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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Das italienische Volk und der italienische Nationalstaat

Unabhängigkeit des Landes und die neue Verfassung von 1848 mitsamt der
nationalen Trikolore, überall sonst triumphierte der alte Absolutismus, im ganzen
Norden die Fremdherrschaft, denn österreichische Truppen standen bis Ende 1854
in Livorno, bis in den Mai 1855 in Florenz, bis 1857 in Modena und Parma,
bis 1859 in Bologna, Ferrara und Ancona.

Nichts konnte geeigneter sein, den Haß gegen die Fremdherrschaft wach¬
zuhalten und das Vertrauen auf Piemont zu verstärken. Auch Gioberti und
Mamin, der Doge des aufständischen Venedigs 1848/49, stimmten jetzt in den
Ruf ein: Italien und Viktor Emanuel! und seit 1857 wirkte der Nationalverein
auf der ganzen Halbinsel unter dem Sizilianer La Farina in diesen: Sinne.
Daneben freilich bildete die nationale Demokratie noch eine Macht für sich. Es
war die schwierige Aufgabe, diese beiden Mächte, das piemontesische Königtum
und die demokratische "Aktionspartei", zusammenzufassen und diese Kräfte nach
einem Ziele hinzulenken. Das unternahm und vollbrachte der geniale Staats¬
mann, der seit 1850 Piemont leitete, Graf Camillo Cavour. Er verwandelte
es in einen wirklich modernen Staat, der in seinen innern Fortschritten dem
ganzen Lande voranging; er stand in engster Verbindung mit dem National¬
verein, er bereitete die öffentliche Meinung darauf vor, auf das stolze I'ltalia
farn 8el zu verzichten und für die neue Erhebung die Hilfe Napoleons des
Dritten zu gewinnen. Das Bündnis mit den Westmächten im Krimkriege 1853,
das Auftreten Cavours als Wortführer Italiens auf dem Pariser Kongreß 1856,
die geheimen Verhandlungen von 1858, die zunehmende Spannung mit Öster¬
reich gingen dem Abkommen vom Dezember 1853 voraus. Aber Cavour wollte
auch vermeiden, daß aus dem Bundesgenossen ein Herr werde. Deshalb wollte
er alle Volkskräfte Italiens entfesseln, das piemontesische Heer durch Freiwillige
aus anderen Teilen des Landes verstärken und überall die Bevölkerungen zur
Erhebung bringen. Ein festes Programm für die Umgestaltung hatte Cavour
zunächst nur insofern, als er die Befreiung Oberitaliens bis zur Adria, unter
Umständen mit Einschluß der Emilia (Parma, Modena, die Romagna), und die
Gründung eines starken norditalienischen Staats erstrebte; an die Annexion
Mittelitaliens und vollends des Südens hat er damals nicht gedacht; sie ist
ihm erst durch Volkserhebungen und durch die ganze politische Lage aufgedrungen
worden.

Noch standen die Heere im Potieflande ohne entscheidende Ereignisse ein¬
ander gegenüber, da erhob sich am 27. April in einer unwiderstehlichen und doch
maßvollen Bewegung Florenz gegen das Haus Lothringen und zwang den Gro߬
herzog Leopold den Zweiten zur Abreise auf Nimmerwiedersehen, da sich keine
Hand für ihn rührte; am 1. Mai flüchtete die Herzoginregentin Luise aus Parma,
nach der Schlacht bei Magenta (4. Juni) wich Herzog Franz, von seinen Truppen
begleitet, 9. Juni aus Modena, nach dem Abzüge der Österreicher erhob sich seit
dem 12. Juni die Romagna. Überall leitete die Aristokratie des Besitzes und
der Bildung die Bewegung, in Toskana einer der größten Grundherren des


Das italienische Volk und der italienische Nationalstaat

Unabhängigkeit des Landes und die neue Verfassung von 1848 mitsamt der
nationalen Trikolore, überall sonst triumphierte der alte Absolutismus, im ganzen
Norden die Fremdherrschaft, denn österreichische Truppen standen bis Ende 1854
in Livorno, bis in den Mai 1855 in Florenz, bis 1857 in Modena und Parma,
bis 1859 in Bologna, Ferrara und Ancona.

Nichts konnte geeigneter sein, den Haß gegen die Fremdherrschaft wach¬
zuhalten und das Vertrauen auf Piemont zu verstärken. Auch Gioberti und
Mamin, der Doge des aufständischen Venedigs 1848/49, stimmten jetzt in den
Ruf ein: Italien und Viktor Emanuel! und seit 1857 wirkte der Nationalverein
auf der ganzen Halbinsel unter dem Sizilianer La Farina in diesen: Sinne.
Daneben freilich bildete die nationale Demokratie noch eine Macht für sich. Es
war die schwierige Aufgabe, diese beiden Mächte, das piemontesische Königtum
und die demokratische „Aktionspartei", zusammenzufassen und diese Kräfte nach
einem Ziele hinzulenken. Das unternahm und vollbrachte der geniale Staats¬
mann, der seit 1850 Piemont leitete, Graf Camillo Cavour. Er verwandelte
es in einen wirklich modernen Staat, der in seinen innern Fortschritten dem
ganzen Lande voranging; er stand in engster Verbindung mit dem National¬
verein, er bereitete die öffentliche Meinung darauf vor, auf das stolze I'ltalia
farn 8el zu verzichten und für die neue Erhebung die Hilfe Napoleons des
Dritten zu gewinnen. Das Bündnis mit den Westmächten im Krimkriege 1853,
das Auftreten Cavours als Wortführer Italiens auf dem Pariser Kongreß 1856,
die geheimen Verhandlungen von 1858, die zunehmende Spannung mit Öster¬
reich gingen dem Abkommen vom Dezember 1853 voraus. Aber Cavour wollte
auch vermeiden, daß aus dem Bundesgenossen ein Herr werde. Deshalb wollte
er alle Volkskräfte Italiens entfesseln, das piemontesische Heer durch Freiwillige
aus anderen Teilen des Landes verstärken und überall die Bevölkerungen zur
Erhebung bringen. Ein festes Programm für die Umgestaltung hatte Cavour
zunächst nur insofern, als er die Befreiung Oberitaliens bis zur Adria, unter
Umständen mit Einschluß der Emilia (Parma, Modena, die Romagna), und die
Gründung eines starken norditalienischen Staats erstrebte; an die Annexion
Mittelitaliens und vollends des Südens hat er damals nicht gedacht; sie ist
ihm erst durch Volkserhebungen und durch die ganze politische Lage aufgedrungen
worden.

