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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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selten und die Grenzen, an denen sie vor¬
läufig noch haltmachen muß, werden hier in
klarer und anregender Form geschildert.

Zum Vorzug des Buches gereicht es, daß
die Verfasser sorgfältig vermieden haben, die
Darstellung der pathologischen Vorgänge so
zu gestalten, daß sie dein Leser als Handhabe
zur Beurteilung von Krankheiten im Einzel-
fall erscheinen könnte.

Richard Weißenbcrg
Offizier- und Beamtenfragen
Alfred Bristan, "Der Offizier". Ernste
Betrachtungen im Lichte der Wahrheit.

Verlag von Josef Singer, Straßburg und
Leipzig, 1911. (124 Seiten oktav,)

Die kleine Schrift sollte Beachtung finden I
Sie gibt ein gutes Bild von den Sorgen, die
das deutsche Offizierkorps quälen. Dabei ist
sie völlig unpolitisch und undiplomatisch ab¬
gefaßt von einem Offizier, der gern "Freud und
Leid seines Standes" getragen hat und der
allem Anschein nach ausschließlich seinem Dienst
und der Pflege kameradschaftlichen ^Geistes
gelebt, solange er des Königs Rock trug. Der
Verfasser erscheint uns als der typische Ver¬
treter einer zur Kaste verknöcherten Gesell¬
schaftsschicht, die nur schwer den geistigen
Zusammenhang mit den Kreisen, aus denen
sie sich erzeugt, aufrecht zu erhalten vermag.
Auch aus dein Stil geht solches hervor. Erst
nachdem er den Dienst in der Armee im
besten Mannesalter verlassen muß, kommt es
ihm recht zum Bewußtsein, daß irgendwo
etwas nicht in Ordnung ist. Er greift dort
zu, wo er es durch die Brille der Standes¬
vorurteile zu sehen glaubt, und so erkennt er
die Schäden nicht in dem großen Mißverhältnis,
das zwischen der Entwicklung der Gesamt¬
nation und den Berufssoldaten tatsächlich schon
entstanden ist -- obwohl er eS ahnt --, sondern
in den kleineren Verhältnissen des täglichen
Lebens. Die Darstellung dieser verrät den
nüchternen Beobachter. Was über kleine Gar¬
nisonen, Heiratskonsens und Schuldenmachen
gesagt wird, ist im allgemeinen zu unter¬
schreiben; andere Fragen, wie das Duellwesen
und die Bevorzugung einzelner Regimenter,
erscheinen dagegen einseitig. Die Arbeit nimmt
mit Recht für sich völlige Selbständigkeit in

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Anspruch. Darin liegt aber auch ihre Hnupt-
schwäche. Der Herr Verfasser hätte zu einzelnen
Fragen unbedingt mehr ernste Lektüre, auch
allgemeine volkswirtschaftliche, in sich auf¬
nehmen und diese bei seinen Ausführungen
berücksichtigen müssen. Dennoch sollte die
kleine Schrift gerade bei Politikern Beachtung
finden. Für Leser, die sich mit den an¬
geschnittenen Fragen eingehender beschäftigen
wollen, seien die Aufsätze von A. Georgi und
Major vvnSchreibershofen in den"NeucnMili-
tärischen Blättern", des Obersten von Pvellnitz
und Oberstleutnant von Sommerfeld in den
"Grenzboten" angelegentlichst empfohlen.

G. v. w.
Micltschin!

DieGerichtsverhandlnng über
die Vorgänge in Mieltschin hat ergeben, daß
man sich vorzugsweise im Anstaltsleiter ver¬
griffen hatte, der seiner schwierigen Stellung
nicht gewachsen war und seiner Entwickelung
nach auch nicht gewachsen sein konnte. Handelte
es sich doch um richtige Einwirkung auf zwar
noch bildungsfähige, aber schwer zu be¬
handelnde, oft schon verdorbene Charaktere,
also um eine Aufgabe, welche an die Per¬
sönlichkeit des Direktors die höchsten An¬
forderungen stellt. An die Spitze eines In¬
stituts für Fürsorgezöglinge gehört ein älterer
Mann, der selbst die Schule der Disziplin
durchgemacht hat und sich beherrschen kann,
der in selbständiger Stellung Gelegenheit
gehabt hat, Erfahrung zu sammeln in der
Behandlung von Menschen. Wo finden wir
solche Männer?

