Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Die Kunst, Österreich zu regieren Sozialdemokraten bei sozialpolitischen Gesetzen finden, wahrscheinlich auch dann, In allen andern Fragen, die Sein oder Nichtsein eines Ministeriunis täglich Welche Mehrheitsbildungen sind hierbei nun möglich? Baron Bienertl) Die Kunst, Österreich zu regieren Sozialdemokraten bei sozialpolitischen Gesetzen finden, wahrscheinlich auch dann, In allen andern Fragen, die Sein oder Nichtsein eines Ministeriunis täglich Welche Mehrheitsbildungen sind hierbei nun möglich? Baron Bienertl) <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0475" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318088"/> <fw type="header" place="top"> Die Kunst, Österreich zu regieren</fw><lb/> <p xml:id="ID_2140" prev="#ID_2139"> Sozialdemokraten bei sozialpolitischen Gesetzen finden, wahrscheinlich auch dann,<lb/> wenn diese den Wünschen der Sozialdemokraten nicht ganz entsprechen; denn<lb/> die österreichische Sozialdemokratie ist zwar ein Kind der deutschen, jedoch<lb/> nicht ganz so theoretisch verbohrt wie diese. Aber von sozialpolitischen Gesetzen<lb/> allein kann eine Regierung nicht leben, sie braucht ein Budget, Rekruten und<lb/> Steuern; und für all das sind die Sozialdemokraten nicht zu haben. Ihr<lb/> Interesse richtet sich zurzeit allein auf den Gesetzentwurf einer Altersversicherung,<lb/> die in ihrer Ausdehnung die deutsche weit übertrifft und alle selbständigen<lb/> Erwerbstätigen, also Handwerker und Bauern, einbezieht. Die Folgen eines<lb/> solchen Gesetzes sind kaum übersehbar, zumal wenn man in Betracht zieht, wie<lb/> verschieden die sozialen Verhältnisse in den einzelnen Provinzen liegen. Man<lb/> vergleiche hochentwickelte Industriegebiete, wie Nordböhmen, mit den: kulturell<lb/> überaus rückständigen, rein agrarischen Galizien. Wenn man außerdem die<lb/> gänzlich unsoziale Steuergesetzgebung Österreichs betrachtet, durch die das<lb/> Einkommen aus Gebäuden mit über 40 Prozent besteuert ist, eine Steuer,<lb/> die natürlich auf die Mieter abgewälzt wird und die Ärmsten gerade am härtesten<lb/> trifft, so wirkt solch ein Gesetz geradezu grotesk. Immerhin ist es das einzige<lb/> Gesetz, das möglicherweise unter Ausschaltung der nationalen Gegensätze zustande<lb/> kommen kann, da die meisten bürgerlichen Abgeordneten den Bedürfnissen der<lb/> Wahlagitation wohl das Opfer der Vernunft bringen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2141"> In allen andern Fragen, die Sein oder Nichtsein eines Ministeriunis täglich<lb/> berühren, bestehen im übrigen die nationalen Gegensätze unvermindert.</p><lb/> <p xml:id="ID_2142" next="#ID_2143"> Welche Mehrheitsbildungen sind hierbei nun möglich? Baron Bienertl)<lb/> hat sich bisher im wesentlichen auf die Deutschen und Polen gestützt. Die<lb/> Deutschen teilen sich in zwei Gruppen: den deutschen Nationalverband, der<lb/> an die achtzig Mitglieder zählt, und die sechsundneunzig Mann starken Christlich-<lb/> sozialen. Der Nationalverband setzt sich zwar wiederum aus kleineren Fraktionen<lb/> zusammen, bei denen auch die Betonung des nationalen Standpunktes etwas<lb/> abgestuft ist, aber praktisch hat die Gruppe bisher doch als Einheit gewirkt.<lb/> Die Polen verfügen über siebzig Stimmen, sind indes in vier Fraktionen<lb/> gespalten in der Stärke von zwölf bis fünfundzwanzig Mann; die Gegensätze<lb/> sind hier teils politisch (konservativ und demokratisch), teils gruppieren sich die<lb/> Fraktionen um einzelne Führer. Diese Gegensätze haben auf die Politik des<lb/> Polenklubs, der die Fraktionen als Gesamtheit zusammenfaßt, stark zurückgewirkt,<lb/> auch die letzte Ministerkrise herbeigeführt, sie bestehen im übrigen unvermindert<lb/> fort. Irgendein auf den persönlichsten Ursachen beruhender Streit im Polenklub<lb/> kann also jederzeit die Mehrheit des Ministeriums gefährden. Aber Deutsche<lb/> und Polen geben zusammen noch keine Majorität, sie haben nur zweihundert-<lb/> sechsundvierzig Stimmen, das Abgeordnetenhaus zählt fünfhundertsechzehn Aus¬<lb/> erkorene, es fehlen also noch dreizehn Mann. Diesen Nest stellen die vierzehn<lb/> Italiener, dann kommen noch fünf Rumänen hinzu, vielleicht die vier in Galizien<lb/> gewählten Zivilisten und noch der eine oder andre Wilde. So viel man auch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0475]