Noch standen die Heere im Potieflande ohne entscheidende Ereignisse ein¬
ander gegenüber, da erhob sich am 27. April in einer unwiderstehlichen und doch
maßvollen Bewegung Florenz gegen das Haus Lothringen und zwang den Gro߬
herzog Leopold den Zweiten zur Abreise auf Nimmerwiedersehen, da sich keine
Hand für ihn rührte; am 1. Mai flüchtete die Herzoginregentin Luise aus Parma,
nach der Schlacht bei Magenta (4. Juni) wich Herzog Franz, von seinen Truppen
begleitet, 9. Juni aus Modena, nach dem Abzüge der Österreicher erhob sich seit
dem 12. Juni die Romagna. Überall leitete die Aristokratie des Besitzes und
der Bildung die Bewegung, in Toskana einer der größten Grundherren des


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[0522] Das italienische Volk und der italienische Nationalstaat Unabhängigkeit des Landes und die neue Verfassung von 1848 mitsamt der nationalen Trikolore, überall sonst triumphierte der alte Absolutismus, im ganzen Norden die Fremdherrschaft, denn österreichische Truppen standen bis Ende 1854 in Livorno, bis in den Mai 1855 in Florenz, bis 1857 in Modena und Parma, bis 1859 in Bologna, Ferrara und Ancona. Nichts konnte geeigneter sein, den Haß gegen die Fremdherrschaft wach¬ zuhalten und das Vertrauen auf Piemont zu verstärken. Auch Gioberti und Mamin, der Doge des aufständischen Venedigs 1848/49, stimmten jetzt in den Ruf ein: Italien und Viktor Emanuel! und seit 1857 wirkte der Nationalverein auf der ganzen Halbinsel unter dem Sizilianer La Farina in diesen: Sinne. Daneben freilich bildete die nationale Demokratie noch eine Macht für sich. Es war die schwierige Aufgabe, diese beiden Mächte, das piemontesische Königtum und die demokratische „Aktionspartei", zusammenzufassen und diese Kräfte nach einem Ziele hinzulenken. Das unternahm und vollbrachte der geniale Staats¬ mann, der seit 1850 Piemont leitete, Graf Camillo Cavour. Er verwandelte es in einen wirklich modernen Staat, der in seinen innern Fortschritten dem ganzen Lande voranging; er stand in engster Verbindung mit dem National¬ verein, er bereitete die öffentliche Meinung darauf vor, auf das stolze I'ltalia farn 8el zu verzichten und für die neue Erhebung die Hilfe Napoleons des Dritten zu gewinnen. Das Bündnis mit den Westmächten im Krimkriege 1853, das Auftreten Cavours als Wortführer Italiens auf dem Pariser Kongreß 1856, die geheimen Verhandlungen von 1858, die zunehmende Spannung mit Öster¬ reich gingen dem Abkommen vom Dezember 1853 voraus. Aber Cavour wollte auch vermeiden, daß aus dem Bundesgenossen ein Herr werde. Deshalb wollte er alle Volkskräfte Italiens entfesseln, das piemontesische Heer durch Freiwillige aus anderen Teilen des Landes verstärken und überall die Bevölkerungen zur Erhebung bringen. Ein festes Programm für die Umgestaltung hatte Cavour zunächst nur insofern, als er die Befreiung Oberitaliens bis zur Adria, unter Umständen mit Einschluß der Emilia (Parma, Modena, die Romagna), und die Gründung eines starken norditalienischen Staats erstrebte; an die Annexion Mittelitaliens und vollends des Südens hat er damals nicht gedacht; sie ist ihm erst durch Volkserhebungen und durch die ganze politische Lage aufgedrungen worden. Noch standen die Heere im Potieflande ohne entscheidende Ereignisse ein¬ ander gegenüber, da erhob sich am 27. April in einer unwiderstehlichen und doch maßvollen Bewegung Florenz gegen das Haus Lothringen und zwang den Gro߬ herzog Leopold den Zweiten zur Abreise auf Nimmerwiedersehen, da sich keine Hand für ihn rührte; am 1. Mai flüchtete die Herzoginregentin Luise aus Parma, nach der Schlacht bei Magenta (4. Juni) wich Herzog Franz, von seinen Truppen begleitet, 9. Juni aus Modena, nach dem Abzüge der Österreicher erhob sich seit dem 12. Juni die Romagna. Überall leitete die Aristokratie des Besitzes und der Bildung die Bewegung, in Toskana einer der größten Grundherren des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/522>, abgerufen am 04.07.2024.