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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Naturerkenntnis und Weltanschauung

Menschenwürde zuschreiben dürfen. Oft genug mußte er die Überlegenheit der
in vieler Beziehung besser ausgestatteten Tiere am eigenen Leibe verspüren, wie
sollte da das Bewußtsein, der Herr der Schöpfung zu sein, zur Geltung
kommen!

Erst als durch das Zusammenarbeiten vieler der Kulturzustand gehoben
wurde und es damit immer klarer ward, welch mächtiges Mittel zur Beherrschung
der Natur den: Menschen in seiner Denkkraft zur Verfügung stand und wie sie
ihn hoch über die Masse der Geschöpfe hinaushob, da konnte jener Gedanke
von der Menschenwürde Wurzel fassen.

Einmal vorhanden, wuchs die Macht dieses Gedankens durch jeden weiteren
Fortschritt im Quadrate der Entfernung, bis er schließlich in dem stolzen Worte
Ausdruck fand: Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde.

Damit haben wir das zweite Merkmal der vornaturwissenschaftlichen Welt¬
anschauung: sie ist, wie wir vorhinsahen, eine dualistische, indem sie Gott und
Welt, Geist und Materie einander gegenüberstellt, und sie ist zweitens eine
anthropozentrische, d. h. sie sieht im Menschen den Zweck, um dessentwillen die
ganze Welt da ist.

Auf diesen beiden Grundpfeilern baut sich die Weltanschauung auf, die
ziemlich durch das ganze Mittelalter dank der geisterbeherrschenden Macht der
Kirche unverändert blieb. In ihren Einzelheiten größtenteils aus biblischen
oder, wo diese nicht ausreichten, aristotelischen Gedanken zusammengesetzt, läßt
sie sich folgendermaßen kurz skizzieren.

Die Welt, obwohl von Gott aus dem Nichts erschaffen, ist der Macht des
Bösen anheimgefallen. Gott hat dies seinem uns unerforschlichen Ratschlüsse
zufolge geschehen lassen, ist aber trotzdem, vor allem auf das Gebet seiner
Gläubigen hin, jederzeit bereit, in den Gang des Geschehens persönlich ein¬
zugreifen, nicht nur in großen Dingen, sondern auch in kleinen, wie die vielen
Wunder bestätigen, die uns in der Bibel, in den Heiligenlegenden und der
Volksüberlieferung berichtet werden. Das Hauptkampfobjekt ist die menschliche
Seele, die, zwar auch göttlichen Ursprungs, aber dennoch der Macht des Bösen
nicht entzogen ist. Die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt stellt lediglich den
Schauplatz dar, auf dem sich dieser Kampf abspielt. Die Heimat des Menschen,
die Erde, ist der Mittelpunkt und feste Grund der ganzen Welt. Sie stellt eine
riesige Scheibe dar, von der man nur nicht weiß, ob sie ein Rechteck oder ein
Kreis ist; sie wird von dem Ozean umrauscht. Über ihr wölbt sich das Firmament,
an dem die Sterne befestigt sind, und zwischen ihr und diesem ziehen die
Planeten, denen Sonne und Mond beigezählt werden, ihre krausen Bahnen, in
denen Gottes Hand das Schicksal der Menschen niederschreibe.

Wie man sieht, ist der logische Zusammenhang einzelner Züge dieses Welt¬
bildes kein fester. Er wurde aber ersetzt durch das mehr als tausendjährige
Schweigen jeder Kritik, wodurch diese Weltanschauung Zeit hatte, in einer Art
von Versinterungsprozeß zu einem schwer teilbaren Ganzen zu versteinern.


Naturerkenntnis und Weltanschauung

Menschenwürde zuschreiben dürfen. Oft genug mußte er die Überlegenheit der
in vieler Beziehung besser ausgestatteten Tiere am eigenen Leibe verspüren, wie
sollte da das Bewußtsein, der Herr der Schöpfung zu sein, zur Geltung
kommen!

Erst als durch das Zusammenarbeiten vieler der Kulturzustand gehoben
wurde und es damit immer klarer ward, welch mächtiges Mittel zur Beherrschung
der Natur den: Menschen in seiner Denkkraft zur Verfügung stand und wie sie
ihn hoch über die Masse der Geschöpfe hinaushob, da konnte jener Gedanke
von der Menschenwürde Wurzel fassen.

Einmal vorhanden, wuchs die Macht dieses Gedankens durch jeden weiteren
Fortschritt im Quadrate der Entfernung, bis er schließlich in dem stolzen Worte
Ausdruck fand: Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde.

Damit haben wir das zweite Merkmal der vornaturwissenschaftlichen Welt¬
anschauung: sie ist, wie wir vorhinsahen, eine dualistische, indem sie Gott und
Welt, Geist und Materie einander gegenüberstellt, und sie ist zweitens eine
anthropozentrische, d. h. sie sieht im Menschen den Zweck, um dessentwillen die
ganze Welt da ist.

Auf diesen beiden Grundpfeilern baut sich die Weltanschauung auf, die
ziemlich durch das ganze Mittelalter dank der geisterbeherrschenden Macht der
Kirche unverändert blieb. In ihren Einzelheiten größtenteils aus biblischen
oder, wo diese nicht ausreichten, aristotelischen Gedanken zusammengesetzt, läßt
sie sich folgendermaßen kurz skizzieren.