Ich glaube vorzugsweise unter älteren
Offizieren. Der Kompagniechef z. B. muß in
erster Linie erzieherisch wirken, da er in seinen
Strafinitteln sehr beschränkt ist. Neben
Rapport, Nachexerzieren, Urlaubsverkürzung
und anderen kleinen, vornehmlich auf das
Ehrgefühl einwirkenden Strafen kann er nur
bis zu drei Tagen strengen bezw. fünf Tagen
mittleren Arrest verhängen. Er kommt damit
aus, weil er mit seinen Strafinitteln haus¬
hälterisch umgeht, weil er aus Erfahrung
weiß, daß gerechte Behandlung, Belehrung,
Lob und Tadel, Persönliches Beispiel und
persönlicher Einfluß wirksamer sind wie
Strafen, die sich -- je zahlreicher und
strenger ^ desto eher abnutzen. Der Kom-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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selten und die Grenzen, an denen sie vor¬
läufig noch haltmachen muß, werden hier in
klarer und anregender Form geschildert.

Zum Vorzug des Buches gereicht es, daß
die Verfasser sorgfältig vermieden haben, die
Darstellung der pathologischen Vorgänge so
zu gestalten, daß sie dein Leser als Handhabe
zur Beurteilung von Krankheiten im Einzel-
fall erscheinen könnte.

Richard Weißenbcrg
Offizier- und Beamtenfragen
Alfred Bristan, „Der Offizier". Ernste
Betrachtungen im Lichte der Wahrheit.

Verlag von Josef Singer, Straßburg und
Leipzig, 1911. (124 Seiten oktav,)

Die kleine Schrift sollte Beachtung finden I
Sie gibt ein gutes Bild von den Sorgen, die
das deutsche Offizierkorps quälen. Dabei ist
sie völlig unpolitisch und undiplomatisch ab¬
gefaßt von einem Offizier, der gern „Freud und
Leid seines Standes" getragen hat und der
allem Anschein nach ausschließlich seinem Dienst
und der Pflege kameradschaftlichen ^Geistes
gelebt, solange er des Königs Rock trug. Der
Verfasser erscheint uns als der typische Ver¬
treter einer zur Kaste verknöcherten Gesell¬
schaftsschicht, die nur schwer den geistigen
Zusammenhang mit den Kreisen, aus denen
sie sich erzeugt, aufrecht zu erhalten vermag.
Auch aus dein Stil geht solches hervor. Erst
nachdem er den Dienst in der Armee im
besten Mannesalter verlassen muß, kommt es
ihm recht zum Bewußtsein, daß irgendwo
etwas nicht in Ordnung ist. Er greift dort
zu, wo er es durch die Brille der Standes¬
vorurteile zu sehen glaubt, und so erkennt er
die Schäden nicht in dem großen Mißverhältnis,
das zwischen der Entwicklung der Gesamt¬
nation und den Berufssoldaten tatsächlich schon
entstanden ist — obwohl er eS ahnt —, sondern
in den kleineren Verhältnissen des täglichen
Lebens. Die Darstellung dieser verrät den
nüchternen Beobachter. Was über kleine Gar¬
nisonen, Heiratskonsens und Schuldenmachen
gesagt wird, ist im allgemeinen zu unter¬
schreiben; andere Fragen, wie das Duellwesen
und die Bevorzugung einzelner Regimenter,
erscheinen dagegen einseitig. Die Arbeit nimmt
mit Recht für sich völlige Selbständigkeit in

