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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Grillparzers Gsterreichertum

Hier gelangt man auf den Punkt, der Grillparzer der Moderne so ganz
nahestellt und ihn wiederum doch so meilenweit von ihr entfernt. Er kennt,
wie nur einer der modernsten Grübler, die Mannigfaltigkeit des Individuums
und seine Gefahren. Von srühauf weiß er, wie sehr das Ich in seiner Freiheit
und Stetigkeit bedrängt ist. Seine Mutter ist nervenkrank, zwei seiner Brüder
erben ihr Leiden, er selbst ist von halluzinatorischen Qualen verfolgt worden,
und vererbte Anlage bildet im Kern das Schicksal in seinem Erstling, der
"Ahnfrau". Auch Abhängigkeit von Stimmungen ist schon dem Dichter der
"Ahnfrau" bekannt und wird später von ihm in Rechnung gezogen. Weil der
Erzherzog Maximilian im "Bruderzwist" als ein behaglicher Mensch gezeichnet
ist, so brauchte man deshalb seine Worte:


An eurem roten Tisch fiel mir nichts ein,
Ein blaubehangner führte gercid ins Tollhaus,
Doch grün, das stärkt das Aug und den Verstand

nicht nur von der humoristischen Seite zu nehmen, könnte vielmehr darin eine
völlig moderne Kenntnis von den seltsamen Abhängigkeiten des Nervenzustandes
erblicken. Und vom "Traum ein Leben", wo Rustans unterdrückte Triebe
eine Nacht lang herrschet!, wo er in: Traum als ein anderer und doch als er
selber handelt, führt ein kurzer Weg zu M. E. delle Grazies "Schatten" etwa
oder zu Schnitzlers "Frau mit dein Dolche" herüber, zu den Dichtungen also,
die der Unsicherheit des wachen Ichs, dem Schwanken der Grenze zwischen
Traum und Wachen gelten. Wie man nun am sorglichsten beobachtet, am
zärtlichsten liebt, was man in Gefahr weiß, so beobachtet, so liebt die Gegen¬
wart das Individuum, und Grillparzer tut ebenso und ist ihr gewaltiger Vor¬
läufer im Individualisieren. Wenn klassisch ist, was sich auf das Typische
richtet, so steht Grillparzer der Klassik nicht näher als der Moderne, denn --
das haben alle erkannt, die ihn ernstlich studierten -- im Fortschreiten seiner
Entwicklung meißelt er an seinen Gestalten immer und immer mehr das Be¬
sondere, das Individuelle heraus. Hero ist uicht nur das liebende Mädchen,
Ottokar nicht nur der Eroberer, Bancban nicht nur der treue Knecht, sondern
unter zahllosen Liebenden, Herrschsüchtigen, Getreuen wird man diese Menschen
an besonderen Zügen als bestimmte Persönlichkeiten herauskennen. Und auch
an modernen Bemühungen, die Sprache individualistisch zu färben, fehlt es bei
Grillparzer nicht, obwohl er immer am Versgebrauch der Klassiker festhält.
Wie scharf unterscheidet er schon im "Goldenen Vließ" durch den Rhythmus
barbarische Rauheit der Kolcher vom Wohlklang hellenischer Rede, und wie
wenig hindert ihn im "Bruderzwist" der Vers daran, Kaiser Rudolphs
Sonderlingswesen auf die Seltsamkeiten seiner Redemeise auszudehnen. Gerade
dieser Rudolph ist der Typus eines modernen Dramenhelden, des nur leidenden,
nicht handelnden Helden nämlich. In seiner Mannigfaltigkeit, in seiner Zer¬
rissenheit und Bedrängnis sehe,: Grillparzer und die Moderne das Individuum
gleicherweise, und darin stehen sie Schulter an Schulter. Aber um heißt die


Grillparzers Gsterreichertum

Hier gelangt man auf den Punkt, der Grillparzer der Moderne so ganz
nahestellt und ihn wiederum doch so meilenweit von ihr entfernt. Er kennt,
wie nur einer der modernsten Grübler, die Mannigfaltigkeit des Individuums
und seine Gefahren. Von srühauf weiß er, wie sehr das Ich in seiner Freiheit
und Stetigkeit bedrängt ist. Seine Mutter ist nervenkrank, zwei seiner Brüder
erben ihr Leiden, er selbst ist von halluzinatorischen Qualen verfolgt worden,
und vererbte Anlage bildet im Kern das Schicksal in seinem Erstling, der
„Ahnfrau". Auch Abhängigkeit von Stimmungen ist schon dem Dichter der
„Ahnfrau" bekannt und wird später von ihm in Rechnung gezogen. Weil der
Erzherzog Maximilian im „Bruderzwist" als ein behaglicher Mensch gezeichnet
ist, so brauchte man deshalb seine Worte:


