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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Das italienische Volk und der italienische Nationalstaat

erworben hat, und daß Dalmatien mit Jstrien altes italienisches Kulturgebiet
ist, das erst 1797 durch einen hinterlistigen Gewaltstreich der wehrlosen Republik
Venedig entrissen wurde. Und noch immer ist das begründete Verlangen der
österreichischen Italiener nach einer italienischen Universität nicht erfüllt, während
slawische Stämme, die ihnen an Kulturleistungen weit nachstehen, längst nationale
Hochschulen haben, die Polen zwei, die Tschechen eine Universität. Dazu besteht
die Meinung bei uns, daß die Italiener ihre Befreiung und Einigung nur
fremder Hilfe verdankten, und in der Tat hat ihre neue nationale Trikolore
noch über keinem großen Siegesfelde geweht.

Aber diese Geringschätzung ist unbegründet und ungerecht. Gewiß, die
Befreiung des Landes haben sie nur mit fremder Hilfe errungen, die Einheit,
die Gewähr ihrer Erhaltung, haben sie selbst geschaffen, und zwar unter einer
viel unmittelbareren, weit energischeren Mitwirkung des Volkes, als wir Deutsche
unser Reich. Sind doch bekanntlich die Grundlagen unserer Einheit, die Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes, der Hälfte unseres Volkes nur durch Waffen¬
gewalt aufgezwungen worden; das italienische Volk hat seine Einheit selbst
geschaffen ohne und gegen das Ausland. Bei uns bedürfte es eines blutigen
Bürgerkrieges, um den Widerstand zu brechen, und wie wahrhaft kläglich und
kleinlich süddeutsche Staatsmänner noch 1870 nach Sedan dachten, das wissen
wir erst heute. In Italien ist die Einigung durch eine Reihe von Volks¬
erhebungen mit Unterstützung der piemontesischen Krone herbeigeführt worden,
also auf revolutionärem Wege, wie es auch in Deutschland bekanntlich 1848/49
vergeblich versucht worden ist. Revolutionär war schließlich auch die Neuordnung
Deutschlands, denn es gibt auch Revolutionen von oben, und solche Revolutionen
sind überall da berechtigt, wo sie einem unerträglich gewordenen Zustande im
nationalen Interesse ein Ende machen. Denn die Nation vollendet sich erst
durch den nationalen Staat. Nur verfuhr in Deutschland die Revolution viel
konservativer, weil sie von oben kam und also organisierte Kräfte zur Verfügung
hatte, in Italien radikaler, weil sie von unten ausging.

Dieser fundamentale Gegensatz beruht aus der ganz verschiedenen Lage und
Geschichte der beiden Völker. War nach 1815 die politische Lage Deutschlands
unbefriedigend, so war die Italiens beinahe verzweifelt. Wenn die deutschen
Staaten wenigstens durch den schwachen Bundestag vereinigt waren und alle
unter alten, einheimischen Dynastien standen, so fehlte den italienischen Staaten
nicht nur dieses formelle Band, sondern der größte Teil Oberitaliens stand
direkt unter der österreichischen Fremdherrschaft, und die Herrscherhäuser waren
samt und sonders, mit Ausnahme Piemonts, fremden Ursprungs, erst seit dem
achtzehnten Jahrhundert infolge europäischer Verträge in ihren Ländern eingesetzt
und dort ohne Wurzel; der wiederhergestellte Kirchenstaat aber wurde im Interesse
der römischen Weltkirche regiert. Und dabei waren die alten stolzen Traditionen
im größten Teile Italiens städtisch republikanisch. Eine Großmacht vollends,
die eine nationale Politik hätte führen und als Kern der Einheit hätte dienen


Das italienische Volk und der italienische Nationalstaat

erworben hat, und daß Dalmatien mit Jstrien altes italienisches Kulturgebiet
ist, das erst 1797 durch einen hinterlistigen Gewaltstreich der wehrlosen Republik
Venedig entrissen wurde. Und noch immer ist das begründete Verlangen der
österreichischen Italiener nach einer italienischen Universität nicht erfüllt, während
slawische Stämme, die ihnen an Kulturleistungen weit nachstehen, längst nationale
Hochschulen haben, die Polen zwei, die Tschechen eine Universität. Dazu besteht
die Meinung bei uns, daß die Italiener ihre Befreiung und Einigung nur
fremder Hilfe verdankten, und in der Tat hat ihre neue nationale Trikolore
noch über keinem großen Siegesfelde geweht.

Aber diese Geringschätzung ist unbegründet und ungerecht. Gewiß, die
Befreiung des Landes haben sie nur mit fremder Hilfe errungen, die Einheit,
die Gewähr ihrer Erhaltung, haben sie selbst geschaffen, und zwar unter einer
viel unmittelbareren, weit energischeren Mitwirkung des Volkes, als wir Deutsche
unser Reich. Sind doch bekanntlich die Grundlagen unserer Einheit, die Ver¬
fassung des Norddeutschen Bundes, der Hälfte unseres Volkes nur durch Waffen¬
gewalt aufgezwungen worden; das italienische Volk hat seine Einheit selbst
geschaffen ohne und gegen das Ausland. Bei uns bedürfte es eines blutigen
Bürgerkrieges, um den Widerstand zu brechen, und wie wahrhaft kläglich und
kleinlich süddeutsche Staatsmänner noch 1870 nach Sedan dachten, das wissen
wir erst heute. In Italien ist die Einigung durch eine Reihe von Volks¬
erhebungen mit Unterstützung der piemontesischen Krone herbeigeführt worden,
also auf revolutionärem Wege, wie es auch in Deutschland bekanntlich 1848/49
vergeblich versucht worden ist. Revolutionär war schließlich auch die Neuordnung
Deutschlands, denn es gibt auch Revolutionen von oben, und solche Revolutionen
sind überall da berechtigt, wo sie einem unerträglich gewordenen Zustande im
nationalen Interesse ein Ende machen. Denn die Nation vollendet sich erst
durch den nationalen Staat. Nur verfuhr in Deutschland die Revolution viel
konservativer, weil sie von oben kam und also organisierte Kräfte zur Verfügung
hatte, in Italien radikaler, weil sie von unten ausging.

