Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Volksmärchen auf der Lichnc

auf die Bühne muß also gefährlich wirken, wie die Verpflanzung in ein fremdes,
rauhes Klima. Wohl manches mag zu dem Versuch verlocken, und darum hat
schon die Romantik, die das von Mund zu Mund erzählte Märchen zu Ehren
brachte, jene Übertragung auf die Bühne gewagt. Aber der in Formlosigkeit
zerflatternde Tieck konnte mit seiner bizarren Verquickung von Naivität und
Ironie weder dem einen noch dem andern gerecht werden, weder der Bühne
noch dem Märchen. Wenn später, zumal in neuester Zeit bei Hauptmann,
Maeterlinck u. a,, das Märchen wieder in der Dramatik auftaucht, so zeigt es
sich uicht mehr als bescheidenes Kind aus dem Volke, sondern es tritt mit den
Allüren seiner Geburt aus der großen Kunst, mit symbolischen: Tiefsinn und
mit mythologischer Gebärde vor uns hin. Dennoch ist das wirkliche Volks¬
märchen (von den Opern Humperdinks ist hier abgesehen) uicht ganz von der
Bühne verbannt. Jährlich zur Weihnachtszeit stattet es den Theatern einen
Besuch ab zu Kindervorstellungen. Da zeigt es sich dann freilich, daß ihm die
Theaterluft sehr schlecht bekommt. Die vorherrschende Art der Märchenstücke, --
als ihr Vertreter mögen die allerwärts bekannten Goernerschen Bearbeitungen
gelten, -- beanspruchen kaum mehr als den Rang der Kleinkinderergötzung und
dienen auch diesem Zweck in einer Weise, die aus die Geschmacksbildung der
Kinder nur ungünstig einwirkt.

Wenn man das Volksmärchen auf der Bühne einer rechtschaffenen Betrachtung
unterziehen will, muß man natürlich den andern Gesichtspunkt voraussetzen, der
dem Bühnenmärchen den gleichen Kunstwert beilegen möchte wie der Märchen¬
erzählung. Um aber zu solcher Bedeutung emporzuwachsen, muß das Bühnen¬
märchen vor allem den Anspruch aufgeben, in unmittelbaren Wettbewerb mit
der Erzählung zu treten oder ihr eine Ergänzung zu sein. Es muß selbständig
auf eigne Füße treten und seine Wurzeln auch in den Boden schlagen, auf
dem es erblühen soll; also die künstlerische Methode der Dichtung muß von
Grund auf eine verschiedene sein in der Stoffbehandlung wie in der weiteren
Bauart. Soll von derartigem die Rede sein, ist noch vorauszusetzen, daß das
Theatermärchen kaum gedacht ist für Zuschauer von fünf Jahren; diese bringen
nicht die psychischen Fähigkeiten mit, von Augenblick zu Augenblick mit der
Aufmerksamkeit zu folgen, die das "Verstehen" vermittelt, und die Zusammen¬
hänge und Verwicklungen zu überschauen, die eben jede Bühnendichtung erfordert.
Ein dramatisches Märchen läßt sich erst schaffen für etwas reiferes Publikum.
Diesem kann es dann um fo mehr bieten, und der Junge vou zwölf Jahren,
der den? "kindischen" Märchen gegenüber nur die Lippen aufwirft und die Achseln
verächtlich zieht über den Unsinn, wird durch das Bühnennuirchen, das sich aus¬
zeichnet durch festere Vermebung, durch engere Anlehnung an das Kausalitäts¬
gesetz, durch dramatische Spannung, durch äußere Annäherung an die Wirklichkeit
(was durch Technik, Charakterisierung und Detaillierung erreicht wird), durch
stärkeres Ausschöpfen der Handlung, der Stimmung und des lyrischen Untergrunds
aufs tiefste ergriffen, "gepackt", mit gutem Humor ergötzt, aufs wertvollste