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Anspruch. Darin liegt aber auch ihre Hnupt-
schwäche. Der Herr Verfasser hätte zu einzelnen
Fragen unbedingt mehr ernste Lektüre, auch
allgemeine volkswirtschaftliche, in sich auf¬
nehmen und diese bei seinen Ausführungen
berücksichtigen müssen. Dennoch sollte die
kleine Schrift gerade bei Politikern Beachtung
finden. Für Leser, die sich mit den an¬
geschnittenen Fragen eingehender beschäftigen
wollen, seien die Aufsätze von A. Georgi und
Major vvnSchreibershofen in den„NeucnMili-
tärischen Blättern", des Obersten von Pvellnitz
und Oberstleutnant von Sommerfeld in den
„Grenzboten" angelegentlichst empfohlen.

G. v. w.
Micltschin!

DieGerichtsverhandlnng über
die Vorgänge in Mieltschin hat ergeben, daß
man sich vorzugsweise im Anstaltsleiter ver¬
griffen hatte, der seiner schwierigen Stellung
nicht gewachsen war und seiner Entwickelung
nach auch nicht gewachsen sein konnte. Handelte
es sich doch um richtige Einwirkung auf zwar
noch bildungsfähige, aber schwer zu be¬
handelnde, oft schon verdorbene Charaktere,
also um eine Aufgabe, welche an die Per¬
sönlichkeit des Direktors die höchsten An¬
forderungen stellt. An die Spitze eines In¬
stituts für Fürsorgezöglinge gehört ein älterer
Mann, der selbst die Schule der Disziplin
durchgemacht hat und sich beherrschen kann,
der in selbständiger Stellung Gelegenheit
gehabt hat, Erfahrung zu sammeln in der
Behandlung von Menschen. Wo finden wir
solche Männer?

Ich glaube vorzugsweise unter älteren
Offizieren. Der Kompagniechef z. B. muß in
erster Linie erzieherisch wirken, da er in seinen
Strafinitteln sehr beschränkt ist. Neben
Rapport, Nachexerzieren, Urlaubsverkürzung
und anderen kleinen, vornehmlich auf das
Ehrgefühl einwirkenden Strafen kann er nur
bis zu drei Tagen strengen bezw. fünf Tagen
mittleren Arrest verhängen. Er kommt damit
aus, weil er mit seinen Strafinitteln haus¬
hälterisch umgeht, weil er aus Erfahrung
weiß, daß gerechte Behandlung, Belehrung,
Lob und Tadel, Persönliches Beispiel und
persönlicher Einfluß wirksamer sind wie
Strafen, die sich — je zahlreicher und
strenger ^ desto eher abnutzen. Der Kom-

