Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rcichsspiegel

deutschen Mittelstaaten den altpreußischen hinzugezählt wurden, und die Preußen
nach einem siegreichen Kriege durchführte, würde beweisen, daß es fern davon
war, sein Übergewicht zu mißbrauchen, und so ist es geblieben. Nach dem Kriege
von 1870/71 ist die französische Kriegskostenentschädigung auf Preußens Antrag
sogar nicht etwa nach den militärischen Leistungen, sondern nach der Einwohner¬
zahl, also zum Nachteil Preußens, an die Einzelstaaten verteilt worden. Will
man dagegen etwa die Schiffahrtsabgaben anführen, ein Projekt, das wir
durchaus nicht für glücklich halten, so vergißt man, daß dieser Plan ebensogut
oder mehr im Interesse der süddeutschen Staaten gemeint ist, und daß er im
Bundesrate mit starker Mehrheit angenommen worden ist.

Also die Stellung in: Bundesrate gibt Preußen zahlenmäßig kein Über¬
gewicht. Das tatsächliche Übergewicht aber besteht und läßt sich Gott sei
Dank durch keine noch so künstliche Stimmenverteilung beseitigen. Hinter den
14 Stimmen Preußens stehen eben fast zwei Drittel der deutschen Nation; es umfaßt
Angehörige aller deutschen Stämme mit Ausnahme des bayerischen, es grenzt
an sämtliche deutschen Bundesstaaten und umschließt eine ganze Anzahl kleinerer
als seine Enklaven; es besitzt den weitaus größten Teil der deutschen Küsten
und lange Strecken der dorthin fließenden Ströme; es hat von den 58000 Kilo¬
metern deutscher Staatsbahnen etwa 32 Kilometer in der Hand, von seinen
Leistungen für Heer und Marine gar nicht zu reden. Aus allen diesen Gründen
ist der gelegentlich gescholtene preußische "Partikularismus" wirklich etwas anderes
als etwa der bayerische. Man tut dem deutschen Volke einen schlechten Dienst,
wenn man ihm diese einfachen Tatsachen verschweigt oder verschleiert, gewissen
Empfindlichkeiten und dem alten unseligen Sondergeist zuliebe, der jetzt vor allein
in den Landtagen und in der Presse sein Wesen treibt. Nichts ist kläglicher und
nichts ungerechter, als dieses Gerede von dem Übergewicht Preußens, als ob
das zu beklagen sei oder mißbraucht würde. Es ist historisch entstanden wie
die Stellung der anderen Bundesstaaten auch, deren berechtigter und haltbarer
Selbständigkeit niemand zu nahe tritt, und unser Reich ist durch Preußen und
auf Preußen gegründet, nachdem alle Versuche, eine leistungsfähige deutsche
Gesamtverfassung ohne oder gegen Preußen zu schaffen, an denen es wahrlich
nicht gefehlt hat, gescheitert sind. Es ist unpatriotisch und unklug, die Ent¬
scheidung über wichtige nationale Interessen nicht von ihrem Werte für die
Gesamtheit, sondern davon abhängig zu machen, ob dadurch das "Übergewicht"
Preußens vermehrt oder vermindert würde. Die Einrichtung eines "Reichs¬
landes" war 1871 eine leidige Notwendigkeit, aber eine Halbheit, die Heinrich
von Treitschke damals eindringlich und scharfsichtig beurteilt hat, am ent¬
schiedensten in seiner Reichstagsrede am 20. Mai 1871. Sollte heute, nachdem
eine Erfahrung von vierzig Jahren alle seine Befürchtungen gerechtfertigt hat.