Volksmärchen auf der Lichnc

auf die Bühne muß also gefährlich wirken, wie die Verpflanzung in ein fremdes,
rauhes Klima. Wohl manches mag zu dem Versuch verlocken, und darum hat
schon die Romantik, die das von Mund zu Mund erzählte Märchen zu Ehren
brachte, jene Übertragung auf die Bühne gewagt. Aber der in Formlosigkeit
zerflatternde Tieck konnte mit seiner bizarren Verquickung von Naivität und
Ironie weder dem einen noch dem andern gerecht werden, weder der Bühne
noch dem Märchen. Wenn später, zumal in neuester Zeit bei Hauptmann,
Maeterlinck u. a,, das Märchen wieder in der Dramatik auftaucht, so zeigt es
sich uicht mehr als bescheidenes Kind aus dem Volke, sondern es tritt mit den
Allüren seiner Geburt aus der großen Kunst, mit symbolischen: Tiefsinn und
mit mythologischer Gebärde vor uns hin. Dennoch ist das wirkliche Volks¬
märchen (von den Opern Humperdinks ist hier abgesehen) uicht ganz von der
Bühne verbannt. Jährlich zur Weihnachtszeit stattet es den Theatern einen
Besuch ab zu Kindervorstellungen. Da zeigt es sich dann freilich, daß ihm die
Theaterluft sehr schlecht bekommt. Die vorherrschende Art der Märchenstücke, —
als ihr Vertreter mögen die allerwärts bekannten Goernerschen Bearbeitungen
gelten, — beanspruchen kaum mehr als den Rang der Kleinkinderergötzung und
dienen auch diesem Zweck in einer Weise, die aus die Geschmacksbildung der
Kinder nur ungünstig einwirkt.

Wenn man das Volksmärchen auf der Bühne einer rechtschaffenen Betrachtung
unterziehen will, muß man natürlich den andern Gesichtspunkt voraussetzen, der
dem Bühnenmärchen den gleichen Kunstwert beilegen möchte wie der Märchen¬
erzählung. Um aber zu solcher Bedeutung emporzuwachsen, muß das Bühnen¬
märchen vor allem den Anspruch aufgeben, in unmittelbaren Wettbewerb mit
der Erzählung zu treten oder ihr eine Ergänzung zu sein. Es muß selbständig
auf eigne Füße treten und seine Wurzeln auch in den Boden schlagen, auf
dem es erblühen soll; also die künstlerische Methode der Dichtung muß von
Grund auf eine verschiedene sein in der Stoffbehandlung wie in der weiteren
Bauart. Soll von derartigem die Rede sein, ist noch vorauszusetzen, daß das
Theatermärchen kaum gedacht ist für Zuschauer von fünf Jahren; diese bringen
nicht die psychischen Fähigkeiten mit, von Augenblick zu Augenblick mit der
Aufmerksamkeit zu folgen, die das „Verstehen" vermittelt, und die Zusammen¬
hänge und Verwicklungen zu überschauen, die eben jede Bühnendichtung erfordert.
Ein dramatisches Märchen läßt sich erst schaffen für etwas reiferes Publikum.
Diesem kann es dann um fo mehr bieten, und der Junge vou zwölf Jahren,
der den? „kindischen" Märchen gegenüber nur die Lippen aufwirft und die Achseln
verächtlich zieht über den Unsinn, wird durch das Bühnennuirchen, das sich aus¬
zeichnet durch festere Vermebung, durch engere Anlehnung an das Kausalitäts¬
gesetz, durch dramatische Spannung, durch äußere Annäherung an die Wirklichkeit
(was durch Technik, Charakterisierung und Detaillierung erreicht wird), durch
stärkeres Ausschöpfen der Handlung, der Stimmung und des lyrischen Untergrunds
aufs tiefste ergriffen, „gepackt", mit gutem Humor ergötzt, aufs wertvollste


