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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Mehrheiten, daß drei Stimmen entscheidend ins Gewicht fielen, pflegen aber
wichtige Beschlüsse im Bundesrate nicht gefaßt zu werden, und wenn man die
Schwierigkeiten eines so geringen Stimmenzuwachses vermeiden will, so bliebe
ja noch der Ausweg, das Reichsland in eine preußische Provinz zu verwandeln,
womit eine Vermehrung der preußischen Stimmen nicht notwendig verbunden
sein müßte. Anspruch auf staatliche Selbständigkeit hat es ohnehin nicht.

Betrachten wir einmal das "Übergewicht" Preußens etwas näher. In der
Stimmenzahl ist es überhaupt gar nicht vorhanden. Denn im Bundesrat führt
Preußen von 58 Stimmen 14, also etwa 22^ Prozent; es kann demnach in
den meisten Fällen ebenso gut überstimmt werden, wie jeder andere Staat.
Dieses Stimmenverhältnis entspricht ganz und gar nicht den Kräfteverhältnissen.
Preußen zählt nämlich jetzt von den 65 Millionen der Reichsbevölkerung über 40,
also mehr als 60 Prozent. Aber dieser Widerspruch ist in dem Wesen des
Bundesstaats begründet, weil bei dem natürlichen Übergewicht größerer
Bundesmitglieder sonst jedes Bundesverhältnis illusorisch würde, und geht des¬
halb durch die ganze Stimmenverteilung hindurch. Sachsen z. B. müßte bei
4 Millionen Einwohnern nach dem Maßstabe der preußischen Stimmen bereit
zehnten Teil, also etwa 1^/2 Stimmen führen, wie es in der Tat in der Schweiz
halbe Stimmen gibt, und alle eigentlichen Kleinstaaten führen ohne Unterschied
nur eine Stimme, obwohl doch z. B. Hamburg etwas mehr bedeutet als das
Fürstentum Lippe oder Schwarzburg-Rudolstadt. In einzelnen Fällen muß sich
jeder Bundesstaat gefallen lassen, im Bundesrat majorisiert zu werden, denn
einen polnischen Reichstag wollen wir doch nicht daraus machen. Auch Preußen
tut das und hat es getan, z. B. sogar in der immerhin wichtigen Frage der
Verlegung des Reichsgerichts nach Berlin oder nach Leipzig 1877, bei der es
in der Minderheit blieb, obwohl diese Minderheit Staaten mit zusammen
29 Millionen, die siegreiche Mehrheit solche mit im ganzen nur 12 Millionen
umfaßte. Aber ein häufigerer Gebrauch einer solchen rein formalen Mehrheit
wird vernünftigerweise vermieden, weil das zu bösartigen Reibungen und
schließlich zur Auflösung des Bundesverhältnisses führen könnte. Eben durch
einen solchen Mißbrauch ist 1866 der Deutsche Bund gesprengt worden. Einiger¬
maßen entschädigt wird Preußen für seine geringe Stimmenzahl und für den
Verzicht auf die volle Autonomie feiner Politik, obwohl es für sich eine selbständige
Großmacht sein könnte und vor 1866 mit 16 Millionen gewesen ist, durch
einige besondere Rechte des Präsidiums und durch die Bestimmung, das;
14 Stimmen genügen, um jede Änderung der Reichsverfassung zu verhindern,
also Preußen allein dazu imstande ist, daß somit z. B. bei der elsaß-lothringischen
Verfassungsreform gegen Preußens Willen nichts geschehen kann, am wenigsten
eine Aufhebung oder auch nur eine Verringerung der kaiserlichen Rechte im
Reichslande. Schon diese Stimmenverteilung, die auf der Stimmenzahl des
sogenannten weiteren Rats im Deutschen Bundestage mit seinen 69 Stimmen
(für Verfassungsfragen) beruht, indem die Stimmen der 1866 annektierten nord-


Reichsspiegel

Mehrheiten, daß drei Stimmen entscheidend ins Gewicht fielen, pflegen aber
wichtige Beschlüsse im Bundesrate nicht gefaßt zu werden, und wenn man die
Schwierigkeiten eines so geringen Stimmenzuwachses vermeiden will, so bliebe
ja noch der Ausweg, das Reichsland in eine preußische Provinz zu verwandeln,
womit eine Vermehrung der preußischen Stimmen nicht notwendig verbunden
sein müßte. Anspruch auf staatliche Selbständigkeit hat es ohnehin nicht.