wirklich die Frage nach jenem Gesichtspunkte und nicht im nationalen Interesse
entschieden werden, so wäre das ein Beweis mehr von kläglicher politischer
Unreife, die nichts gelernt, aber viel vergessen hat, vor allem die Tatsache, daß,


Rcichsspiegel

deutschen Mittelstaaten den altpreußischen hinzugezählt wurden, und die Preußen
nach einem siegreichen Kriege durchführte, würde beweisen, daß es fern davon
war, sein Übergewicht zu mißbrauchen, und so ist es geblieben. Nach dem Kriege
von 1870/71 ist die französische Kriegskostenentschädigung auf Preußens Antrag
sogar nicht etwa nach den militärischen Leistungen, sondern nach der Einwohner¬
zahl, also zum Nachteil Preußens, an die Einzelstaaten verteilt worden. Will
man dagegen etwa die Schiffahrtsabgaben anführen, ein Projekt, das wir
durchaus nicht für glücklich halten, so vergißt man, daß dieser Plan ebensogut
oder mehr im Interesse der süddeutschen Staaten gemeint ist, und daß er im
Bundesrate mit starker Mehrheit angenommen worden ist.

Also die Stellung in: Bundesrate gibt Preußen zahlenmäßig kein Über¬
gewicht. Das tatsächliche Übergewicht aber besteht und läßt sich Gott sei
Dank durch keine noch so künstliche Stimmenverteilung beseitigen. Hinter den
14 Stimmen Preußens stehen eben fast zwei Drittel der deutschen Nation; es umfaßt
Angehörige aller deutschen Stämme mit Ausnahme des bayerischen, es grenzt
an sämtliche deutschen Bundesstaaten und umschließt eine ganze Anzahl kleinerer
als seine Enklaven; es besitzt den weitaus größten Teil der deutschen Küsten
und lange Strecken der dorthin fließenden Ströme; es hat von den 58000 Kilo¬
metern deutscher Staatsbahnen etwa 32 Kilometer in der Hand, von seinen
Leistungen für Heer und Marine gar nicht zu reden. Aus allen diesen Gründen
ist der gelegentlich gescholtene preußische „Partikularismus" wirklich etwas anderes
als etwa der bayerische. Man tut dem deutschen Volke einen schlechten Dienst,
wenn man ihm diese einfachen Tatsachen verschweigt oder verschleiert, gewissen
Empfindlichkeiten und dem alten unseligen Sondergeist zuliebe, der jetzt vor allein
in den Landtagen und in der Presse sein Wesen treibt. Nichts ist kläglicher und
nichts ungerechter, als dieses Gerede von dem Übergewicht Preußens, als ob
das zu beklagen sei oder mißbraucht würde. Es ist historisch entstanden wie
die Stellung der anderen Bundesstaaten auch, deren berechtigter und haltbarer
Selbständigkeit niemand zu nahe tritt, und unser Reich ist durch Preußen und
auf Preußen gegründet, nachdem alle Versuche, eine leistungsfähige deutsche
Gesamtverfassung ohne oder gegen Preußen zu schaffen, an denen es wahrlich
nicht gefehlt hat, gescheitert sind. Es ist unpatriotisch und unklug, die Ent¬
scheidung über wichtige nationale Interessen nicht von ihrem Werte für die
Gesamtheit, sondern davon abhängig zu machen, ob dadurch das „Übergewicht"
Preußens vermehrt oder vermindert würde. Die Einrichtung eines „Reichs¬
landes" war 1871 eine leidige Notwendigkeit, aber eine Halbheit, die Heinrich
von Treitschke damals eindringlich und scharfsichtig beurteilt hat, am ent¬
schiedensten in seiner Reichstagsrede am 20. Mai 1871. Sollte heute, nachdem
eine Erfahrung von vierzig Jahren alle seine Befürchtungen gerechtfertigt hat.