An eurem roten Tisch fiel mir nichts ein,
Ein blaubehangner führte gercid ins Tollhaus,
Doch grün, das stärkt das Aug und den Verstand

nicht nur von der humoristischen Seite zu nehmen, könnte vielmehr darin eine
völlig moderne Kenntnis von den seltsamen Abhängigkeiten des Nervenzustandes
erblicken. Und vom „Traum ein Leben", wo Rustans unterdrückte Triebe
eine Nacht lang herrschet!, wo er in: Traum als ein anderer und doch als er
selber handelt, führt ein kurzer Weg zu M. E. delle Grazies „Schatten" etwa
oder zu Schnitzlers „Frau mit dein Dolche" herüber, zu den Dichtungen also,
die der Unsicherheit des wachen Ichs, dem Schwanken der Grenze zwischen
Traum und Wachen gelten. Wie man nun am sorglichsten beobachtet, am
zärtlichsten liebt, was man in Gefahr weiß, so beobachtet, so liebt die Gegen¬
wart das Individuum, und Grillparzer tut ebenso und ist ihr gewaltiger Vor¬
läufer im Individualisieren. Wenn klassisch ist, was sich auf das Typische
richtet, so steht Grillparzer der Klassik nicht näher als der Moderne, denn —
das haben alle erkannt, die ihn ernstlich studierten — im Fortschreiten seiner
Entwicklung meißelt er an seinen Gestalten immer und immer mehr das Be¬
sondere, das Individuelle heraus. Hero ist uicht nur das liebende Mädchen,
Ottokar nicht nur der Eroberer, Bancban nicht nur der treue Knecht, sondern
unter zahllosen Liebenden, Herrschsüchtigen, Getreuen wird man diese Menschen
an besonderen Zügen als bestimmte Persönlichkeiten herauskennen. Und auch
an modernen Bemühungen, die Sprache individualistisch zu färben, fehlt es bei
Grillparzer nicht, obwohl er immer am Versgebrauch der Klassiker festhält.
Wie scharf unterscheidet er schon im „Goldenen Vließ" durch den Rhythmus
barbarische Rauheit der Kolcher vom Wohlklang hellenischer Rede, und wie
wenig hindert ihn im „Bruderzwist" der Vers daran, Kaiser Rudolphs
Sonderlingswesen auf die Seltsamkeiten seiner Redemeise auszudehnen. Gerade
dieser Rudolph ist der Typus eines modernen Dramenhelden, des nur leidenden,
nicht handelnden Helden nämlich. In seiner Mannigfaltigkeit, in seiner Zer¬
rissenheit und Bedrängnis sehe,: Grillparzer und die Moderne das Individuum
gleicherweise, und darin stehen sie Schulter an Schulter. Aber um heißt die


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[0315] Grillparzers Gsterreichertum Hier gelangt man auf den Punkt, der Grillparzer der Moderne so ganz nahestellt und ihn wiederum doch so meilenweit von ihr entfernt. Er kennt, wie nur einer der modernsten Grübler, die Mannigfaltigkeit des Individuums und seine Gefahren. Von srühauf weiß er, wie sehr das Ich in seiner Freiheit und Stetigkeit bedrängt ist. Seine Mutter ist nervenkrank, zwei seiner Brüder erben ihr Leiden, er selbst ist von halluzinatorischen Qualen verfolgt worden, und vererbte Anlage bildet im Kern das Schicksal in seinem Erstling, der „Ahnfrau". Auch Abhängigkeit von Stimmungen ist schon dem Dichter der „Ahnfrau" bekannt und wird später von ihm in Rechnung gezogen. Weil der Erzherzog Maximilian im „Bruderzwist" als ein behaglicher Mensch gezeichnet ist, so brauchte man deshalb seine Worte: An eurem roten Tisch fiel mir nichts ein, Ein blaubehangner führte gercid ins Tollhaus, Doch grün, das stärkt das Aug und den Verstand nicht nur von der humoristischen Seite zu nehmen, könnte vielmehr darin eine völlig moderne Kenntnis von den seltsamen Abhängigkeiten des Nervenzustandes erblicken. Und vom „Traum ein Leben", wo Rustans unterdrückte Triebe eine Nacht lang herrschet!, wo er in: Traum als ein anderer und doch als er selber handelt, führt ein kurzer Weg zu M. E. delle Grazies „Schatten" etwa oder zu Schnitzlers „Frau mit dein Dolche" herüber, zu den Dichtungen also, die der Unsicherheit des wachen Ichs, dem Schwanken der Grenze zwischen Traum und Wachen gelten. Wie man nun am sorglichsten beobachtet, am zärtlichsten liebt, was man in Gefahr weiß, so beobachtet, so liebt die Gegen¬ wart das Individuum, und Grillparzer tut ebenso und ist ihr gewaltiger Vor¬ läufer im Individualisieren. Wenn klassisch ist, was sich auf das Typische richtet, so steht Grillparzer der Klassik nicht näher als der Moderne, denn — das haben alle erkannt, die ihn ernstlich studierten — im Fortschreiten seiner Entwicklung meißelt er an seinen Gestalten immer und immer mehr das Be¬ sondere, das Individuelle heraus. Hero ist uicht nur das liebende Mädchen, Ottokar nicht nur der Eroberer, Bancban nicht nur der treue Knecht, sondern unter zahllosen Liebenden, Herrschsüchtigen, Getreuen wird man diese Menschen an besonderen Zügen als bestimmte Persönlichkeiten herauskennen. Und auch an modernen Bemühungen, die Sprache individualistisch zu färben, fehlt es bei Grillparzer nicht, obwohl er immer am Versgebrauch der Klassiker festhält. Wie scharf unterscheidet er schon im „Goldenen Vließ" durch den Rhythmus barbarische Rauheit der Kolcher vom Wohlklang hellenischer Rede, und wie wenig hindert ihn im „Bruderzwist" der Vers daran, Kaiser Rudolphs Sonderlingswesen auf die Seltsamkeiten seiner Redemeise auszudehnen. Gerade dieser Rudolph ist der Typus eines modernen Dramenhelden, des nur leidenden, nicht handelnden Helden nämlich. In seiner Mannigfaltigkeit, in seiner Zer¬ rissenheit und Bedrängnis sehe,: Grillparzer und die Moderne das Individuum gleicherweise, und darin stehen sie Schulter an Schulter. Aber um heißt die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/315>, abgerufen am 25.08.2024.