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0526" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318139"/>
          <fw type="header" place="top"> Volksmärchen auf der Lichnc</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2358" prev="#ID_2357"> auf die Bühne muß also gefährlich wirken, wie die Verpflanzung in ein fremdes,<lb/>
rauhes Klima. Wohl manches mag zu dem Versuch verlocken, und darum hat<lb/>
schon die Romantik, die das von Mund zu Mund erzählte Märchen zu Ehren<lb/>
brachte, jene Übertragung auf die Bühne gewagt. Aber der in Formlosigkeit<lb/>
zerflatternde Tieck konnte mit seiner bizarren Verquickung von Naivität und<lb/>
Ironie weder dem einen noch dem andern gerecht werden, weder der Bühne<lb/>
noch dem Märchen. Wenn später, zumal in neuester Zeit bei Hauptmann,<lb/>
Maeterlinck u. a,, das Märchen wieder in der Dramatik auftaucht, so zeigt es<lb/>
sich uicht mehr als bescheidenes Kind aus dem Volke, sondern es tritt mit den<lb/>
Allüren seiner Geburt aus der großen Kunst, mit symbolischen: Tiefsinn und<lb/>
mit mythologischer Gebärde vor uns hin. Dennoch ist das wirkliche Volks¬<lb/>
märchen (von den Opern Humperdinks ist hier abgesehen) uicht ganz von der<lb/>
Bühne verbannt. Jährlich zur Weihnachtszeit stattet es den Theatern einen<lb/>
Besuch ab zu Kindervorstellungen. Da zeigt es sich dann freilich, daß ihm die<lb/>
Theaterluft sehr schlecht bekommt. Die vorherrschende Art der Märchenstücke, &#x2014;<lb/>
als ihr Vertreter mögen die allerwärts bekannten Goernerschen Bearbeitungen<lb/>
gelten, &#x2014; beanspruchen kaum mehr als den Rang der Kleinkinderergötzung und<lb/>
dienen auch diesem Zweck in einer Weise, die aus die Geschmacksbildung der<lb/>
Kinder nur ungünstig einwirkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2359" next="#ID_2360"> Wenn man das Volksmärchen auf der Bühne einer rechtschaffenen Betrachtung<lb/>
unterziehen will, muß man natürlich den andern Gesichtspunkt voraussetzen, der<lb/>
dem Bühnenmärchen den gleichen Kunstwert beilegen möchte wie der Märchen¬<lb/>
erzählung. Um aber zu solcher Bedeutung emporzuwachsen, muß das Bühnen¬<lb/>
märchen vor allem den Anspruch aufgeben, in unmittelbaren Wettbewerb mit<lb/>
der Erzählung zu treten oder ihr eine Ergänzung zu sein. Es muß selbständig<lb/>
auf eigne Füße treten und seine Wurzeln auch in den Boden schlagen, auf<lb/>
dem es erblühen soll; also die künstlerische Methode der Dichtung muß von<lb/>
Grund auf eine verschiedene sein in der Stoffbehandlung wie in der weiteren<lb/>
Bauart. Soll von derartigem die Rede sein, ist noch vorauszusetzen, daß das<lb/>
Theatermärchen kaum gedacht ist für Zuschauer von fünf Jahren; diese bringen<lb/>
nicht die psychischen Fähigkeiten mit, von Augenblick zu Augenblick mit der<lb/>
Aufmerksamkeit zu folgen, die das &#x201E;Verstehen" vermittelt, und die Zusammen¬<lb/>
hänge und Verwicklungen zu überschauen, die eben jede Bühnendichtung erfordert.<lb/>
Ein dramatisches Märchen läßt sich erst schaffen für etwas reiferes Publikum.<lb/>
Diesem kann es dann um fo mehr bieten, und der Junge vou zwölf Jahren,<lb/>
der den? &#x201E;kindischen" Märchen gegenüber nur die Lippen aufwirft und die Achseln<lb/>
verächtlich zieht über den Unsinn, wird durch das Bühnennuirchen, das sich aus¬<lb/>
zeichnet durch festere Vermebung, durch engere Anlehnung an das Kausalitäts¬<lb/>
gesetz, durch dramatische Spannung, durch äußere Annäherung an die Wirklichkeit<lb/>
(was durch Technik, Charakterisierung und Detaillierung erreicht wird), durch<lb/>
