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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

allem auf das Erfassen des rein Persönlichen,
Individuellen. Hierfür sind Briefe, in un¬
verbindlicher Form niedergeschriebene Stim¬
mungen und Gedanken wertvolles Material.
Wir werden es daher Sergejenko Dank wissen,
daß er die Briefe Tolstois, dieser an Problemen
überreichen Individualität, gesammelt und
herausgegeben hat. Daß die Sammlung
manche Niederschrift enthält, die bereits längst
im Druck vorliegt, entwertet sie natürlich in
keiner Weise; wichtig ist, daß sie unsere
Kenntnis Tolstois in mehr als einer Hinsicht
zu bereichern geeignet ist und uns in ihrem
Zusammenhang einen Überblick über die Ent¬
wicklung Tolstois innerhalb eines Zeitraumes
von zweiundsechzig Jahren (1848 bis 1910) in
neuer Form gewährt. Aus den Dokumenten
ersehen wir deutlich, daß die.Keime zu jener
großen Wandlung in Tolstois Denken und
Sein, die der Welt einen Dichter raubte,
schon in der Beschaffenheit seiner jugendlichen
Pshche erkennbar sind. In dieser Beziehung
erscheinen besonders seine Jugendbriefe an
seinen Bruder Sergius und an seine ehemalige
Erzieherin Ergolsky bedeutsam. Tiefe Inner¬
lichkeit, Hang zur Selbstzersetzung, zur
schonungsloser Beurteilung seiner Persönlich¬
keit, verbunden mit ausgeprägter Religiosität
und Sentimentalität, treten hier klar zu¬
tage. Regen Geistes erscheint er als gereifter
Mann, wenn er neben intensiver dichterischer
und praktischer Betätigung mit leidenschaft¬
lichem Eifer der Schätze geistigen Schaffens
teilhaftig zu werden sucht. "Wissen Sie,"
schreibt er im Jahre 1869 einem Freunde,
"was dieser letzte Sommer für mich bedeutet
hat? Ein immerwährendes Entzücken über
Schopenhauer und eine Reese geistiger Ge¬
nüsse, wie sie mir noch nie zuteil geworden
sind." "Ohne Kenntnis des Griechischen gibt
es keine Bildung", schreibt er ein anderes
Mal, als er sich in das Studium der Alten
vertieft hatte; dann wieder äußert er sich voll
Begeisterung über die Musik. Einiger mit
Tschaikowsky und Rubinstein verlebter Stunden
vermag er nicht ohne Ergriffenheit zu ge¬
denken. Auf einen völlig anderen Ton ge¬
stimmt sind die Briefe aus der Zeit der
inneren Einkehr und Vereinsamung. Sie sind
zu einem großen Teil an ihm unbekannte
Persönlichkeiten gerichtet, die bei ihm Rat

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und Aufklärung suchen. Für diese letzte Phase
seines Lebens kennzeichnend ist ein Brief an
Engelhardt aus dem Jahre 1882. "Sie
können sich nicht vorstellen," schreibt er, "wie
vereinsamt ich bin, bis zu welchem Grade mein
eigentliches Ich von meiner Umgebung ver¬
achtet wird. . . . Wenn ich den Weg kenne,
der nach Hause führt, und trunken auf ihm
einherschreite, ist deshalb der Weg falsch, den
ich beschritt? Ist er falsch, so zeigt mir einen
anderen; wenn ich in die Irre gehe und
schwanke, so helft mir, stützt mich auf dem
rechten Wege, so wie ich bereit bin, Euch zu
stützen; aber freut Euch nicht, wenn ich irre,
und schreit nicht triumphierend: Seht, er sagt,
daß er nach Hause gehe und gerät dabei in
den Sumpf! Ihr seid ja nicht die bösen
Geister des Sumpfes, sondern wie ich Menschen,
die heimwärts wandern. . . . Mein Herz
zerspringt vor Verzweiflung, daß wir uns
alle verirrten____" Bis ans Ende ist Tolstoi
der große Sucher seiner ewigen Heimat ge¬
blieben, und einsam hat er gerungen bis zuletzt
gegen die, die nicht seines Geistes waren und
ihn hinabzogen in den Sumpf einer von ihm
vielleicht mißverstandenen Welt.


Während der Dnlcklegung der vorstehen¬
den Anzeige geht uns die bei Ladyschnikow
verlegte deutsche Ausgabe der Briefe Tolstois
zu. Sie ist bedeutend reichhaltiger als die
russische Veröffentlichung, weil letztere infolge
der russischen Presseverhältnisse gewisse Be¬
schränkungen erfahren mußte. Leider fehlen
aber der deutschen Ausgabe die der russischen
Ausgabe beigegebenen praktischen Hilfsmittel
zur liternrischen Ausbeute des wertvollen
Materials, insbesondere im alphabetisch ge¬
ordneten Inhaltsverzeichnis der Briefe. Die
Übersetzung sticht von den namentlich bei der
Vcrdolmetschung russischer Literatur üblichen,
von keinem Sprachgefühl geleiteten Produk¬
tionen im ganzen vorteilhaft ab, wenn auch
hie und da größere Sorgfalt Vonnöten ge¬
wesen wäre, so z. B. bei der Wiedergabe des
Briefes an Schcitilow.

