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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

die Lupe nahm, ergab sich, daß mit ihr die heikelsten und tiefsten Lebensfragen
des russischen Staates angetastet werden, daß diese Angelegenheit, die schon vor
fünfzig Jahren aus Furcht vor dem Partikularismus der Kleinrussen und Polen
zurückgestellt worden war, nun geeignet ist, die gesamte staatsrechtliche Entwicklung,
wie sie von Boris Godunow angebahnt wurde, .über den Haufen zu werfen.
Das heutige Rußland ist kein nationaler Einheitsstaat. Die Zahl der nicht¬
russischen Untertanen hat infolge der unaufhörlich fortschreitenden Erweiterung
der Grenzen des Reichs schneller zugenommen als die der Moskowiter. Mehr
als zwanzig Völkerschaften sind unter dem Zepter des Zaren vereinigt, und das
Nussentum selbst besteht aus drei Teilen, die in Sprache und Sitte erhebliche
Abweichungen voneinander aufweisen: Moskowiter, Kleinrussen und Weißrussen.
Zu diesen treten im Westen die Polen, Litauer, Letten und Juden, im Norden
Deutsche, Ehlen und Finnen, im Osten und Süden Tataren, Türken, Perser
und eine große Zahl kaukasischer Stämme. Weiter liegt es klar auf der Hand,
daß trotz aller Bemühungen entgegengesetzter Art die Fremdvölker des Westens
sich kulturell günstiger entwickelt haben als die Großrussen. Die Polen sind
ebenso wie die Letten und Ehlen intensiv genug von germanischer Kultur befruchtet
worden, um den Ansturm der russischen aushalten zu können. Nur die Deutschen,
die sich auf keine Unterschicht stützen können, scheinen dem Untergange geweiht.
Doch kommt dieser Untergang weniger dein Russentum als den genannten
Völkerschaften zugute. Wenn Rußland heute die allgemeine Schulpflicht bei sich
einführt, kann es sich damit unmöglich auf den dritten Teil aller Bewohner
beschränken, ohne den übrigen zwei Dritteln das Recht zur Selbsthilfe gerade
aufzudrängen. Gibt aber der russische Staat allen seinen Bewohnern die Volks¬
schule, dann bereitet er den weiter entwickelten Nationalitäten erst recht den
Boden für die Entfaltung ihrer eigenartigen Kultur und wäre somit Förderer
aller der zentrifugalen Kräfte, die er nach dem Niederwerfen des letzten polnischen
Aufstandes bis zur Ermordung Plehwes und nun durch die Maßnahmen gegen
Finnländer und Polen niederzuhalten strebt. Die sich aus diesen Widersprüchen
ergebenden politischen Aufgaben scheinen uns in ihrer Gesamtheit dasjenige
darzustellen, was wir als das russische Problem im zwanzigsten Jahr¬
hundert bezeichnen dürfen. Der Kampf, den das russische Volk um die
Hebung seiner Kultur zu führen hat, muß die Entscheidung bringen, ob
der russische Staat fortfahren kann, Assimilierungspolitik wie in Finn¬
land zu treiben, oder ob er sich entschließt, die Formen eines Föderativ¬
staates anzunehmen. Wohin neigt heute die Tendenz? Seit den großen Aus¬
sprachen der russischen gebildeten Kreise im Jahre 1905 hat die Zahl der Freunde
föderativer Entwicklung in Rußland zugenommen. Viele Argumente wirtschaft¬
licher Art wirken in dieser Richtung. Sollte nun noch der neue bäuerliche
Mittelstand in Großrußland allmählich zu der Überzeugung gebracht werden,
daß er einen kulturellen Fortschritt nur gewinnen könnte unter Preisgabe der
Staatsform, die zwei Zaren deutscher Herkunft (Peter und Katharina) recht