Betrachten wir einmal das „Übergewicht" Preußens etwas näher. In der
Stimmenzahl ist es überhaupt gar nicht vorhanden. Denn im Bundesrat führt
Preußen von 58 Stimmen 14, also etwa 22^ Prozent; es kann demnach in
den meisten Fällen ebenso gut überstimmt werden, wie jeder andere Staat.
Dieses Stimmenverhältnis entspricht ganz und gar nicht den Kräfteverhältnissen.
Preußen zählt nämlich jetzt von den 65 Millionen der Reichsbevölkerung über 40,
also mehr als 60 Prozent. Aber dieser Widerspruch ist in dem Wesen des
Bundesstaats begründet, weil bei dem natürlichen Übergewicht größerer
Bundesmitglieder sonst jedes Bundesverhältnis illusorisch würde, und geht des¬
halb durch die ganze Stimmenverteilung hindurch. Sachsen z. B. müßte bei
4 Millionen Einwohnern nach dem Maßstabe der preußischen Stimmen bereit
zehnten Teil, also etwa 1^/2 Stimmen führen, wie es in der Tat in der Schweiz
halbe Stimmen gibt, und alle eigentlichen Kleinstaaten führen ohne Unterschied
nur eine Stimme, obwohl doch z. B. Hamburg etwas mehr bedeutet als das
Fürstentum Lippe oder Schwarzburg-Rudolstadt. In einzelnen Fällen muß sich
jeder Bundesstaat gefallen lassen, im Bundesrat majorisiert zu werden, denn
einen polnischen Reichstag wollen wir doch nicht daraus machen. Auch Preußen
tut das und hat es getan, z. B. sogar in der immerhin wichtigen Frage der
Verlegung des Reichsgerichts nach Berlin oder nach Leipzig 1877, bei der es
in der Minderheit blieb, obwohl diese Minderheit Staaten mit zusammen
29 Millionen, die siegreiche Mehrheit solche mit im ganzen nur 12 Millionen
umfaßte. Aber ein häufigerer Gebrauch einer solchen rein formalen Mehrheit
wird vernünftigerweise vermieden, weil das zu bösartigen Reibungen und
schließlich zur Auflösung des Bundesverhältnisses führen könnte. Eben durch
einen solchen Mißbrauch ist 1866 der Deutsche Bund gesprengt worden. Einiger¬
maßen entschädigt wird Preußen für seine geringe Stimmenzahl und für den
Verzicht auf die volle Autonomie feiner Politik, obwohl es für sich eine selbständige
Großmacht sein könnte und vor 1866 mit 16 Millionen gewesen ist, durch
einige besondere Rechte des Präsidiums und durch die Bestimmung, das;
14 Stimmen genügen, um jede Änderung der Reichsverfassung zu verhindern,
also Preußen allein dazu imstande ist, daß somit z. B. bei der elsaß-lothringischen
Verfassungsreform gegen Preußens Willen nichts geschehen kann, am wenigsten
eine Aufhebung oder auch nur eine Verringerung der kaiserlichen Rechte im
Reichslande. Schon diese Stimmenverteilung, die auf der Stimmenzahl des
sogenannten weiteren Rats im Deutschen Bundestage mit seinen 69 Stimmen
(für Verfassungsfragen) beruht, indem die Stimmen der 1866 annektierten nord-


