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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspicgel

der Monarchie, das sind lauter "freisinnige" Bekenntnisse! Eine tiefgehende
Meinungsverschiedenheit ist lediglich bezüglich der Stellung zur Sozialdemokratie
vorhanden. Doch scheint es, daß die Liberalen in dieser Beziehung nationaler
denken als die Konservativen. Sie halten selbstverständlich mit den Konservativen
die sozialdemokratische Partei wegen deren Grundsätzen und Kampfesweise für
eine Gefahr; sie glauben aber im Gegensatz zu den Konservativen, daß in der
Mehrzahl der sozialdemokratischen Wähler gute Deutsche stecken, die stets bereit
sein werden, ihre nationale Pflicht zu erfüllen, und die unter gewissen Voraus-
setzungen auch der roten Partei abspenstig gemacht werden könnten. Die Voraus¬
setzungen bietet das Wirtschaftsleben. Wird mehr als bisher die nationale
Wirtschaft auch völkisch aufgefaßt, dann werden auch die gemeinsamen Interessen
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern weiter zu politischer Gemeinsamkeit
führen, und sozialistische Hetzer werden für ihre Tiraden in der deutschen Arbeiter¬
schaft immer weniger Anklang finden.

Bei aller Anerkennung der Bedeutung einer starken liberalen Mittelpartei
wird man indessen feststellen müssen, daß seitens der nationalliberalen Partei¬
leitung während der abgelaufenen zwei Jahre Schritte unternommen worden
sind, die auf beiden Seiten Mißtrauen wecken konnten und geweckt haben. Ich
halte für den schwersten Fehler, der nach Lage der Dinge begangen werden
konnte, das Zusammenarbeiten mit der Reichsregierung in der elsa߬
lothringischen Frage. Von den grundsätzlichen Bedenken gegen das Reform¬
werk ganz abgesehen, wäre die Inangriffnahme in ruhigeren Zeiten überhaupt
verständlicher gewesen. Aber in diesen Zeiten der Unruhe und nachdem der
leitende Staatsmann in der Behandlung der preußischen Verfassungsreform sich
durchaus nicht als Führer bewährt hatte, durfte eine in die Opposition gedrängte
Partei, die um ihre fernere Existenz kämpft, sich nicht mit dem Geschick dieses
Staatsmannes verbinden. Und hier wird Bassermann zum Sündenbock nicht
wegen seiner jungliberalen Neigungen, nicht wegen grundsätzlich ablehnender
Haltung, wie ihm von konservativer Seite vorgeworfen wird, sondern weil er
auf Drängen vom rechten Flügel seiner Partei her den Nachfolger des Fürsten
Bülow, der dessen Politik nicht zur seinigen machte, unterstützte. Das ist der
prinzipielle Fehler, aus dem alle weiteren entstanden sind. Das Zusammen¬
wirken der Partei mit der Regierung in der elsaß-lothringischen Verfassungs-
frage mußte vermieden werden, selbst dann, wenn ihre Erledigung der Partei
am Herzen lag. Statt dessen hat Bassermann gerade in dieser Frage die
Führung übernommen und dadurch Anlaß zu den bekannten Verdächtigungen
gegeben, mit denen nicht von nationalliberaler Seite, auch nicht von konser¬
vativer, sondern von einer "unparteiischen" Stelle aus gegen ihn agitiert wird.
Diese unparteiische Stelle ist natürlich nicht in der Reichskanzlei zu suchen. Ver¬
leibe nicht! Auch im Pressebureau in der Wilhelmstraße wird jede Einmischung
bestritten. Das hindert indessen nicht, daß gewisse Stellen, die einst Wassermann
sehr umworben haben, nun ein großes Interesse daran haben, den Riß inner-


Grenzvoten II 1911 ^
Reichsspicgel

der Monarchie, das sind lauter „freisinnige" Bekenntnisse! Eine tiefgehende
Meinungsverschiedenheit ist lediglich bezüglich der Stellung zur Sozialdemokratie
vorhanden. Doch scheint es, daß die Liberalen in dieser Beziehung nationaler
denken als die Konservativen. Sie halten selbstverständlich mit den Konservativen
die sozialdemokratische Partei wegen deren Grundsätzen und Kampfesweise für
eine Gefahr; sie glauben aber im Gegensatz zu den Konservativen, daß in der
Mehrzahl der sozialdemokratischen Wähler gute Deutsche stecken, die stets bereit
sein werden, ihre nationale Pflicht zu erfüllen, und die unter gewissen Voraus-
setzungen auch der roten Partei abspenstig gemacht werden könnten. Die Voraus¬
setzungen bietet das Wirtschaftsleben. Wird mehr als bisher die nationale
Wirtschaft auch völkisch aufgefaßt, dann werden auch die gemeinsamen Interessen
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern weiter zu politischer Gemeinsamkeit
führen, und sozialistische Hetzer werden für ihre Tiraden in der deutschen Arbeiter¬
schaft immer weniger Anklang finden.

