarzcrs Bstcrreichcrtnm

Parole der Moderne: Selbstgenuß des Individuums um jeden Preis, der
Leitsatz Grillparzers: Hingabe des Individuums an ein Stärkeres, Un¬
gespalteneres, an die bestehende Ordnung, die zumeist eine Staatsordnung ist,
und in dieser Unterjochung des Einzelnen entfernt er sich vom Heute bis zur
Unverständlichkeit.

Will man den Dichter gleichzeitig in so warmer Nähe und so eiskalter
Ferne sehen, so lasse man das Trauerspiel "Die Jüdin von Toledo" auf sich
wirken. Es ist modern, wie der König von Liebe als fast einer Krankheit,
fast einem nur sexuellen Drang ergriffen wird, modern, wie er sich aus der
Umklammerung durch übliche Moral, durch "Sittsamkeit noch sittlicher als
Sitte" zu Rahel hinflüchtet, wie er alle Pflicht von sich wirft, um einmal
wirkliches Leben zu genießen. Und es ist modern, so modern, daß vielleicht
die ganze doch so stark auf gerade dieses Thema gerichtete gegenwärtige
Dramatik keinen hier heranreichenden Charakter geschaffen hat, wie Rahel in
sich das Schillernde der Wollust verkörpert, wie sie als dirnenhaftes, grausames
Geschöpf gezeichnet ist (eine Perverse, ehe der Ausdruck erfunden war!), wie
ihr doch nicht die menschlicherer Züge fehlen, wie ihr Charakter eben das selt¬
samste Gemisch aus Böse und Gut darstellt, wie man ihr mit solchen moralischen
Bezeichnungen überhaupt nicht beikommen kann, da sie im Grunde ein rein
animalisches, nicht denkendes, nur lebendes Geschöpf ist. Und es ist ganz und
gar der Ausdruck des Heute, wenn Alfons, von allem moralischen Urteil absehend,
zum Preis der ermordeten Geliebten sagt, sie sei eine Eigene, eine Indivi¬
dualität gewesen, sie sei immer ihrem Selbst gefolgt:


Ich sage dir, wir sind nur Schatten,
Ich, du und jene andern aus der Menge;
Denn bist du gut: du hast es so gelernt,
Und bin ich ehrenhaft: ich sub's nicht anders;
Sind jene andern Mörder, wie sie's sind:
Schon ihre Väter Waren's, wenn es galt.
Die Welt ist nur ein co'ger Wiederhnll,
Und Korn aus Korn ist ihre ganze Ernte.
Sie aber war die Wahrheit, ob verzerrt,
All, was sie tut, ging aus aus ihrem Selbst,
urplötzlich, unverhofft und ohne Beispiel.

Aber dann vor der Leiche der den: Staatswohl Geschlachteten geht eine
Änderung mit Alfons vor sich -- Grillparzer, der Meilenferne, ergreift die Zügel
des Dramas. Nun weiß der König nichts mehr von Raheis Persönlichkeit
und Lsbensüberfluß, uun lag


Ein böser Zug um Wange, Kinn und Mund,
Ein lauernd Etwas in dem Feuerblick
Vergiftete, entstellte ihre Schönheit.

Nun ist sie die Sünde, die ihn von der Pflicht abgezogen, aus der ihm gesetzten
Ordnung herausgerissen hat. Und reuig kehrt er in seinen Kreis zurück und


Grillxarzcrs Bstcrreichcrtnm

Parole der Moderne: Selbstgenuß des Individuums um jeden Preis, der
Leitsatz Grillparzers: Hingabe des Individuums an ein Stärkeres, Un¬
gespalteneres, an die bestehende Ordnung, die zumeist eine Staatsordnung ist,
und in dieser Unterjochung des Einzelnen entfernt er sich vom Heute bis zur
Unverständlichkeit.

Will man den Dichter gleichzeitig in so warmer Nähe und so eiskalter
Ferne sehen, so lasse man das Trauerspiel „Die Jüdin von Toledo" auf sich
wirken. Es ist modern, wie der König von Liebe als fast einer Krankheit,
fast einem nur sexuellen Drang ergriffen wird, modern, wie er sich aus der
Umklammerung durch übliche Moral, durch „Sittsamkeit noch sittlicher als
Sitte" zu Rahel hinflüchtet, wie er alle Pflicht von sich wirft, um einmal
wirkliches Leben zu genießen. Und es ist modern, so modern, daß vielleicht
die ganze doch so stark auf gerade dieses Thema gerichtete gegenwärtige
Dramatik keinen hier heranreichenden Charakter geschaffen hat, wie Rahel in
sich das Schillernde der Wollust verkörpert, wie sie als dirnenhaftes, grausames
Geschöpf gezeichnet ist (eine Perverse, ehe der Ausdruck erfunden war!), wie
ihr doch nicht die menschlicherer Züge fehlen, wie ihr Charakter eben das selt¬
samste Gemisch aus Böse und Gut darstellt, wie man ihr mit solchen moralischen
Bezeichnungen überhaupt nicht beikommen kann, da sie im Grunde ein rein
animalisches, nicht denkendes, nur lebendes Geschöpf ist. Und es ist ganz und
gar der Ausdruck des Heute, wenn Alfons, von allem moralischen Urteil absehend,
zum Preis der ermordeten Geliebten sagt, sie sei eine Eigene, eine Indivi¬
dualität gewesen, sie sei immer ihrem Selbst gefolgt:


Ich sage dir, wir sind nur Schatten,
Ich, du und jene andern aus der Menge;
Denn bist du gut: du hast es so gelernt,
Und bin ich ehrenhaft: ich sub's nicht anders;
Sind jene andern Mörder, wie sie's sind:
Schon ihre Väter Waren's, wenn es galt.
Die Welt ist nur ein co'ger Wiederhnll,
Und Korn aus Korn ist ihre ganze Ernte.
Sie aber war die Wahrheit, ob verzerrt,
All, was sie tut, ging aus aus ihrem Selbst,
urplötzlich, unverhofft und ohne Beispiel.

Aber dann vor der Leiche der den: Staatswohl Geschlachteten geht eine
Änderung mit Alfons vor sich — Grillparzer, der Meilenferne, ergreift die Zügel
des Dramas. Nun weiß der König nichts mehr von Raheis Persönlichkeit
und Lsbensüberfluß, uun lag


Ein böser Zug um Wange, Kinn und Mund,
Ein lauernd Etwas in dem Feuerblick
Vergiftete, entstellte ihre Schönheit.

Nun ist sie die Sünde, die ihn von der Pflicht abgezogen, aus der ihm gesetzten
Ordnung herausgerissen hat. Und reuig kehrt er in seinen Kreis zurück und


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[0316] Grillxarzcrs Bstcrreichcrtnm Parole der Moderne: Selbstgenuß des Individuums um jeden Preis, der Leitsatz Grillparzers: Hingabe des Individuums an ein Stärkeres, Un¬ gespalteneres, an die bestehende Ordnung, die zumeist eine Staatsordnung ist, und in dieser Unterjochung des Einzelnen entfernt er sich vom Heute bis zur Unverständlichkeit. Will man den Dichter gleichzeitig in so warmer Nähe und so eiskalter Ferne sehen, so lasse man das Trauerspiel „Die Jüdin von Toledo" auf sich wirken. Es ist modern, wie der König von Liebe als fast einer Krankheit, fast einem nur sexuellen Drang ergriffen wird, modern, wie er sich aus der Umklammerung durch übliche Moral, durch „Sittsamkeit noch sittlicher als Sitte" zu Rahel hinflüchtet, wie er alle Pflicht von sich wirft, um einmal wirkliches Leben zu genießen. Und es ist modern, so modern, daß vielleicht die ganze doch so stark auf gerade dieses Thema gerichtete gegenwärtige Dramatik keinen hier heranreichenden Charakter geschaffen hat, wie Rahel in sich das Schillernde der Wollust verkörpert, wie sie als dirnenhaftes, grausames Geschöpf gezeichnet ist (eine Perverse, ehe der Ausdruck erfunden war!), wie ihr doch nicht die menschlicherer Züge fehlen, wie ihr Charakter eben das selt¬ samste Gemisch aus Böse und Gut darstellt, wie man ihr mit solchen moralischen Bezeichnungen überhaupt nicht beikommen kann, da sie im Grunde ein rein animalisches, nicht denkendes, nur lebendes Geschöpf ist. Und es ist ganz und gar der Ausdruck des Heute, wenn Alfons, von allem moralischen Urteil absehend, zum Preis der ermordeten Geliebten sagt, sie sei eine Eigene, eine Indivi¬ dualität gewesen, sie sei immer ihrem Selbst gefolgt: Ich sage dir, wir sind nur Schatten, Ich, du und jene andern aus der Menge; Denn bist du gut: du hast es so gelernt, Und bin ich ehrenhaft: ich sub's nicht anders; Sind jene andern Mörder, wie sie's sind: Schon ihre Väter Waren's, wenn es galt. Die Welt ist nur ein co'ger Wiederhnll, Und Korn aus Korn ist ihre ganze Ernte. Sie aber war die Wahrheit, ob verzerrt, All, was sie tut, ging aus aus ihrem Selbst, urplötzlich, unverhofft und ohne Beispiel. Aber dann vor der Leiche der den: Staatswohl Geschlachteten geht eine Änderung mit Alfons vor sich — Grillparzer, der Meilenferne, ergreift die Zügel des Dramas. Nun weiß der König nichts mehr von Raheis Persönlichkeit und Lsbensüberfluß, uun lag Ein böser Zug um Wange, Kinn und Mund, Ein lauernd Etwas in dem Feuerblick Vergiftete, entstellte ihre Schönheit. Nun ist sie die Sünde, die ihn von der Pflicht abgezogen, aus der ihm gesetzten Ordnung herausgerissen hat. Und reuig kehrt er in seinen Kreis zurück und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/316>, abgerufen am 25.08.2024.