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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

einen wesentlichen Programmpunkt einer großen radikalen Partei, und bis weit
in bürgerliche Kreise hinein hat sich die Anschauung festgesetzt, daß eine Wirt¬
schaftspolitik bekämpft werden muß, die eine steigende Stenerbelastung und eine
Verteuerung der Lebenshaltung für jeden einzelnen zur fühlbaren Wirkung hat.
Wie gewaltig sich aber auch unsere Prodnktions- und Konsumverhältnisse und
damit die gesamten Lohnverhältnisse geändert haben, das fühlt man wohl im
allgemeinen, ist aber nicht geneigt, ihre Wirkung auf unsere nationale Lebens¬
haltung in gleichen! Maße anzuerkennen. Was es volkswirtschaftlich bedeutet,
wenn ein simpler Müllkutscher, der im Dienste der Wirtschaftsgenossenschaft
der Berliner Grundbesitzervereine den Kehricht von den Häusern der Gro߬
stadt einsammelt -- also eine einfache und weder besonders gefährliche
noch gesundheitsschädliche Beschäftigung --, wenn dieser Müllkutscher einen
Tagelohn von 6,60 Mark erhält, wenn ein Maurer täglich nicht unter 6, wohl
aber bis zu 10 Mark verdienen kann, was derartige Lohnsummen im Hinblick
auf die Lebenshaltung, auf die persönlichen Ansprüche der breiten Schichten und
damit im Zusammenhange auf die Preisgestaltung im Verhältnis von Angebot
und Nachfrage bedeuten, das wird weislich verschwiegen, weil man sich ja sonst
selbst die Waffen zum Kampf gegen unsere jetzige Wirtschaftspolitik aus der
Hand schlagen würde. Und daraus ergibt sich wieder die für Kenner der Ver¬
hältnisse mitunter recht ergötzliche, sür unsere innerpolitischen Zustände aber recht
betrübende Erscheinung, daß manch große und weitverbreitete Blätter in ihrem
politischen Teil die Regierung und ihre Wirtschaftspolitik aufs nachdrücklichste
und bissigste bekämpfen, in ihrem Handelsteil aber eine verständige, oft sogar
national-konservative Wirtschaftspolitik vertreten. So konnte man erst kürzlich
von einem Finanzpolitiker, der in seinen allgemeinen politischen Anschauungen
sicherlich nicht im Lager der Rechten steht, das bezeichnende Urteil über die
Börse des verflossenen Jahres lesen: "Die Börse war in sich gefestigt; und sie
hatte die Geschlossenheit ihres Charakters drei Ursachen zu verdanken: dem
Wachstum des allgemeinen Reichtums; den soliden Eigenschaften der
Effektenkäufer; der Befreiung von der unbedingten Überlegenheit
Amerikas. Das erste wird durch die Statistik nachgewiesen und gehört zu
den notwendigen Qualitäten einer in Gesundheit lebenden, wirtschaftlich
strebenden Bevölkerung."

Wenn wir aber in Gesundheit leben, wenn nicht bloß der National¬
wohlstand, sondern, was noch mehr bedeutet, der allgemeine Reichtum wächst,
ist dann nicht der Schluß natürlich und berechtigt, daß unsere Wirtschaftspolitik
im großen und ganzen vernünftig und richtig ist und daß somit auch die
"teuren Zeiten" nichts anderes sind als die unvermeidliche Konsequenz eines
allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und der damit verbundenen veränderten
Lebenshaltung? Es kann sich nur fragen: leben wir in der Tat wirtschaftlich
in Gesundheit und ist wirklich der allgemeine Reichtum gewachsen? Die Be¬
weise dafür finden wir nicht bloß in der Statistik, sondern in zahlreichen


Reichsspiegel

einen wesentlichen Programmpunkt einer großen radikalen Partei, und bis weit
in bürgerliche Kreise hinein hat sich die Anschauung festgesetzt, daß eine Wirt¬
schaftspolitik bekämpft werden muß, die eine steigende Stenerbelastung und eine
Verteuerung der Lebenshaltung für jeden einzelnen zur fühlbaren Wirkung hat.
Wie gewaltig sich aber auch unsere Prodnktions- und Konsumverhältnisse und
damit die gesamten Lohnverhältnisse geändert haben, das fühlt man wohl im
allgemeinen, ist aber nicht geneigt, ihre Wirkung auf unsere nationale Lebens¬
haltung in gleichen! Maße anzuerkennen. Was es volkswirtschaftlich bedeutet,
wenn ein simpler Müllkutscher, der im Dienste der Wirtschaftsgenossenschaft
der Berliner Grundbesitzervereine den Kehricht von den Häusern der Gro߬
stadt einsammelt — also eine einfache und weder besonders gefährliche
noch gesundheitsschädliche Beschäftigung —, wenn dieser Müllkutscher einen
Tagelohn von 6,60 Mark erhält, wenn ein Maurer täglich nicht unter 6, wohl
aber bis zu 10 Mark verdienen kann, was derartige Lohnsummen im Hinblick
auf die Lebenshaltung, auf die persönlichen Ansprüche der breiten Schichten und
damit im Zusammenhange auf die Preisgestaltung im Verhältnis von Angebot
und Nachfrage bedeuten, das wird weislich verschwiegen, weil man sich ja sonst
selbst die Waffen zum Kampf gegen unsere jetzige Wirtschaftspolitik aus der
Hand schlagen würde. Und daraus ergibt sich wieder die für Kenner der Ver¬
hältnisse mitunter recht ergötzliche, sür unsere innerpolitischen Zustände aber recht
betrübende Erscheinung, daß manch große und weitverbreitete Blätter in ihrem
politischen Teil die Regierung und ihre Wirtschaftspolitik aufs nachdrücklichste
und bissigste bekämpfen, in ihrem Handelsteil aber eine verständige, oft sogar
national-konservative Wirtschaftspolitik vertreten. So konnte man erst kürzlich
von einem Finanzpolitiker, der in seinen allgemeinen politischen Anschauungen
sicherlich nicht im Lager der Rechten steht, das bezeichnende Urteil über die
Börse des verflossenen Jahres lesen: „Die Börse war in sich gefestigt; und sie
hatte die Geschlossenheit ihres Charakters drei Ursachen zu verdanken: dem
Wachstum des allgemeinen Reichtums; den soliden Eigenschaften der
Effektenkäufer; der Befreiung von der unbedingten Überlegenheit
Amerikas. Das erste wird durch die Statistik nachgewiesen und gehört zu
den notwendigen Qualitäten einer in Gesundheit lebenden, wirtschaftlich
strebenden Bevölkerung."

Wenn wir aber in Gesundheit leben, wenn nicht bloß der National¬
wohlstand, sondern, was noch mehr bedeutet, der allgemeine Reichtum wächst,
ist dann nicht der Schluß natürlich und berechtigt, daß unsere Wirtschaftspolitik
im großen und ganzen vernünftig und richtig ist und daß somit auch die
„teuren Zeiten" nichts anderes sind als die unvermeidliche Konsequenz eines
allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und der damit verbundenen veränderten
Lebenshaltung? Es kann sich nur fragen: leben wir in der Tat wirtschaftlich
in Gesundheit und ist wirklich der allgemeine Reichtum gewachsen? Die Be¬
weise dafür finden wir nicht bloß in der Statistik, sondern in zahlreichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/67>, abgerufen am 24.07.2024.