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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

im Verkehr mit Rußland aufzuerlegen. Politisch haben wir als Deutsche von
Rußland nichts zu erwarten, um so mehr wirtschaftlich. Rußland hat gute Ernten
gehabt; seine Kaufkraft ist daher gesteigert, und unser Ausfuhrhandel darf auf
leidlich gute Absatzverhältnisse rechnen. Er wird die Konjunktur um so besser
ausnutzen können, je geringeren Illusionen sich die Politiker gegenüber dem
Moskowitertum hingeben werden.


Wirtschaft

Wachstum des allgemeinen Reichtums -- Der deutsche Knhleumm'le -- Eisenbnhn-
einnnhmen -- Kali.

Das volkswirtschaftliche Problem unserer Tage sind die "teuren Zeiten",
die Steigerung der Lebensmittelpreise, der Zölle und Steuern, die Verteuerung
der gesamten Lebenshaltung der breiten Massen, aus der die Parteien
unter den verschiedensten Schlagworten politisches Kapital zu schlagen
suchen. Unser innerpolitisches Leben steht durchaus unter der Einwirkung der
letzten Finanzreform. Es ist ja im politischen Kampf nicht leicht, sich von
tönenden Schlagworten zu emanzipieren, von Übertreibungen sich fernzuhalten,
am schwersten gar dort, wo es sich nicht um luftige Ideale, sondern um den
Geldbeutel handelt; hier ist der Punkt, wo der idealste Deutsche höchst empfindlich
ist. Und weil er die veränderten Verhältnisse, die teuren Zeiten unmittelbar
am eigenen Leibe spürt, an allen ihm mehr oder weniger gewohnten Lebens¬
bedingungen, so fragt er vielfach gar nicht erst lange nach ihrer wirtschaftlichen
Berechtigung und ihrer ökonomischen Notwendigkeit, sondern geht hin und wählt
sozialdemokratisch. Die Erkenntnis, daß auch die Sozialdemokratie nicht in der
Lage ist, wirtschaftliche Entwickelungen zu verändern, sie zurückzuschrauben, ohne
empfindliche Beeinträchtigung unserer materiellen Leistungs- und Produktions-
fähigkeit, der Lohn- und Einkommenverhältnisse von Arbeitern und Unter¬
nehmern -- diese Erkenntnis ist nur auf praktischem Wege zu gewinnen, und
dafür sind die Experimente zu kostspielig. Es ist fabelhaft leicht, über Militarismus
und Marinismus herzufallen und dabei zu übersehen, daß in dieser stetigen
militärischen Bereitschaft auch eine sichere und dauernde Nährquelle sür Hundert¬
tausende von Arbeitern liegt; daß die Panzer, die wir zum Schutz unseres
großen Überseehandels brauchen, soundso viel Hüttenwerke und diese wieder
soundso viel Kohlenzechen beschäftigen, die allesamt einer großen Arbeiterarmee
ein auskömmliches Dasein ermöglichen.

Das sind Weisheiten, die man sich schon an den Schuhsohlen abgelaufen
haben müßte, und die dennoch, wie ein Blick in die sozialdemokratische Presse
zeigt, in der täglichen politischen Agitation eine große Rolle spielen und auf
die Massen Eindruck machen. Der Wahn, daß man nur abzurüsten brauchte,
um jährlich Hunderte voll Millionen im Reichshaushalt zu ersparen und dadurch
erhebliche Steuerbelastungen für den Staatsbürger hinfällig zu machen, dieser
Wahn ist nicht auszurotten, so handgreiflich töricht er auch ist. Bildet er doch


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im Verkehr mit Rußland aufzuerlegen. Politisch haben wir als Deutsche von
Rußland nichts zu erwarten, um so mehr wirtschaftlich. Rußland hat gute Ernten
gehabt; seine Kaufkraft ist daher gesteigert, und unser Ausfuhrhandel darf auf
leidlich gute Absatzverhältnisse rechnen. Er wird die Konjunktur um so besser
ausnutzen können, je geringeren Illusionen sich die Politiker gegenüber dem
Moskowitertum hingeben werden.


Wirtschaft

Wachstum des allgemeinen Reichtums — Der deutsche Knhleumm'le — Eisenbnhn-
einnnhmen — Kali.

Das volkswirtschaftliche Problem unserer Tage sind die „teuren Zeiten",
die Steigerung der Lebensmittelpreise, der Zölle und Steuern, die Verteuerung
der gesamten Lebenshaltung der breiten Massen, aus der die Parteien
unter den verschiedensten Schlagworten politisches Kapital zu schlagen
suchen. Unser innerpolitisches Leben steht durchaus unter der Einwirkung der
letzten Finanzreform. Es ist ja im politischen Kampf nicht leicht, sich von
tönenden Schlagworten zu emanzipieren, von Übertreibungen sich fernzuhalten,
am schwersten gar dort, wo es sich nicht um luftige Ideale, sondern um den
Geldbeutel handelt; hier ist der Punkt, wo der idealste Deutsche höchst empfindlich
ist. Und weil er die veränderten Verhältnisse, die teuren Zeiten unmittelbar
am eigenen Leibe spürt, an allen ihm mehr oder weniger gewohnten Lebens¬
bedingungen, so fragt er vielfach gar nicht erst lange nach ihrer wirtschaftlichen
Berechtigung und ihrer ökonomischen Notwendigkeit, sondern geht hin und wählt
sozialdemokratisch. Die Erkenntnis, daß auch die Sozialdemokratie nicht in der
Lage ist, wirtschaftliche Entwickelungen zu verändern, sie zurückzuschrauben, ohne
empfindliche Beeinträchtigung unserer materiellen Leistungs- und Produktions-
fähigkeit, der Lohn- und Einkommenverhältnisse von Arbeitern und Unter¬
nehmern — diese Erkenntnis ist nur auf praktischem Wege zu gewinnen, und
dafür sind die Experimente zu kostspielig. Es ist fabelhaft leicht, über Militarismus
und Marinismus herzufallen und dabei zu übersehen, daß in dieser stetigen
militärischen Bereitschaft auch eine sichere und dauernde Nährquelle sür Hundert¬
tausende von Arbeitern liegt; daß die Panzer, die wir zum Schutz unseres
großen Überseehandels brauchen, soundso viel Hüttenwerke und diese wieder
soundso viel Kohlenzechen beschäftigen, die allesamt einer großen Arbeiterarmee
ein auskömmliches Dasein ermöglichen.

Das sind Weisheiten, die man sich schon an den Schuhsohlen abgelaufen
haben müßte, und die dennoch, wie ein Blick in die sozialdemokratische Presse
zeigt, in der täglichen politischen Agitation eine große Rolle spielen und auf
die Massen Eindruck machen. Der Wahn, daß man nur abzurüsten brauchte,
um jährlich Hunderte voll Millionen im Reichshaushalt zu ersparen und dadurch
erhebliche Steuerbelastungen für den Staatsbürger hinfällig zu machen, dieser
Wahn ist nicht auszurotten, so handgreiflich töricht er auch ist. Bildet er doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/66>, abgerufen am 24.07.2024.