Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.Reichsspiegcl Wiener Brief Die Reichsratsanflosung -- Aussichten der Neuwahlen -- Polen und Regierung -- Arbeitsmethode des Reichsrnts -- Trinkgelderpolitik -- Die Parlamentarische Kor¬ ruption -- Sozialpolitik -- Nachgiebigkeit der Regierung -- Ungarische Forderungen -- Höfische Verstimmungen -- Kriegsminister gegen Thronfolger -- Graf Aehrenthal -- Albanien Die Reichsratsauflösung und die bevorstehenden Neuwahlen stehen Der zweite Hauptbestandteil der Regierungsmehrheit sind die Reichsspiegcl Wiener Brief Die Reichsratsanflosung — Aussichten der Neuwahlen — Polen und Regierung — Arbeitsmethode des Reichsrnts — Trinkgelderpolitik — Die Parlamentarische Kor¬ ruption — Sozialpolitik — Nachgiebigkeit der Regierung — Ungarische Forderungen — Höfische Verstimmungen — Kriegsminister gegen Thronfolger — Graf Aehrenthal — Albanien Die Reichsratsauflösung und die bevorstehenden Neuwahlen stehen Der zweite Hauptbestandteil der Regierungsmehrheit sind die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318430"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegcl</fw><lb/> </div> <div n="2"> <head> Wiener Brief</head><lb/> <note type="argument"> Die Reichsratsanflosung — Aussichten der Neuwahlen — Polen und Regierung —<lb/> Arbeitsmethode des Reichsrnts — Trinkgelderpolitik — Die Parlamentarische Kor¬<lb/> ruption — Sozialpolitik — Nachgiebigkeit der Regierung — Ungarische Forderungen —<lb/> Höfische Verstimmungen — Kriegsminister gegen Thronfolger — Graf Aehrenthal —<lb/> Albanien</note><lb/> <p xml:id="ID_663"> Die Reichsratsauflösung und die bevorstehenden Neuwahlen stehen<lb/> naturgemäß im Vordergrunde der österreichischen Politik, nicht als ob man sich<lb/> übermäßig über den Gegenstand aufregte, aber man empfindet den Kitzel der<lb/> Neugierde gegenüber dem Neuen, das kommen soll. Bevor ich ein paar Worte<lb/> über die Ursachen der Auflösung sage, möchte ich mich mit den Aussichten der<lb/> Neuwahlen beschäftigen, weil diese manches Licht auf die Vergangenheit werfen.<lb/> Die Wahlkreise sind in Österreich bei der letzten Wahlreform national abgegrenzt<lb/> worden, so daß keine Nationalität auf Kosten der anderen Eroberungen machen<lb/> kann (es müßten denn ganz unwahrscheinliche nationale Verschiebungen eintreten).<lb/> Auf diesem Wege kann die Regierung also keine Verstärkung ihrer Macht suchen.<lb/> Nun haben z. B. die Deutschen 231 Mandate; im verflossenen Reichstag besaßen<lb/> davon der deutsche Nationalverband 78, die Christlichsozialen 95, die Sozial¬<lb/> demokraten 51. Da die beiden erstgenannten Parteien die Regierung unter¬<lb/> stützen, kann diese Regierung ihre Mehrheit verstärken, wenn den Sozialdemokraten<lb/> Mandate abgenommen werden; da die Deutschsreiheitlichen und die Christlich¬<lb/> sozialen sie voraussichtlich bei den Stichwahlen gegen die Sozialdemokratie unter¬<lb/> stützen werden, sind die Aussichten in dieser Beziehung nicht ungünstig. Es<lb/> scheint auch bei den Massen ein gewisser Rückschlag gegenüber der sozialdemo¬<lb/> kratischen Phraseologie eingetreten zu sein; anderseits hat aber in manchen<lb/> Bezirken die Zahl der Arbeiter in den letzten vier Jahren stark zugenommen,<lb/> kurzum, auch der weitestgehende Optimismus rechnet mit einer Eroberung von<lb/> höchstens zwanzig sozialdemokratischen Mandaten. Das ist ja immerhin etwas,<lb/> der Mehrheit wachsen zwanzig Mandate zu, die Opposition verliert sie, das macht<lb/> bei Abstimmungen einen Unterschied von vierzig Stimmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_664" next="#ID_665"> Der zweite Hauptbestandteil der Regierungsmehrheit sind die<lb/> Polen; in drei Parteien gespalten, die sich untereinander heftig befehden, werden<lb/> sie doch im Reichsrat vom gemeinsamen Polenklub umfaßt, der gleichfalls einen<lb/> Bestandteil der Regierungsmehrheit bildete. Aber die inneren