wirklich die Frage nach jenem Gesichtspunkte und nicht im nationalen Interesse
entschieden werden, so wäre das ein Beweis mehr von kläglicher politischer
Unreife, die nichts gelernt, aber viel vergessen hat, vor allem die Tatsache, daß,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0564" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318177"/>
            <fw type="header" place="top"> Rcichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2508" prev="#ID_2507"> deutschen Mittelstaaten den altpreußischen hinzugezählt wurden, und die Preußen<lb/>
nach einem siegreichen Kriege durchführte, würde beweisen, daß es fern davon<lb/>
war, sein Übergewicht zu mißbrauchen, und so ist es geblieben. Nach dem Kriege<lb/>
von 1870/71 ist die französische Kriegskostenentschädigung auf Preußens Antrag<lb/>
sogar nicht etwa nach den militärischen Leistungen, sondern nach der Einwohner¬<lb/>
zahl, also zum Nachteil Preußens, an die Einzelstaaten verteilt worden. Will<lb/>
man dagegen etwa die Schiffahrtsabgaben anführen, ein Projekt, das wir<lb/>
durchaus nicht für glücklich halten, so vergißt man, daß dieser Plan ebensogut<lb/>
oder mehr im Interesse der süddeutschen Staaten gemeint ist, und daß er im<lb/>
Bundesrate mit starker Mehrheit angenommen worden ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2509" next="#ID_2510"> Also die Stellung in: Bundesrate gibt Preußen zahlenmäßig kein Über¬<lb/>
gewicht. Das tatsächliche Übergewicht aber besteht und läßt sich Gott sei<lb/>
Dank durch keine noch so künstliche Stimmenverteilung beseitigen. Hinter den<lb/>
14 Stimmen Preußens stehen eben fast zwei Drittel der deutschen Nation; es umfaßt<lb/>
Angehörige aller deutschen Stämme mit Ausnahme des bayerischen, es grenzt<lb/>
an sämtliche deutschen Bundesstaaten und umschließt eine ganze Anzahl kleinerer<lb/>
als seine Enklaven; es besitzt den weitaus größten Teil der deutschen Küsten<lb/>
und lange Strecken der dorthin fließenden Ströme; es hat von den 58000 Kilo¬<lb/>
metern deutscher Staatsbahnen etwa 32 Kilometer in der Hand, von seinen<lb/>
Leistungen für Heer und Marine gar nicht zu reden. Aus allen diesen Gründen<lb/>
ist der gelegentlich gescholtene preußische &#x201E;Partikularismus" wirklich etwas anderes<lb/>
als etwa der bayerische. Man tut dem deutschen Volke einen schlechten Dienst,<lb/>
wenn man ihm diese einfachen Tatsachen verschweigt oder verschleiert, gewissen<lb/>
Empfindlichkeiten und dem alten unseligen Sondergeist zuliebe, der jetzt vor allein<lb/>
in den Landtagen und in der Presse sein Wesen treibt. Nichts ist kläglicher und<lb/>
nichts ungerechter, als dieses Gerede von dem Übergewicht Preußens, als ob<lb/>
das zu beklagen sei oder mißbraucht würde. Es ist historisch entstanden wie<lb/>
die Stellung der anderen Bundesstaaten auch, deren berechtigter und haltbarer<lb/>
Selbständigkeit niemand zu nahe tritt, und unser Reich ist durch Preußen und<lb/>
auf Preußen gegründet, nachdem alle Versuche, eine leistungsfähige deutsche<lb/>
Gesamtverfassung ohne oder gegen Preußen zu schaffen, an denen es wahrlich<lb/>
nicht gefehlt hat, gescheitert sind. Es ist unpatriotisch und unklug, die Ent¬<lb/>
scheidung über wichtige nationale Interessen nicht von ihrem Werte für die<lb/>
Gesamtheit, sondern davon abhängig zu machen, ob dadurch das &#x201E;Übergewicht"<lb/>
Preußens vermehrt oder vermindert würde. Die Einrichtung eines &#x201E;Reichs¬<lb/>
landes" war 1871 eine leidige Notwendigkeit, aber eine Halbheit, die Heinrich<lb/>
von Treitschke damals eindringlich und scharfsichtig beurteilt hat, am ent¬<lb/>
schiedensten in seiner Reichstagsrede am 20. Mai 1871. Sollte heute, nachdem<lb/>
eine Erfahrung von vierzig Jahren alle seine Befürchtungen gerechtfertigt hat.<lb/>