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[0056] Maßgebliches und Unmaßgebliches selten und die Grenzen, an denen sie vor¬ läufig noch haltmachen muß, werden hier in klarer und anregender Form geschildert. Zum Vorzug des Buches gereicht es, daß die Verfasser sorgfältig vermieden haben, die Darstellung der pathologischen Vorgänge so zu gestalten, daß sie dein Leser als Handhabe zur Beurteilung von Krankheiten im Einzel- fall erscheinen könnte. Richard Weißenbcrg Offizier- und Beamtenfragen Alfred Bristan, „Der Offizier". Ernste Betrachtungen im Lichte der Wahrheit. Verlag von Josef Singer, Straßburg und Leipzig, 1911. (124 Seiten oktav,) Die kleine Schrift sollte Beachtung finden I Sie gibt ein gutes Bild von den Sorgen, die das deutsche Offizierkorps quälen. Dabei ist sie völlig unpolitisch und undiplomatisch ab¬ gefaßt von einem Offizier, der gern „Freud und Leid seines Standes" getragen hat und der allem Anschein nach ausschließlich seinem Dienst und der Pflege kameradschaftlichen ^Geistes gelebt, solange er des Königs Rock trug. Der Verfasser erscheint uns als der typische Ver¬ treter einer zur Kaste verknöcherten Gesell¬ schaftsschicht, die nur schwer den geistigen Zusammenhang mit den Kreisen, aus denen sie sich erzeugt, aufrecht zu erhalten vermag. Auch aus dein Stil geht solches hervor. Erst nachdem er den Dienst in der Armee im besten Mannesalter verlassen muß, kommt es ihm recht zum Bewußtsein, daß irgendwo etwas nicht in Ordnung ist. Er greift dort zu, wo er es durch die Brille der Standes¬ vorurteile zu sehen glaubt, und so erkennt er die Schäden nicht in dem großen Mißverhältnis, das zwischen der Entwicklung der Gesamt¬ nation und den Berufssoldaten tatsächlich schon entstanden ist — obwohl er eS ahnt —, sondern in den kleineren Verhältnissen des täglichen Lebens. Die Darstellung dieser verrät den nüchternen Beobachter. Was über kleine Gar¬ nisonen, Heiratskonsens und Schuldenmachen gesagt wird, ist im allgemeinen zu unter¬ schreiben; andere Fragen, wie das Duellwesen und die Bevorzugung einzelner Regimenter, erscheinen dagegen einseitig. Die Arbeit nimmt mit Recht für sich völlige Selbständigkeit in Anspruch. Darin liegt aber auch ihre Hnupt- schwäche. Der Herr Verfasser hätte zu einzelnen Fragen unbedingt mehr ernste Lektüre, auch allgemeine volkswirtschaftliche, in sich auf¬ nehmen und diese bei seinen Ausführungen berücksichtigen müssen. Dennoch sollte die kleine Schrift gerade bei Politikern Beachtung finden. Für Leser, die sich mit den an¬ geschnittenen Fragen eingehender beschäftigen wollen, seien die Aufsätze von A. Georgi und Major vvnSchreibershofen in den„NeucnMili- tärischen Blättern", des Obersten von Pvellnitz und Oberstleutnant von Sommerfeld in den „Grenzboten" angelegentlichst empfohlen. G. v. w. Micltschin! DieGerichtsverhandlnng über die Vorgänge in Mieltschin hat ergeben, daß man sich vorzugsweise im Anstaltsleiter ver¬ griffen hatte, der seiner schwierigen Stellung nicht gewachsen war und seiner Entwickelung nach auch nicht gewachsen sein konnte. Handelte es sich doch um richtige Einwirkung auf zwar noch bildungsfähige, aber schwer zu be¬ handelnde, oft schon verdorbene Charaktere, also um eine Aufgabe, welche an die Per¬ sönlichkeit des Direktors die höchsten An¬ forderungen stellt. An die Spitze eines In¬ stituts für Fürsorgezöglinge gehört ein älterer Mann, der selbst die Schule der Disziplin durchgemacht hat und sich beherrschen kann, der in selbständiger Stellung Gelegenheit gehabt hat, Erfahrung zu sammeln in der Behandlung von Menschen. Wo finden wir solche Männer? Ich glaube vorzugsweise unter älteren Offizieren. Der Kompagniechef z. B. muß in erster Linie erzieherisch wirken, da er in seinen Strafinitteln sehr beschränkt ist. Neben Rapport, Nachexerzieren, Urlaubsverkürzung und anderen kleinen, vornehmlich auf das Ehrgefühl einwirkenden Strafen kann er nur bis zu drei Tagen strengen bezw. fünf Tagen mittleren Arrest verhängen. Er kommt damit aus, weil er mit seinen Strafinitteln haus¬ hälterisch umgeht, weil er aus Erfahrung weiß, daß gerechte Behandlung, Belehrung, Lob und Tadel, Persönliches Beispiel und persönlicher Einfluß wirksamer sind wie Strafen, die sich — je zahlreicher und strenger ^ desto eher abnutzen. Der Kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/56>, abgerufen am 04.07.2024.