Zwistigkeiten färbten<lb/> auf das Verhältnis zur Regierung recht ungünstig ab. Die schönen Zeiten, wo<lb/> die Schlachtn uneingeschränkt im Polenklub regierte, sind, wie es scheint, unwieder¬<lb/> bringlich vorüber. So warf denn ein Teil der Polen, der mit den Tschechen<lb/> in heimlichen: Einverständnis war, der Regierung beständig Knüppel zwischen<lb/> die Füße. Es ist von hier aus schwer zu übersehen, wie sich die Dinge bei<lb/> den Wahlen gestalten werden; zurzeit spielen in Galizien, zum Teil vor den<lb/> Gerichten, einige ganz besonders bösartige Korruptionsskandale. Es müßte daher<lb/> nicht gar zu schwer sein, daß eine Partei, die nicht beteiligt ist. die kompromittierten</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0147]
Reichsspiegcl
Wiener Brief
Die Reichsratsanflosung — Aussichten der Neuwahlen — Polen und Regierung —
Arbeitsmethode des Reichsrnts — Trinkgelderpolitik — Die Parlamentarische Kor¬
ruption — Sozialpolitik — Nachgiebigkeit der Regierung — Ungarische Forderungen —
Höfische Verstimmungen — Kriegsminister gegen Thronfolger — Graf Aehrenthal —
Albanien
Die Reichsratsauflösung und die bevorstehenden Neuwahlen stehen
naturgemäß im Vordergrunde der österreichischen Politik, nicht als ob man sich
übermäßig über den Gegenstand aufregte, aber man empfindet den Kitzel der
Neugierde gegenüber dem Neuen, das kommen soll. Bevor ich ein paar Worte
über die Ursachen der Auflösung sage, möchte ich mich mit den Aussichten der
Neuwahlen beschäftigen, weil diese manches Licht auf die Vergangenheit werfen.
Die Wahlkreise sind in Österreich bei der letzten Wahlreform national abgegrenzt
worden, so daß keine Nationalität auf Kosten der anderen Eroberungen machen
kann (es müßten denn ganz unwahrscheinliche nationale Verschiebungen eintreten).
Auf diesem Wege kann die Regierung also keine Verstärkung ihrer Macht suchen.
Nun haben z. B. die Deutschen 231 Mandate; im verflossenen Reichstag besaßen
davon der deutsche Nationalverband 78, die Christlichsozialen 95, die Sozial¬
demokraten 51. Da die beiden erstgenannten Parteien die Regierung unter¬
stützen, kann diese Regierung ihre Mehrheit verstärken, wenn den Sozialdemokraten
Mandate abgenommen werden; da die Deutschsreiheitlichen und die Christlich¬
sozialen sie voraussichtlich bei den Stichwahlen gegen die Sozialdemokratie unter¬
stützen werden, sind die Aussichten in dieser Beziehung nicht ungünstig. Es
scheint auch bei den Massen ein gewisser Rückschlag gegenüber der sozialdemo¬
kratischen Phraseologie eingetreten zu sein; anderseits hat aber in manchen
Bezirken die Zahl der Arbeiter in den letzten vier Jahren stark zugenommen,
kurzum, auch der weitestgehende Optimismus rechnet mit einer Eroberung von
höchstens zwanzig sozialdemokratischen Mandaten. Das ist ja immerhin etwas,
der Mehrheit wachsen zwanzig Mandate zu, die Opposition verliert sie, das macht
bei Abstimmungen einen Unterschied von vierzig Stimmen.
Der zweite Hauptbestandteil der Regierungsmehrheit sind die
Polen; in drei Parteien gespalten, die sich untereinander heftig befehden, werden
sie doch im Reichsrat vom gemeinsamen Polenklub umfaßt, der gleichfalls einen
Bestandteil der Regierungsmehrheit bildete. Aber die inneren Zwistigkeiten färbten
auf das Verhältnis zur Regierung recht ungünstig ab. Die schönen Zeiten, wo
die Schlachtn uneingeschränkt im Polenklub regierte, sind, wie es scheint, unwieder¬
bringlich vorüber. So warf denn ein Teil der Polen, der mit den Tschechen
in heimlichen: Einverständnis war, der Regierung beständig Knüppel zwischen
die Füße. Es ist von hier aus schwer zu übersehen, wie sich die Dinge bei
den Wahlen gestalten werden; zurzeit spielen in Galizien, zum Teil vor den
Gerichten, einige ganz besonders bösartige Korruptionsskandale. Es müßte daher
nicht gar zu schwer sein, daß eine Partei, die nicht beteiligt ist. die kompromittierten
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