Es darf leider nicht unerwähnt bleiben,
daß, nach einer Mitteilung der "Rowoje
Wremja", die vorliegende Veröffentlichung
der Briefe durch Sergejenko juristisch nur

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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allem auf das Erfassen des rein Persönlichen,
Individuellen. Hierfür sind Briefe, in un¬
verbindlicher Form niedergeschriebene Stim¬
mungen und Gedanken wertvolles Material.
Wir werden es daher Sergejenko Dank wissen,
daß er die Briefe Tolstois, dieser an Problemen
überreichen Individualität, gesammelt und
herausgegeben hat. Daß die Sammlung
manche Niederschrift enthält, die bereits längst
im Druck vorliegt, entwertet sie natürlich in
keiner Weise; wichtig ist, daß sie unsere
Kenntnis Tolstois in mehr als einer Hinsicht
zu bereichern geeignet ist und uns in ihrem
Zusammenhang einen Überblick über die Ent¬
wicklung Tolstois innerhalb eines Zeitraumes
von zweiundsechzig Jahren (1848 bis 1910) in
neuer Form gewährt. Aus den Dokumenten
ersehen wir deutlich, daß die.Keime zu jener
großen Wandlung in Tolstois Denken und
Sein, die der Welt einen Dichter raubte,
schon in der Beschaffenheit seiner jugendlichen
Pshche erkennbar sind. In dieser Beziehung
erscheinen besonders seine Jugendbriefe an
seinen Bruder Sergius und an seine ehemalige
Erzieherin Ergolsky bedeutsam. Tiefe Inner¬
lichkeit, Hang zur Selbstzersetzung, zur
schonungsloser Beurteilung seiner Persönlich¬
keit, verbunden mit ausgeprägter Religiosität
und Sentimentalität, treten hier klar zu¬
tage. Regen Geistes erscheint er als gereifter
Mann, wenn er neben intensiver dichterischer
und praktischer Betätigung mit leidenschaft¬
lichem Eifer der Schätze geistigen Schaffens
teilhaftig zu werden sucht. „Wissen Sie,"
schreibt er im Jahre 1869 einem Freunde,
„was dieser letzte Sommer für mich bedeutet
hat? Ein immerwährendes Entzücken über
Schopenhauer und eine Reese geistiger Ge¬
nüsse, wie sie mir noch nie zuteil geworden
sind." „Ohne Kenntnis des Griechischen gibt
es keine Bildung", schreibt er ein anderes
Mal, als er sich in das Studium der Alten
vertieft hatte; dann wieder äußert er sich voll
Begeisterung über die Musik. Einiger mit
Tschaikowsky und Rubinstein verlebter Stunden
vermag er nicht ohne Ergriffenheit zu ge¬
denken. Auf einen völlig anderen Ton ge¬
stimmt sind die Briefe aus der Zeit der
inneren Einkehr und Vereinsamung. Sie sind
zu einem großen Teil an ihm unbekannte
Persönlichkeiten gerichtet, die bei ihm Rat

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und Aufklärung suchen. Für diese letzte Phase
seines Lebens kennzeichnend ist ein Brief an
Engelhardt aus dem Jahre 1882. „Sie
können sich nicht vorstellen," schreibt er, „wie
vereinsamt ich bin, bis zu welchem Grade mein
eigentliches Ich von meiner Umgebung ver¬
achtet wird. . . . Wenn ich den Weg kenne,
der nach Hause führt, und trunken auf ihm
einherschreite, ist deshalb der Weg falsch, den
ich beschritt? Ist er falsch, so zeigt mir einen
anderen; wenn ich in die Irre gehe und
schwanke, so helft mir, stützt mich auf dem
rechten Wege, so wie ich bereit bin, Euch zu
stützen; aber freut Euch nicht, wenn ich irre,
und schreit nicht triumphierend: Seht, er sagt,
daß er nach Hause gehe und gerät dabei in
den Sumpf! Ihr seid ja nicht die bösen
Geister des Sumpfes, sondern wie ich Menschen,
die heimwärts wandern. . . . Mein Herz
zerspringt vor Verzweiflung, daß wir uns
alle verirrten____" Bis ans Ende ist Tolstoi
der große Sucher seiner ewigen Heimat ge¬
blieben, und einsam hat er gerungen bis zuletzt
gegen die, die nicht seines Geistes waren und
ihn hinabzogen in den Sumpf einer von ihm
vielleicht mißverstandenen Welt.


Während der Dnlcklegung der vorstehen¬
den Anzeige geht uns die bei Ladyschnikow
verlegte deutsche Ausgabe der Briefe Tolstois
zu. Sie ist bedeutend reichhaltiger als die
russische Veröffentlichung, weil letztere infolge
der russischen Presseverhältnisse gewisse Be¬
schränkungen erfahren mußte. Leider fehlen
aber der deutschen Ausgabe die der russischen
Ausgabe beigegebenen praktischen Hilfsmittel
zur liternrischen Ausbeute des wertvollen
Materials, insbesondere im alphabetisch ge¬
ordneten Inhaltsverzeichnis der Briefe. Die
Übersetzung sticht von den namentlich bei der
Vcrdolmetschung russischer Literatur üblichen,
von keinem Sprachgefühl geleiteten Produk¬
tionen im ganzen vorteilhaft ab, wenn auch
hie und da größere Sorgfalt Vonnöten ge¬
wesen wäre, so z. B. bei der Wiedergabe des
Briefes an Schcitilow.

Es darf leider nicht unerwähnt bleiben,
daß, nach einer Mitteilung der „Rowoje
Wremja", die vorliegende Veröffentlichung
der Briefe durch Sergejenko juristisch nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/53>, abgerufen am 04.07.2024.