Bei aller Anerkennung der Bedeutung einer starken liberalen Mittelpartei
wird man indessen feststellen müssen, daß seitens der nationalliberalen Partei¬
leitung während der abgelaufenen zwei Jahre Schritte unternommen worden
sind, die auf beiden Seiten Mißtrauen wecken konnten und geweckt haben. Ich
halte für den schwersten Fehler, der nach Lage der Dinge begangen werden
konnte, das Zusammenarbeiten mit der Reichsregierung in der elsa߬
lothringischen Frage. Von den grundsätzlichen Bedenken gegen das Reform¬
werk ganz abgesehen, wäre die Inangriffnahme in ruhigeren Zeiten überhaupt
verständlicher gewesen. Aber in diesen Zeiten der Unruhe und nachdem der
leitende Staatsmann in der Behandlung der preußischen Verfassungsreform sich
durchaus nicht als Führer bewährt hatte, durfte eine in die Opposition gedrängte
Partei, die um ihre fernere Existenz kämpft, sich nicht mit dem Geschick dieses
Staatsmannes verbinden. Und hier wird Bassermann zum Sündenbock nicht
wegen seiner jungliberalen Neigungen, nicht wegen grundsätzlich ablehnender
Haltung, wie ihm von konservativer Seite vorgeworfen wird, sondern weil er
auf Drängen vom rechten Flügel seiner Partei her den Nachfolger des Fürsten
Bülow, der dessen Politik nicht zur seinigen machte, unterstützte. Das ist der
prinzipielle Fehler, aus dem alle weiteren entstanden sind. Das Zusammen¬
wirken der Partei mit der Regierung in der elsaß-lothringischen Verfassungs-
frage mußte vermieden werden, selbst dann, wenn ihre Erledigung der Partei
am Herzen lag. Statt dessen hat Bassermann gerade in dieser Frage die
Führung übernommen und dadurch Anlaß zu den bekannten Verdächtigungen
gegeben, mit denen nicht von nationalliberaler Seite, auch nicht von konser¬
vativer, sondern von einer „unparteiischen" Stelle aus gegen ihn agitiert wird.
Diese unparteiische Stelle ist natürlich nicht in der Reichskanzlei zu suchen. Ver¬
leibe nicht! Auch im Pressebureau in der Wilhelmstraße wird jede Einmischung
bestritten. Das hindert indessen nicht, daß gewisse Stellen, die einst Wassermann
sehr umworben haben, nun ein großes Interesse daran haben, den Riß inner-


Grenzvoten II 1911 ^
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[0101] Reichsspicgel der Monarchie, das sind lauter „freisinnige" Bekenntnisse! Eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit ist lediglich bezüglich der Stellung zur Sozialdemokratie vorhanden. Doch scheint es, daß die Liberalen in dieser Beziehung nationaler denken als die Konservativen. Sie halten selbstverständlich mit den Konservativen die sozialdemokratische Partei wegen deren Grundsätzen und Kampfesweise für eine Gefahr; sie glauben aber im Gegensatz zu den Konservativen, daß in der Mehrzahl der sozialdemokratischen Wähler gute Deutsche stecken, die stets bereit sein werden, ihre nationale Pflicht zu erfüllen, und die unter gewissen Voraus- setzungen auch der roten Partei abspenstig gemacht werden könnten. Die Voraus¬ setzungen bietet das Wirtschaftsleben. Wird mehr als bisher die nationale Wirtschaft auch völkisch aufgefaßt, dann werden auch die gemeinsamen Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern weiter zu politischer Gemeinsamkeit führen, und sozialistische Hetzer werden für ihre Tiraden in der deutschen Arbeiter¬ schaft immer weniger Anklang finden. Bei aller Anerkennung der Bedeutung einer starken liberalen Mittelpartei wird man indessen feststellen müssen, daß seitens der nationalliberalen Partei¬ leitung während der abgelaufenen zwei Jahre Schritte unternommen worden sind, die auf beiden Seiten Mißtrauen wecken konnten und geweckt haben. Ich halte für den schwersten Fehler, der nach Lage der Dinge begangen werden konnte, das Zusammenarbeiten mit der Reichsregierung in der elsa߬ lothringischen Frage. Von den grundsätzlichen Bedenken gegen das Reform¬ werk ganz abgesehen, wäre die Inangriffnahme in ruhigeren Zeiten überhaupt verständlicher gewesen. Aber in diesen Zeiten der Unruhe und nachdem der leitende Staatsmann in der Behandlung der preußischen Verfassungsreform sich durchaus nicht als Führer bewährt hatte, durfte eine in die Opposition gedrängte Partei, die um ihre fernere Existenz kämpft, sich nicht mit dem Geschick dieses Staatsmannes verbinden. Und hier wird Bassermann zum Sündenbock nicht wegen seiner jungliberalen Neigungen, nicht wegen grundsätzlich ablehnender Haltung, wie ihm von konservativer Seite vorgeworfen wird, sondern weil er auf Drängen vom rechten Flügel seiner Partei her den Nachfolger des Fürsten Bülow, der dessen Politik nicht zur seinigen machte, unterstützte. Das ist der prinzipielle Fehler, aus dem alle weiteren entstanden sind. Das Zusammen¬ wirken der Partei mit der Regierung in der elsaß-lothringischen Verfassungs- frage mußte vermieden werden, selbst dann, wenn ihre Erledigung der Partei am Herzen lag. Statt dessen hat Bassermann gerade in dieser Frage die Führung übernommen und dadurch Anlaß zu den bekannten Verdächtigungen gegeben, mit denen nicht von nationalliberaler Seite, auch nicht von konser¬ vativer, sondern von einer „unparteiischen" Stelle aus gegen ihn agitiert wird. Diese unparteiische Stelle ist natürlich nicht in der Reichskanzlei zu suchen. Ver¬ leibe nicht! Auch im Pressebureau in der Wilhelmstraße wird jede Einmischung bestritten. Das hindert indessen nicht, daß gewisse Stellen, die einst Wassermann sehr umworben haben, nun ein großes Interesse daran haben, den Riß inner- Grenzvoten II 1911 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/101>, abgerufen am 03.07.2024.