stärkeres Ausschöpfen der Handlung, der Stimmung und des lyrischen Untergrunds<lb/>
aufs tiefste ergriffen, &#x201E;gepackt", mit gutem Humor ergötzt, aufs wertvollste</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0526] Volksmärchen auf der Lichnc auf die Bühne muß also gefährlich wirken, wie die Verpflanzung in ein fremdes, rauhes Klima. Wohl manches mag zu dem Versuch verlocken, und darum hat schon die Romantik, die das von Mund zu Mund erzählte Märchen zu Ehren brachte, jene Übertragung auf die Bühne gewagt. Aber der in Formlosigkeit zerflatternde Tieck konnte mit seiner bizarren Verquickung von Naivität und Ironie weder dem einen noch dem andern gerecht werden, weder der Bühne noch dem Märchen. Wenn später, zumal in neuester Zeit bei Hauptmann, Maeterlinck u. a,, das Märchen wieder in der Dramatik auftaucht, so zeigt es sich uicht mehr als bescheidenes Kind aus dem Volke, sondern es tritt mit den Allüren seiner Geburt aus der großen Kunst, mit symbolischen: Tiefsinn und mit mythologischer Gebärde vor uns hin. Dennoch ist das wirkliche Volks¬ märchen (von den Opern Humperdinks ist hier abgesehen) uicht ganz von der Bühne verbannt. Jährlich zur Weihnachtszeit stattet es den Theatern einen Besuch ab zu Kindervorstellungen. Da zeigt es sich dann freilich, daß ihm die Theaterluft sehr schlecht bekommt. Die vorherrschende Art der Märchenstücke, — als ihr Vertreter mögen die allerwärts bekannten Goernerschen Bearbeitungen gelten, — beanspruchen kaum mehr als den Rang der Kleinkinderergötzung und dienen auch diesem Zweck in einer Weise, die aus die Geschmacksbildung der Kinder nur ungünstig einwirkt. Wenn man das Volksmärchen auf der Bühne einer rechtschaffenen Betrachtung unterziehen will, muß man natürlich den andern Gesichtspunkt voraussetzen, der dem Bühnenmärchen den gleichen Kunstwert beilegen möchte wie der Märchen¬ erzählung. Um aber zu solcher Bedeutung emporzuwachsen, muß das Bühnen¬ märchen vor allem den Anspruch aufgeben, in unmittelbaren Wettbewerb mit der Erzählung zu treten oder ihr eine Ergänzung zu sein. Es muß selbständig auf eigne Füße treten und seine Wurzeln auch in den Boden schlagen, auf dem es erblühen soll; also die künstlerische Methode der Dichtung muß von Grund auf eine verschiedene sein in der Stoffbehandlung wie in der weiteren Bauart. Soll von derartigem die Rede sein, ist noch vorauszusetzen, daß das Theatermärchen kaum gedacht ist für Zuschauer von fünf Jahren; diese bringen nicht die psychischen Fähigkeiten mit, von Augenblick zu Augenblick mit der Aufmerksamkeit zu folgen, die das „Verstehen" vermittelt, und die Zusammen¬ hänge und Verwicklungen zu überschauen, die eben jede Bühnendichtung erfordert. Ein dramatisches Märchen läßt sich erst schaffen für etwas reiferes Publikum. Diesem kann es dann um fo mehr bieten, und der Junge vou zwölf Jahren, der den? „kindischen" Märchen gegenüber nur die Lippen aufwirft und die Achseln verächtlich zieht über den Unsinn, wird durch das Bühnennuirchen, das sich aus¬ zeichnet durch festere Vermebung, durch engere Anlehnung an das Kausalitäts¬ gesetz, durch dramatische Spannung, durch äußere Annäherung an die Wirklichkeit (was durch Technik, Charakterisierung und Detaillierung erreicht wird), durch stärkeres Ausschöpfen der Handlung, der Stimmung und des lyrischen Untergrunds aufs tiefste ergriffen, „gepackt", mit gutem Humor ergötzt, aufs wertvollste

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/526
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/526>, abgerufen am 04.07.2024.