Dieser fundamentale Gegensatz beruht aus der ganz verschiedenen Lage und
Geschichte der beiden Völker. War nach 1815 die politische Lage Deutschlands
unbefriedigend, so war die Italiens beinahe verzweifelt. Wenn die deutschen
Staaten wenigstens durch den schwachen Bundestag vereinigt waren und alle
unter alten, einheimischen Dynastien standen, so fehlte den italienischen Staaten
nicht nur dieses formelle Band, sondern der größte Teil Oberitaliens stand
direkt unter der österreichischen Fremdherrschaft, und die Herrscherhäuser waren
samt und sonders, mit Ausnahme Piemonts, fremden Ursprungs, erst seit dem
achtzehnten Jahrhundert infolge europäischer Verträge in ihren Ländern eingesetzt
und dort ohne Wurzel; der wiederhergestellte Kirchenstaat aber wurde im Interesse
der römischen Weltkirche regiert. Und dabei waren die alten stolzen Traditionen
im größten Teile Italiens städtisch republikanisch. Eine Großmacht vollends,
die eine nationale Politik hätte führen und als Kern der Einheit hätte dienen


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[0520] Das italienische Volk und der italienische Nationalstaat erworben hat, und daß Dalmatien mit Jstrien altes italienisches Kulturgebiet ist, das erst 1797 durch einen hinterlistigen Gewaltstreich der wehrlosen Republik Venedig entrissen wurde. Und noch immer ist das begründete Verlangen der österreichischen Italiener nach einer italienischen Universität nicht erfüllt, während slawische Stämme, die ihnen an Kulturleistungen weit nachstehen, längst nationale Hochschulen haben, die Polen zwei, die Tschechen eine Universität. Dazu besteht die Meinung bei uns, daß die Italiener ihre Befreiung und Einigung nur fremder Hilfe verdankten, und in der Tat hat ihre neue nationale Trikolore noch über keinem großen Siegesfelde geweht. Aber diese Geringschätzung ist unbegründet und ungerecht. Gewiß, die Befreiung des Landes haben sie nur mit fremder Hilfe errungen, die Einheit, die Gewähr ihrer Erhaltung, haben sie selbst geschaffen, und zwar unter einer viel unmittelbareren, weit energischeren Mitwirkung des Volkes, als wir Deutsche unser Reich. Sind doch bekanntlich die Grundlagen unserer Einheit, die Ver¬ fassung des Norddeutschen Bundes, der Hälfte unseres Volkes nur durch Waffen¬ gewalt aufgezwungen worden; das italienische Volk hat seine Einheit selbst geschaffen ohne und gegen das Ausland. Bei uns bedürfte es eines blutigen Bürgerkrieges, um den Widerstand zu brechen, und wie wahrhaft kläglich und kleinlich süddeutsche Staatsmänner noch 1870 nach Sedan dachten, das wissen wir erst heute. In Italien ist die Einigung durch eine Reihe von Volks¬ erhebungen mit Unterstützung der piemontesischen Krone herbeigeführt worden, also auf revolutionärem Wege, wie es auch in Deutschland bekanntlich 1848/49 vergeblich versucht worden ist. Revolutionär war schließlich auch die Neuordnung Deutschlands, denn es gibt auch Revolutionen von oben, und solche Revolutionen sind überall da berechtigt, wo sie einem unerträglich gewordenen Zustande im nationalen Interesse ein Ende machen. Denn die Nation vollendet sich erst durch den nationalen Staat. Nur verfuhr in Deutschland die Revolution viel konservativer, weil sie von oben kam und also organisierte Kräfte zur Verfügung hatte, in Italien radikaler, weil sie von unten ausging. Dieser fundamentale Gegensatz beruht aus der ganz verschiedenen Lage und Geschichte der beiden Völker. War nach 1815 die politische Lage Deutschlands unbefriedigend, so war die Italiens beinahe verzweifelt. Wenn die deutschen Staaten wenigstens durch den schwachen Bundestag vereinigt waren und alle unter alten, einheimischen Dynastien standen, so fehlte den italienischen Staaten nicht nur dieses formelle Band, sondern der größte Teil Oberitaliens stand direkt unter der österreichischen Fremdherrschaft, und die Herrscherhäuser waren samt und sonders, mit Ausnahme Piemonts, fremden Ursprungs, erst seit dem achtzehnten Jahrhundert infolge europäischer Verträge in ihren Ländern eingesetzt und dort ohne Wurzel; der wiederhergestellte Kirchenstaat aber wurde im Interesse der römischen Weltkirche regiert. Und dabei waren die alten stolzen Traditionen im größten Teile Italiens städtisch republikanisch. Eine Großmacht vollends, die eine nationale Politik hätte führen und als Kern der Einheit hätte dienen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/520>, abgerufen am 04.07.2024.