Reichsspiegel

die Lupe nahm, ergab sich, daß mit ihr die heikelsten und tiefsten Lebensfragen
des russischen Staates angetastet werden, daß diese Angelegenheit, die schon vor
fünfzig Jahren aus Furcht vor dem Partikularismus der Kleinrussen und Polen
zurückgestellt worden war, nun geeignet ist, die gesamte staatsrechtliche Entwicklung,
wie sie von Boris Godunow angebahnt wurde, .über den Haufen zu werfen.
Das heutige Rußland ist kein nationaler Einheitsstaat. Die Zahl der nicht¬
russischen Untertanen hat infolge der unaufhörlich fortschreitenden Erweiterung
der Grenzen des Reichs schneller zugenommen als die der Moskowiter. Mehr
als zwanzig Völkerschaften sind unter dem Zepter des Zaren vereinigt, und das
Nussentum selbst besteht aus drei Teilen, die in Sprache und Sitte erhebliche
Abweichungen voneinander aufweisen: Moskowiter, Kleinrussen und Weißrussen.
Zu diesen treten im Westen die Polen, Litauer, Letten und Juden, im Norden
Deutsche, Ehlen und Finnen, im Osten und Süden Tataren, Türken, Perser
und eine große Zahl kaukasischer Stämme. Weiter liegt es klar auf der Hand,
daß trotz aller Bemühungen entgegengesetzter Art die Fremdvölker des Westens
sich kulturell günstiger entwickelt haben als die Großrussen. Die Polen sind
ebenso wie die Letten und Ehlen intensiv genug von germanischer Kultur befruchtet
worden, um den Ansturm der russischen aushalten zu können. Nur die Deutschen,
die sich auf keine Unterschicht stützen können, scheinen dem Untergange geweiht.
Doch kommt dieser Untergang weniger dein Russentum als den genannten
Völkerschaften zugute. Wenn Rußland heute die allgemeine Schulpflicht bei sich
einführt, kann es sich damit unmöglich auf den dritten Teil aller Bewohner
beschränken, ohne den übrigen zwei Dritteln das Recht zur Selbsthilfe gerade
aufzudrängen. Gibt aber der russische Staat allen seinen Bewohnern die Volks¬
schule, dann bereitet er den weiter entwickelten Nationalitäten erst recht den
Boden für die Entfaltung ihrer eigenartigen Kultur und wäre somit Förderer
aller der zentrifugalen Kräfte, die er nach dem Niederwerfen des letzten polnischen
Aufstandes bis zur Ermordung Plehwes und nun durch die Maßnahmen gegen
Finnländer und Polen niederzuhalten strebt. Die sich aus diesen Widersprüchen
ergebenden politischen Aufgaben scheinen uns in ihrer Gesamtheit dasjenige
darzustellen, was wir als das russische Problem im zwanzigsten Jahr¬
hundert bezeichnen dürfen. Der Kampf, den das russische Volk um die
Hebung seiner Kultur zu führen hat, muß die Entscheidung bringen, ob
der russische Staat fortfahren kann, Assimilierungspolitik wie in Finn¬
land zu treiben, oder ob er sich entschließt, die Formen eines Föderativ¬
staates anzunehmen. Wohin neigt heute die Tendenz? Seit den großen Aus¬
sprachen der russischen gebildeten Kreise im Jahre 1905 hat die Zahl der Freunde
föderativer Entwicklung in Rußland zugenommen. Viele Argumente wirtschaft¬
licher Art wirken in dieser Richtung. Sollte nun noch der neue bäuerliche
Mittelstand in Großrußland allmählich zu der Überzeugung gebracht werden,
daß er einen kulturellen Fortschritt nur gewinnen könnte unter Preisgabe der
Staatsform, die zwei Zaren deutscher Herkunft (Peter und Katharina) recht


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[0462] Reichsspiegel die Lupe nahm, ergab sich, daß mit ihr die heikelsten und tiefsten Lebensfragen des russischen Staates angetastet werden, daß diese Angelegenheit, die schon vor fünfzig Jahren aus Furcht vor dem Partikularismus der Kleinrussen und Polen zurückgestellt worden war, nun geeignet ist, die gesamte staatsrechtliche Entwicklung, wie sie von Boris Godunow angebahnt wurde, .über den Haufen zu werfen. Das heutige Rußland ist kein nationaler Einheitsstaat. Die Zahl der nicht¬ russischen Untertanen hat infolge der unaufhörlich fortschreitenden Erweiterung der Grenzen des Reichs schneller zugenommen als die der Moskowiter. Mehr als zwanzig Völkerschaften sind unter dem Zepter des Zaren vereinigt, und das Nussentum selbst besteht aus drei Teilen, die in Sprache und Sitte erhebliche Abweichungen voneinander aufweisen: Moskowiter, Kleinrussen und Weißrussen. Zu diesen treten im Westen die Polen, Litauer, Letten und Juden, im Norden Deutsche, Ehlen und Finnen, im Osten und Süden Tataren, Türken, Perser und eine große Zahl kaukasischer Stämme. Weiter liegt es klar auf der Hand, daß trotz aller Bemühungen entgegengesetzter Art die Fremdvölker des Westens sich kulturell günstiger entwickelt haben als die Großrussen. Die Polen sind ebenso wie die Letten und Ehlen intensiv genug von germanischer Kultur befruchtet worden, um den Ansturm der russischen aushalten zu können. Nur die Deutschen, die sich auf keine Unterschicht stützen können, scheinen dem Untergange geweiht. Doch kommt dieser Untergang weniger dein Russentum als den genannten Völkerschaften zugute. Wenn Rußland heute die allgemeine Schulpflicht bei sich einführt, kann es sich damit unmöglich auf den dritten Teil aller Bewohner beschränken, ohne den übrigen zwei Dritteln das Recht zur Selbsthilfe gerade aufzudrängen. Gibt aber der russische Staat allen seinen Bewohnern die Volks¬ schule, dann bereitet er den weiter entwickelten Nationalitäten erst recht den Boden für die Entfaltung ihrer eigenartigen Kultur und wäre somit Förderer aller der zentrifugalen Kräfte, die er nach dem Niederwerfen des letzten polnischen Aufstandes bis zur Ermordung Plehwes und nun durch die Maßnahmen gegen Finnländer und Polen niederzuhalten strebt. Die sich aus diesen Widersprüchen ergebenden politischen Aufgaben scheinen uns in ihrer Gesamtheit dasjenige darzustellen, was wir als das russische Problem im zwanzigsten Jahr¬ hundert bezeichnen dürfen. Der Kampf, den das russische Volk um die Hebung seiner Kultur zu führen hat, muß die Entscheidung bringen, ob der russische Staat fortfahren kann, Assimilierungspolitik wie in Finn¬ land zu treiben, oder ob er sich entschließt, die Formen eines Föderativ¬ staates anzunehmen. Wohin neigt heute die Tendenz? Seit den großen Aus¬ sprachen der russischen gebildeten Kreise im Jahre 1905 hat die Zahl der Freunde föderativer Entwicklung in Rußland zugenommen. Viele Argumente wirtschaft¬ licher Art wirken in dieser Richtung. Sollte nun noch der neue bäuerliche Mittelstand in Großrußland allmählich zu der Überzeugung gebracht werden, daß er einen kulturellen Fortschritt nur gewinnen könnte unter Preisgabe der Staatsform, die zwei Zaren deutscher Herkunft (Peter und Katharina) recht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/462>, abgerufen am 29.12.2024.