wirklich die Frage nach jenem Gesichtspunkte und nicht im nationalen Interesse<lb/>
entschieden werden, so wäre das ein Beweis mehr von kläglicher politischer<lb/>
Unreife, die nichts gelernt, aber viel vergessen hat, vor allem die Tatsache, daß,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0564] Rcichsspiegel deutschen Mittelstaaten den altpreußischen hinzugezählt wurden, und die Preußen nach einem siegreichen Kriege durchführte, würde beweisen, daß es fern davon war, sein Übergewicht zu mißbrauchen, und so ist es geblieben. Nach dem Kriege von 1870/71 ist die französische Kriegskostenentschädigung auf Preußens Antrag sogar nicht etwa nach den militärischen Leistungen, sondern nach der Einwohner¬ zahl, also zum Nachteil Preußens, an die Einzelstaaten verteilt worden. Will man dagegen etwa die Schiffahrtsabgaben anführen, ein Projekt, das wir durchaus nicht für glücklich halten, so vergißt man, daß dieser Plan ebensogut oder mehr im Interesse der süddeutschen Staaten gemeint ist, und daß er im Bundesrate mit starker Mehrheit angenommen worden ist. Also die Stellung in: Bundesrate gibt Preußen zahlenmäßig kein Über¬ gewicht. Das tatsächliche Übergewicht aber besteht und läßt sich Gott sei Dank durch keine noch so künstliche Stimmenverteilung beseitigen. Hinter den 14 Stimmen Preußens stehen eben fast zwei Drittel der deutschen Nation; es umfaßt Angehörige aller deutschen Stämme mit Ausnahme des bayerischen, es grenzt an sämtliche deutschen Bundesstaaten und umschließt eine ganze Anzahl kleinerer als seine Enklaven; es besitzt den weitaus größten Teil der deutschen Küsten und lange Strecken der dorthin fließenden Ströme; es hat von den 58000 Kilo¬ metern deutscher Staatsbahnen etwa 32 Kilometer in der Hand, von seinen Leistungen für Heer und Marine gar nicht zu reden. Aus allen diesen Gründen ist der gelegentlich gescholtene preußische „Partikularismus" wirklich etwas anderes als etwa der bayerische. Man tut dem deutschen Volke einen schlechten Dienst, wenn man ihm diese einfachen Tatsachen verschweigt oder verschleiert, gewissen Empfindlichkeiten und dem alten unseligen Sondergeist zuliebe, der jetzt vor allein in den Landtagen und in der Presse sein Wesen treibt. Nichts ist kläglicher und nichts ungerechter, als dieses Gerede von dem Übergewicht Preußens, als ob das zu beklagen sei oder mißbraucht würde. Es ist historisch entstanden wie die Stellung der anderen Bundesstaaten auch, deren berechtigter und haltbarer Selbständigkeit niemand zu nahe tritt, und unser Reich ist durch Preußen und auf Preußen gegründet, nachdem alle Versuche, eine leistungsfähige deutsche Gesamtverfassung ohne oder gegen Preußen zu schaffen, an denen es wahrlich nicht gefehlt hat, gescheitert sind. Es ist unpatriotisch und unklug, die Ent¬ scheidung über wichtige nationale Interessen nicht von ihrem Werte für die Gesamtheit, sondern davon abhängig zu machen, ob dadurch das „Übergewicht" Preußens vermehrt oder vermindert würde. Die Einrichtung eines „Reichs¬ landes" war 1871 eine leidige Notwendigkeit, aber eine Halbheit, die Heinrich von Treitschke damals eindringlich und scharfsichtig beurteilt hat, am ent¬ schiedensten in seiner Reichstagsrede am 20. Mai 1871. Sollte heute, nachdem eine Erfahrung von vierzig Jahren alle seine Befürchtungen gerechtfertigt hat. wirklich die Frage nach jenem Gesichtspunkte und nicht im nationalen Interesse entschieden werden, so wäre das ein Beweis mehr von kläglicher politischer Unreife, die nichts gelernt, aber viel vergessen hat, vor allem die Tatsache, daß,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/564
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/564>, abgerufen am 24.07.2024.