Die Welt, obwohl von Gott aus dem Nichts erschaffen, ist der Macht des
Bösen anheimgefallen. Gott hat dies seinem uns unerforschlichen Ratschlüsse
zufolge geschehen lassen, ist aber trotzdem, vor allem auf das Gebet seiner
Gläubigen hin, jederzeit bereit, in den Gang des Geschehens persönlich ein¬
zugreifen, nicht nur in großen Dingen, sondern auch in kleinen, wie die vielen
Wunder bestätigen, die uns in der Bibel, in den Heiligenlegenden und der
Volksüberlieferung berichtet werden. Das Hauptkampfobjekt ist die menschliche
Seele, die, zwar auch göttlichen Ursprungs, aber dennoch der Macht des Bösen
nicht entzogen ist. Die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt stellt lediglich den
Schauplatz dar, auf dem sich dieser Kampf abspielt. Die Heimat des Menschen,
die Erde, ist der Mittelpunkt und feste Grund der ganzen Welt. Sie stellt eine
riesige Scheibe dar, von der man nur nicht weiß, ob sie ein Rechteck oder ein
Kreis ist; sie wird von dem Ozean umrauscht. Über ihr wölbt sich das Firmament,
an dem die Sterne befestigt sind, und zwischen ihr und diesem ziehen die
Planeten, denen Sonne und Mond beigezählt werden, ihre krausen Bahnen, in
denen Gottes Hand das Schicksal der Menschen niederschreibe.

Wie man sieht, ist der logische Zusammenhang einzelner Züge dieses Welt¬
bildes kein fester. Er wurde aber ersetzt durch das mehr als tausendjährige
Schweigen jeder Kritik, wodurch diese Weltanschauung Zeit hatte, in einer Art
von Versinterungsprozeß zu einem schwer teilbaren Ganzen zu versteinern.


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[0018] Naturerkenntnis und Weltanschauung Menschenwürde zuschreiben dürfen. Oft genug mußte er die Überlegenheit der in vieler Beziehung besser ausgestatteten Tiere am eigenen Leibe verspüren, wie sollte da das Bewußtsein, der Herr der Schöpfung zu sein, zur Geltung kommen! Erst als durch das Zusammenarbeiten vieler der Kulturzustand gehoben wurde und es damit immer klarer ward, welch mächtiges Mittel zur Beherrschung der Natur den: Menschen in seiner Denkkraft zur Verfügung stand und wie sie ihn hoch über die Masse der Geschöpfe hinaushob, da konnte jener Gedanke von der Menschenwürde Wurzel fassen. Einmal vorhanden, wuchs die Macht dieses Gedankens durch jeden weiteren Fortschritt im Quadrate der Entfernung, bis er schließlich in dem stolzen Worte Ausdruck fand: Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde. Damit haben wir das zweite Merkmal der vornaturwissenschaftlichen Welt¬ anschauung: sie ist, wie wir vorhinsahen, eine dualistische, indem sie Gott und Welt, Geist und Materie einander gegenüberstellt, und sie ist zweitens eine anthropozentrische, d. h. sie sieht im Menschen den Zweck, um dessentwillen die ganze Welt da ist. Auf diesen beiden Grundpfeilern baut sich die Weltanschauung auf, die ziemlich durch das ganze Mittelalter dank der geisterbeherrschenden Macht der Kirche unverändert blieb. In ihren Einzelheiten größtenteils aus biblischen oder, wo diese nicht ausreichten, aristotelischen Gedanken zusammengesetzt, läßt sie sich folgendermaßen kurz skizzieren. Die Welt, obwohl von Gott aus dem Nichts erschaffen, ist der Macht des Bösen anheimgefallen. Gott hat dies seinem uns unerforschlichen Ratschlüsse zufolge geschehen lassen, ist aber trotzdem, vor allem auf das Gebet seiner Gläubigen hin, jederzeit bereit, in den Gang des Geschehens persönlich ein¬ zugreifen, nicht nur in großen Dingen, sondern auch in kleinen, wie die vielen Wunder bestätigen, die uns in der Bibel, in den Heiligenlegenden und der Volksüberlieferung berichtet werden. Das Hauptkampfobjekt ist die menschliche Seele, die, zwar auch göttlichen Ursprungs, aber dennoch der Macht des Bösen nicht entzogen ist. Die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt stellt lediglich den Schauplatz dar, auf dem sich dieser Kampf abspielt. Die Heimat des Menschen, die Erde, ist der Mittelpunkt und feste Grund der ganzen Welt. Sie stellt eine riesige Scheibe dar, von der man nur nicht weiß, ob sie ein Rechteck oder ein Kreis ist; sie wird von dem Ozean umrauscht. Über ihr wölbt sich das Firmament, an dem die Sterne befestigt sind, und zwischen ihr und diesem ziehen die Planeten, denen Sonne und Mond beigezählt werden, ihre krausen Bahnen, in denen Gottes Hand das Schicksal der Menschen niederschreibe. Wie man sieht, ist der logische Zusammenhang einzelner Züge dieses Welt¬ bildes kein fester. Er wurde aber ersetzt durch das mehr als tausendjährige Schweigen jeder Kritik, wodurch diese Weltanschauung Zeit hatte, in einer Art von Versinterungsprozeß zu einem schwer teilbaren Ganzen zu versteinern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/18>, abgerufen am 26.06.2024.