Die Kunst, Österreich zu regieren
Sozialdemokraten bei sozialpolitischen Gesetzen finden, wahrscheinlich auch dann,
wenn diese den Wünschen der Sozialdemokraten nicht ganz entsprechen; denn
die österreichische Sozialdemokratie ist zwar ein Kind der deutschen, jedoch
nicht ganz so theoretisch verbohrt wie diese. Aber von sozialpolitischen Gesetzen
allein kann eine Regierung nicht leben, sie braucht ein Budget, Rekruten und
Steuern; und für all das sind die Sozialdemokraten nicht zu haben. Ihr
Interesse richtet sich zurzeit allein auf den Gesetzentwurf einer Altersversicherung,
die in ihrer Ausdehnung die deutsche weit übertrifft und alle selbständigen
Erwerbstätigen, also Handwerker und Bauern, einbezieht. Die Folgen eines
solchen Gesetzes sind kaum übersehbar, zumal wenn man in Betracht zieht, wie
verschieden die sozialen Verhältnisse in den einzelnen Provinzen liegen. Man
vergleiche hochentwickelte Industriegebiete, wie Nordböhmen, mit den: kulturell
überaus rückständigen, rein agrarischen Galizien. Wenn man außerdem die
gänzlich unsoziale Steuergesetzgebung Österreichs betrachtet, durch die das
Einkommen aus Gebäuden mit über 40 Prozent besteuert ist, eine Steuer,
die natürlich auf die Mieter abgewälzt wird und die Ärmsten gerade am härtesten
trifft, so wirkt solch ein Gesetz geradezu grotesk. Immerhin ist es das einzige
Gesetz, das möglicherweise unter Ausschaltung der nationalen Gegensätze zustande
kommen kann, da die meisten bürgerlichen Abgeordneten den Bedürfnissen der
Wahlagitation wohl das Opfer der Vernunft bringen werden.
In allen andern Fragen, die Sein oder Nichtsein eines Ministeriunis täglich
berühren, bestehen im übrigen die nationalen Gegensätze unvermindert.
Welche Mehrheitsbildungen sind hierbei nun möglich? Baron Bienertl)
hat sich bisher im wesentlichen auf die Deutschen und Polen gestützt. Die
Deutschen teilen sich in zwei Gruppen: den deutschen Nationalverband, der
an die achtzig Mitglieder zählt, und die sechsundneunzig Mann starken Christlich-
sozialen. Der Nationalverband setzt sich zwar wiederum aus kleineren Fraktionen
zusammen, bei denen auch die Betonung des nationalen Standpunktes etwas
abgestuft ist, aber praktisch hat die Gruppe bisher doch als Einheit gewirkt.
Die Polen verfügen über siebzig Stimmen, sind indes in vier Fraktionen
gespalten in der Stärke von zwölf bis fünfundzwanzig Mann; die Gegensätze
sind hier teils politisch (konservativ und demokratisch), teils gruppieren sich die
Fraktionen um einzelne Führer. Diese Gegensätze haben auf die Politik des
Polenklubs, der die Fraktionen als Gesamtheit zusammenfaßt, stark zurückgewirkt,
auch die letzte Ministerkrise herbeigeführt, sie bestehen im übrigen unvermindert
fort. Irgendein auf den persönlichsten Ursachen beruhender Streit im Polenklub
kann also jederzeit die Mehrheit des Ministeriums gefährden. Aber Deutsche
und Polen geben zusammen noch keine Majorität, sie haben nur zweihundert-
sechsundvierzig Stimmen, das Abgeordnetenhaus zählt fünfhundertsechzehn Aus¬
erkorene, es fehlen also noch dreizehn Mann. Diesen Nest stellen die vierzehn
Italiener, dann kommen noch fünf Rumänen hinzu, vielleicht die vier in Galizien
gewählten Zivilisten und noch der eine oder andre Wilde. So viel man auch
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