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[0563] Reichsspiegel Mehrheiten, daß drei Stimmen entscheidend ins Gewicht fielen, pflegen aber wichtige Beschlüsse im Bundesrate nicht gefaßt zu werden, und wenn man die Schwierigkeiten eines so geringen Stimmenzuwachses vermeiden will, so bliebe ja noch der Ausweg, das Reichsland in eine preußische Provinz zu verwandeln, womit eine Vermehrung der preußischen Stimmen nicht notwendig verbunden sein müßte. Anspruch auf staatliche Selbständigkeit hat es ohnehin nicht. Betrachten wir einmal das „Übergewicht" Preußens etwas näher. In der Stimmenzahl ist es überhaupt gar nicht vorhanden. Denn im Bundesrat führt Preußen von 58 Stimmen 14, also etwa 22^ Prozent; es kann demnach in den meisten Fällen ebenso gut überstimmt werden, wie jeder andere Staat. Dieses Stimmenverhältnis entspricht ganz und gar nicht den Kräfteverhältnissen. Preußen zählt nämlich jetzt von den 65 Millionen der Reichsbevölkerung über 40, also mehr als 60 Prozent. Aber dieser Widerspruch ist in dem Wesen des Bundesstaats begründet, weil bei dem natürlichen Übergewicht größerer Bundesmitglieder sonst jedes Bundesverhältnis illusorisch würde, und geht des¬ halb durch die ganze Stimmenverteilung hindurch. Sachsen z. B. müßte bei 4 Millionen Einwohnern nach dem Maßstabe der preußischen Stimmen bereit zehnten Teil, also etwa 1^/2 Stimmen führen, wie es in der Tat in der Schweiz halbe Stimmen gibt, und alle eigentlichen Kleinstaaten führen ohne Unterschied nur eine Stimme, obwohl doch z. B. Hamburg etwas mehr bedeutet als das Fürstentum Lippe oder Schwarzburg-Rudolstadt. In einzelnen Fällen muß sich jeder Bundesstaat gefallen lassen, im Bundesrat majorisiert zu werden, denn einen polnischen Reichstag wollen wir doch nicht daraus machen. Auch Preußen tut das und hat es getan, z. B. sogar in der immerhin wichtigen Frage der Verlegung des Reichsgerichts nach Berlin oder nach Leipzig 1877, bei der es in der Minderheit blieb, obwohl diese Minderheit Staaten mit zusammen 29 Millionen, die siegreiche Mehrheit solche mit im ganzen nur 12 Millionen umfaßte. Aber ein häufigerer Gebrauch einer solchen rein formalen Mehrheit wird vernünftigerweise vermieden, weil das zu bösartigen Reibungen und schließlich zur Auflösung des Bundesverhältnisses führen könnte. Eben durch einen solchen Mißbrauch ist 1866 der Deutsche Bund gesprengt worden. Einiger¬ maßen entschädigt wird Preußen für seine geringe Stimmenzahl und für den Verzicht auf die volle Autonomie feiner Politik, obwohl es für sich eine selbständige Großmacht sein könnte und vor 1866 mit 16 Millionen gewesen ist, durch einige besondere Rechte des Präsidiums und durch die Bestimmung, das; 14 Stimmen genügen, um jede Änderung der Reichsverfassung zu verhindern, also Preußen allein dazu imstande ist, daß somit z. B. bei der elsaß-lothringischen Verfassungsreform gegen Preußens Willen nichts geschehen kann, am wenigsten eine Aufhebung oder auch nur eine Verringerung der kaiserlichen Rechte im Reichslande. Schon diese Stimmenverteilung, die auf der Stimmenzahl des sogenannten weiteren Rats im Deutschen Bundestage mit seinen 69 Stimmen (für Verfassungsfragen) beruht, indem die Stimmen der 1866 annektierten nord-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/563>, abgerufen am 24.07.2024.